ppe_121.001 nicht jedes Dialogstück ein Drama, nicht jede ungeteilte Versreihe ppe_121.002 von großer Ausdehnung ein Epos, nicht jedes kurze Strophengebilde ppe_121.003 ein Lied.
ppe_121.004 Die analytische Wesensbestimmung des Werkes hat nicht allein ppe_121.005 die äußere Zuteilung zu einer bestimmten Gattung zu prüfen; es ppe_121.006 knüpft sich weiter daran die Frage nach Erfüllung der inneren ppe_121.007 Gattungsgesetze. Voraussetzung muß sein, daß es solche Gesetze ppe_121.008 überhaupt gibt, und dieser Punkt ist umstritten. Die naturwissenschaftliche ppe_121.009 Orientierung der Geisteswissenschaften hatte sich in der ppe_121.010 Zeit ihrer größten Verblendung bis zu einer biologisch-entwicklungsgeschichtlichen ppe_121.011 Betrachtung der Gattungen als selbständiger Lebewesen ppe_121.012 verstiegen. Mit Geburt, Wachstum, Vollkommenheit, Herabsinken ppe_121.013 und Tod waren sie durch Ferdinand Brunetiere (1890) in den ppe_121.014 Kampf ums Dasein hineingestellt worden. Eine geistesgeschichtliche ppe_121.015 Modulation dieser Auffassung findet sich noch bei Ernest Bovet ppe_121.016 (1911), der eine naturgegebene Reihenfolge von Lyrik, Epos, Drama ppe_121.017 wie den Wechsel der Tageszeiten sich periodisch wiederholen lassen ppe_121.018 wollte. Indessen sind für die Begünstigung einzelner Gattungen durch ppe_121.019 bestimmte Zeitalter viel eher soziologische und allgemein kulturelle ppe_121.020 Gründe maßgebend als irgendwelche in Wesen und Lebenskraft der ppe_121.021 Gattungen selbst liegende Ursachen. Auf keinen Fall verläuft dieser ppe_121.022 Wechsel des Übergewichts in allen Literaturen mit gleicher Regelmäßigkeit, ppe_121.023 so daß man daraus eine in den Gattungen selbst beruhende ppe_121.024 Gesetzmäßigkeit herleiten könnte.
ppe_121.025 Die Reaktion gegen den konstruktiven Historismus hat nun wieder ppe_121.026 zur völligen Ableugnung jeglicher Gattungsgesetze geführt; in der ppe_121.027 "Ästhetik" von Benedetto Croce gibt es nur eine untrennbare Kunst ppe_121.028 als Sprachausdruck des Menschen, und alle Grenzlinien zwischen den ppe_121.029 einzelnen Künsten wie innerhalb jeder Kunst bedeuten einen Irrwahn ppe_121.030 der Theoretiker. Einer Poetik freilich, die darauf verzichtet, als ppe_121.031 streng philosophische Wissenschaft unbedingte Gültigkeit ihrer Begriffe ppe_121.032 zu beanspruchen, vielmehr sich damit begnügt, orientierende ppe_121.033 Hilfsbegriffe für historische Untersuchungen an die Hand zu geben, ppe_121.034 will auch Croce Berechtigung zu Unterscheidungen lassen. "Empirische" ppe_121.035 Gattungsbegriffe, die sich keinesfalls mit denen der herkömmlichen ppe_121.036 Poetik decken dürfen, sondern der Kritik an tatsächlichen Dichtwerken ppe_121.037 und dem wirklichen literarischen Leben entsprungen sind, ppe_121.038 möchte er aus den Kategorien der Wertung und der Qualifikation ppe_121.039 herleiten. Das führt auf der einen Seite zu Wertabstufungen, die von ppe_121.040 der klassischen zur romantischen oder sentimentalen, zur impressionistischen ppe_121.041 Dichtung und schließlich zur intellektualistischen, lehrhaften,
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Petersen, Julius: Die Wissenschaft von der Dichtung. System und Methodenlehre der Literaturwissenschaft. 2. Auflage. Berlin, 1944, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/petersen_poetik_1944/145>, abgerufen am 24.11.2024.
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