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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787.

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und Erfahrung beweisen, daß die Kräfte des Men-
schen und ganzer Geschlechter von Menschen schwin-
den, wenn sie dahin gebracht werden zu glauben,
es sorge jemand ohne ihr Zuthun an Leib und Seel
vor sie, hieße er dann wie er wolle, König oder
Priester. --

Es ist dann noch ein Unterschied, obs der Kö-
nig oder Priester gemeynt sey; es sind dem Men-
schen für den König seine fünf Sinnen nicht halb so
feil als für den Priester, sagte Bylifsky.

Da haben sie recht, erwiederte Endorf, es ist
als wenn er seiner Natur nach nicht anderst könnte,
als für die Sache seiner gottesdienstlichen Lehre
blind seyn; er ist es sicher nicht den Zehenden so stark
und so gern für das System seines Königs in der
Verwaltung des Lands. -- Aber überall und in
allem, sezte er hinzu, hört der Mensch auf die Oh-
ren zu spitzen, und die Augen offen zu halten, so
bald er sich vereinigt und sicher glaubt; im Gegen-
theil macht ihn nichts so Augen und Ohren brau-
chen, und auf seiner Huth zu seyn, als das rege
Bewußtseyn der Unsicherheit und Trennung; und
wenn etwas auffallend wahr ist, so ist es dieses:
das Aufgeben dieses regegemachten Gefühls der Un-
sicherheit in Religionssachen könnte eine unabseh-
bare schädliche Wirkung zur Abschwächung der dem
Menschengeschlecht so allgemein und dringend noth-
wendigen Vorsichtigkeits- und Sorgfaltskräften her-
vorbringen.

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und Erfahrung beweiſen, daß die Kraͤfte des Men-
ſchen und ganzer Geſchlechter von Menſchen ſchwin-
den, wenn ſie dahin gebracht werden zu glauben,
es ſorge jemand ohne ihr Zuthun an Leib und Seel
vor ſie, hieße er dann wie er wolle, Koͤnig oder
Prieſter. —

Es iſt dann noch ein Unterſchied, obs der Koͤ-
nig oder Prieſter gemeynt ſey; es ſind dem Men-
ſchen fuͤr den Koͤnig ſeine fuͤnf Sinnen nicht halb ſo
feil als fuͤr den Prieſter, ſagte Bylifsky.

Da haben ſie recht, erwiederte Endorf, es iſt
als wenn er ſeiner Natur nach nicht anderſt koͤnnte,
als fuͤr die Sache ſeiner gottesdienſtlichen Lehre
blind ſeyn; er iſt es ſicher nicht den Zehenden ſo ſtark
und ſo gern fuͤr das Syſtem ſeines Koͤnigs in der
Verwaltung des Lands. — Aber uͤberall und in
allem, ſezte er hinzu, hoͤrt der Menſch auf die Oh-
ren zu ſpitzen, und die Augen offen zu halten, ſo
bald er ſich vereinigt und ſicher glaubt; im Gegen-
theil macht ihn nichts ſo Augen und Ohren brau-
chen, und auf ſeiner Huth zu ſeyn, als das rege
Bewußtſeyn der Unſicherheit und Trennung; und
wenn etwas auffallend wahr iſt, ſo iſt es dieſes:
das Aufgeben dieſes regegemachten Gefuͤhls der Un-
ſicherheit in Religionsſachen koͤnnte eine unabſeh-
bare ſchaͤdliche Wirkung zur Abſchwaͤchung der dem
Menſchengeſchlecht ſo allgemein und dringend noth-
wendigen Vorſichtigkeits- und Sorgfaltskraͤften her-
vorbringen.

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[405/0423] und Erfahrung beweiſen, daß die Kraͤfte des Men- ſchen und ganzer Geſchlechter von Menſchen ſchwin- den, wenn ſie dahin gebracht werden zu glauben, es ſorge jemand ohne ihr Zuthun an Leib und Seel vor ſie, hieße er dann wie er wolle, Koͤnig oder Prieſter. — Es iſt dann noch ein Unterſchied, obs der Koͤ- nig oder Prieſter gemeynt ſey; es ſind dem Men- ſchen fuͤr den Koͤnig ſeine fuͤnf Sinnen nicht halb ſo feil als fuͤr den Prieſter, ſagte Bylifsky. Da haben ſie recht, erwiederte Endorf, es iſt als wenn er ſeiner Natur nach nicht anderſt koͤnnte, als fuͤr die Sache ſeiner gottesdienſtlichen Lehre blind ſeyn; er iſt es ſicher nicht den Zehenden ſo ſtark und ſo gern fuͤr das Syſtem ſeines Koͤnigs in der Verwaltung des Lands. — Aber uͤberall und in allem, ſezte er hinzu, hoͤrt der Menſch auf die Oh- ren zu ſpitzen, und die Augen offen zu halten, ſo bald er ſich vereinigt und ſicher glaubt; im Gegen- theil macht ihn nichts ſo Augen und Ohren brau- chen, und auf ſeiner Huth zu ſeyn, als das rege Bewußtſeyn der Unſicherheit und Trennung; und wenn etwas auffallend wahr iſt, ſo iſt es dieſes: das Aufgeben dieſes regegemachten Gefuͤhls der Un- ſicherheit in Religionsſachen koͤnnte eine unabſeh- bare ſchaͤdliche Wirkung zur Abſchwaͤchung der dem Menſchengeſchlecht ſo allgemein und dringend noth- wendigen Vorſichtigkeits- und Sorgfaltskraͤften her- vorbringen. C e 3

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard04_1787/423>, abgerufen am 22.11.2024.