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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787.

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Verstandsmäntelchen mit sich herumtragen, es mö-
ge dann für Tuch daran seyn, was es wolle, und
es reiße unter den gemeinen Leuten eine Pest ein,
die er die Verstandspest heißen möchte. Der Herr
Lieutenant habe zwar ihm das nicht wollen gelten
lassen, und behauptet, es sey nur ein Anmaßungs-
fieber, aber er halte es für eine wahre Pest, und
müsse sagen, just die Leute, die mit dieser Pest an-
gesteckt sind, seyen die Allerunbilligsten gegen ihre
Brüderschaft.

Der Junker bat ihn, er solle sich über die Ver-
standspest deutlicher erklären, was er meyne? --

Er sagte, er meyne überhaupt, wenn der
Mensch etwas Gutes, das an ihm ist, wie eine
Eli-Mutter ein Kind, in das sie vernarret ist, zu hoch
hinauf, und alles andere Gute und Brauchbare
wie ein Stiefkind Himmelweit über das Herzens-
schäzchen hinabsezt, so richte ein solcher Mensch
das Gute, das an ihm ist, wie eine solche Eli-
Mutter ihr Kind und ihr Stiefkind miteinander
zu Grund, und werde schlecht, und ein halber
Mensch.

So gehe es, wenn der Mensch auf diese Art
alles aus dem Verstand mache, und wieder, wenn
er alles auf das Herz baue; im ersten Fall habe
er die Verstandspest, und im andern die Herzens-
pest -- in beyden Fällen mache er die einte ver-

Verſtandsmaͤntelchen mit ſich herumtragen, es moͤ-
ge dann fuͤr Tuch daran ſeyn, was es wolle, und
es reiße unter den gemeinen Leuten eine Peſt ein,
die er die Verſtandspeſt heißen moͤchte. Der Herr
Lieutenant habe zwar ihm das nicht wollen gelten
laſſen, und behauptet, es ſey nur ein Anmaßungs-
fieber, aber er halte es fuͤr eine wahre Peſt, und
muͤſſe ſagen, juſt die Leute, die mit dieſer Peſt an-
geſteckt ſind, ſeyen die Allerunbilligſten gegen ihre
Bruͤderſchaft.

Der Junker bat ihn, er ſolle ſich uͤber die Ver-
ſtandspeſt deutlicher erklaͤren, was er meyne? —

Er ſagte, er meyne uͤberhaupt, wenn der
Menſch etwas Gutes, das an ihm iſt, wie eine
Eli-Mutter ein Kind, in das ſie vernarret iſt, zu hoch
hinauf, und alles andere Gute und Brauchbare
wie ein Stiefkind Himmelweit uͤber das Herzens-
ſchaͤzchen hinabſezt, ſo richte ein ſolcher Menſch
das Gute, das an ihm iſt, wie eine ſolche Eli-
Mutter ihr Kind und ihr Stiefkind miteinander
zu Grund, und werde ſchlecht, und ein halber
Menſch.

So gehe es, wenn der Menſch auf dieſe Art
alles aus dem Verſtand mache, und wieder, wenn
er alles auf das Herz baue; im erſten Fall habe
er die Verſtandspeſt, und im andern die Herzens-
peſt — in beyden Faͤllen mache er die einte ver-

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[216/0234] Verſtandsmaͤntelchen mit ſich herumtragen, es moͤ- ge dann fuͤr Tuch daran ſeyn, was es wolle, und es reiße unter den gemeinen Leuten eine Peſt ein, die er die Verſtandspeſt heißen moͤchte. Der Herr Lieutenant habe zwar ihm das nicht wollen gelten laſſen, und behauptet, es ſey nur ein Anmaßungs- fieber, aber er halte es fuͤr eine wahre Peſt, und muͤſſe ſagen, juſt die Leute, die mit dieſer Peſt an- geſteckt ſind, ſeyen die Allerunbilligſten gegen ihre Bruͤderſchaft. Der Junker bat ihn, er ſolle ſich uͤber die Ver- ſtandspeſt deutlicher erklaͤren, was er meyne? — Er ſagte, er meyne uͤberhaupt, wenn der Menſch etwas Gutes, das an ihm iſt, wie eine Eli-Mutter ein Kind, in das ſie vernarret iſt, zu hoch hinauf, und alles andere Gute und Brauchbare wie ein Stiefkind Himmelweit uͤber das Herzens- ſchaͤzchen hinabſezt, ſo richte ein ſolcher Menſch das Gute, das an ihm iſt, wie eine ſolche Eli- Mutter ihr Kind und ihr Stiefkind miteinander zu Grund, und werde ſchlecht, und ein halber Menſch. So gehe es, wenn der Menſch auf dieſe Art alles aus dem Verſtand mache, und wieder, wenn er alles auf das Herz baue; im erſten Fall habe er die Verſtandspeſt, und im andern die Herzens- peſt — in beyden Faͤllen mache er die einte ver-

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1787, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard04_1787/234>, abgerufen am 24.11.2024.