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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785.

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in allen andern Dingen wider seine Natur,
durch viele Worte und durchs Predigen in Kopf
und ins Herz hineingebracht werden.

Dann brach er plözlich ab, und sagte: aber
was soll ich denn thun? soll ich euch von Gott
schweigen? das sey ferne! kommt mit mir in die
Hütte des Armen und zu den Thränen der Way-
sen, da lehrnet ihr Gott kennen, und gut seyn,
und Menschen werden. Kommt! in dieser Stund
sind in euerm Dorf zehen neue Waysen worden,
sie sind euere Gespielen und an euerer Seite auf-
gewachsen, sie haben keinen näheren Nächsten
als euch. Kommt! zeiget ihnen, daß ihr Men-
schen seyt, und an dem was euerm Nächsten
begegnet, Theil nehmet! --

Ich war auch ein Wayse, und erinnere mich
jezt noch, wie wohl es mir gethan, und wie es
mich Gott erkennen machte, da ich hingestürzt
auf meines todten Vaters Bett lag, und fast
ohne Sinnen, keinen Gedanken mehr hatte als
-- "ich habe jezt auf Gottes Erdboden keinen
Menschen mehr der sich meiner annehme! --"
Und da sind, weil ich so da lag, und meine Hän-
de sich im Krampf zusammen zogen, und ich mit
den Zähnen knirschte und zitterte, zwey Nach-
barn zu mir in die Stube hineingekommen, und
fast auf mich niedergefallen, und haben vor
Schluchzen kein Wort reden können. Ich weiß
noch, und weiß es noch bis ins Grab, wie mir

in allen andern Dingen wider ſeine Natur,
durch viele Worte und durchs Predigen in Kopf
und ins Herz hineingebracht werden.

Dann brach er ploͤzlich ab, und ſagte: aber
was ſoll ich denn thun? ſoll ich euch von Gott
ſchweigen? das ſey ferne! kommt mit mir in die
Huͤtte des Armen und zu den Thraͤnen der Way-
ſen, da lehrnet ihr Gott kennen, und gut ſeyn,
und Menſchen werden. Kommt! in dieſer Stund
ſind in euerm Dorf zehen neue Wayſen worden,
ſie ſind euere Geſpielen und an euerer Seite auf-
gewachſen, ſie haben keinen naͤheren Naͤchſten
als euch. Kommt! zeiget ihnen, daß ihr Men-
ſchen ſeyt, und an dem was euerm Naͤchſten
begegnet, Theil nehmet! —

Ich war auch ein Wayſe, und erinnere mich
jezt noch, wie wohl es mir gethan, und wie es
mich Gott erkennen machte, da ich hingeſtuͤrzt
auf meines todten Vaters Bett lag, und faſt
ohne Sinnen, keinen Gedanken mehr hatte als
— “ich habe jezt auf Gottes Erdboden keinen
Menſchen mehr der ſich meiner annehme! —„
Und da ſind, weil ich ſo da lag, und meine Haͤn-
de ſich im Krampf zuſammen zogen, und ich mit
den Zaͤhnen knirſchte und zitterte, zwey Nach-
barn zu mir in die Stube hineingekommen, und
faſt auf mich niedergefallen, und haben vor
Schluchzen kein Wort reden koͤnnen. Ich weiß
noch, und weiß es noch bis ins Grab, wie mir

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[410/0432] in allen andern Dingen wider ſeine Natur, durch viele Worte und durchs Predigen in Kopf und ins Herz hineingebracht werden. Dann brach er ploͤzlich ab, und ſagte: aber was ſoll ich denn thun? ſoll ich euch von Gott ſchweigen? das ſey ferne! kommt mit mir in die Huͤtte des Armen und zu den Thraͤnen der Way- ſen, da lehrnet ihr Gott kennen, und gut ſeyn, und Menſchen werden. Kommt! in dieſer Stund ſind in euerm Dorf zehen neue Wayſen worden, ſie ſind euere Geſpielen und an euerer Seite auf- gewachſen, ſie haben keinen naͤheren Naͤchſten als euch. Kommt! zeiget ihnen, daß ihr Men- ſchen ſeyt, und an dem was euerm Naͤchſten begegnet, Theil nehmet! — Ich war auch ein Wayſe, und erinnere mich jezt noch, wie wohl es mir gethan, und wie es mich Gott erkennen machte, da ich hingeſtuͤrzt auf meines todten Vaters Bett lag, und faſt ohne Sinnen, keinen Gedanken mehr hatte als — “ich habe jezt auf Gottes Erdboden keinen Menſchen mehr der ſich meiner annehme! —„ Und da ſind, weil ich ſo da lag, und meine Haͤn- de ſich im Krampf zuſammen zogen, und ich mit den Zaͤhnen knirſchte und zitterte, zwey Nach- barn zu mir in die Stube hineingekommen, und faſt auf mich niedergefallen, und haben vor Schluchzen kein Wort reden koͤnnen. Ich weiß noch, und weiß es noch bis ins Grab, wie mir

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785, S. 410. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard03_1785/432>, abgerufen am 03.05.2024.