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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785.

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konnte, und zur Verwunderung auf seiner Can-
zel da stuhnd, den Raub davon trug; und der
Bube trieb es so weit, daß das Elend des Manns,
ehe er auf Bonnal kam, so groß geworden,
daß sieben bis acht Jahr kein Betler mit ihm
getauscht hätte, und ein Bauer, bey dem er
sich einige Zeit aufgehalten, und ihm das eint
und andere von seinen Umständrn erzählt, ihm
zur Antwort gegeben, er wollte sich lieber hen-
ken lassen, als es nur eine Stunde haben, wie
er! -- Jezt kennt ihr den Stachel, der wie-
der das Predigen, und wieder alles Maul brau-
chen in seinem Innersten liegt! --

Er danket zwar das Glük seines Alters, und
alles was er jezt ist, diesen Leiden seines Lebens;
aber sie haben doch eine Seite seines Innwendi-
gen tief verwundet, und er wird die Brandmale
seiner Wunden tragen bis ans Grab.

Der Mensch trägt die Wahrheit und die
Weisheit in einem irrdischen Gefäß, und wenn
er besonders in den Tagen seiner blühenden
Stärke zu Boden gedrükt wird, und das Gold
seines Lebens vor seinen Augen ins Koth aus-
geschüttet siehet, so achtet er denn den übrigge-
bliebenen Laim seines Daseyns nicht mehr viel;
er wird stolz gegen die Glüklichen und so un-
aufmerksam und gleichgültig gegen das, was
diese von ihm fordern, wie gegen sich selber,
und druket sich über das was ihn wahr und

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konnte, und zur Verwunderung auf ſeiner Can-
zel da ſtuhnd, den Raub davon trug; und der
Bube trieb es ſo weit, daß das Elend des Manns,
ehe er auf Bonnal kam, ſo groß geworden,
daß ſieben bis acht Jahr kein Betler mit ihm
getauſcht haͤtte, und ein Bauer, bey dem er
ſich einige Zeit aufgehalten, und ihm das eint
und andere von ſeinen Umſtaͤndrn erzaͤhlt, ihm
zur Antwort gegeben, er wollte ſich lieber hen-
ken laſſen, als es nur eine Stunde haben, wie
er! — Jezt kennt ihr den Stachel, der wie-
der das Predigen, und wieder alles Maul brau-
chen in ſeinem Innerſten liegt! —

Er danket zwar das Gluͤk ſeines Alters, und
alles was er jezt iſt, dieſen Leiden ſeines Lebens;
aber ſie haben doch eine Seite ſeines Innwendi-
gen tief verwundet, und er wird die Brandmale
ſeiner Wunden tragen bis ans Grab.

Der Menſch traͤgt die Wahrheit und die
Weisheit in einem irrdiſchen Gefaͤß, und wenn
er beſonders in den Tagen ſeiner bluͤhenden
Staͤrke zu Boden gedruͤkt wird, und das Gold
ſeines Lebens vor ſeinen Augen ins Koth aus-
geſchuͤttet ſiehet, ſo achtet er denn den uͤbrigge-
bliebenen Laim ſeines Daſeyns nicht mehr viel;
er wird ſtolz gegen die Gluͤklichen und ſo un-
aufmerkſam und gleichguͤltig gegen das, was
dieſe von ihm fordern, wie gegen ſich ſelber,
und druket ſich uͤber das was ihn wahr und

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[277/0299] konnte, und zur Verwunderung auf ſeiner Can- zel da ſtuhnd, den Raub davon trug; und der Bube trieb es ſo weit, daß das Elend des Manns, ehe er auf Bonnal kam, ſo groß geworden, daß ſieben bis acht Jahr kein Betler mit ihm getauſcht haͤtte, und ein Bauer, bey dem er ſich einige Zeit aufgehalten, und ihm das eint und andere von ſeinen Umſtaͤndrn erzaͤhlt, ihm zur Antwort gegeben, er wollte ſich lieber hen- ken laſſen, als es nur eine Stunde haben, wie er! — Jezt kennt ihr den Stachel, der wie- der das Predigen, und wieder alles Maul brau- chen in ſeinem Innerſten liegt! — Er danket zwar das Gluͤk ſeines Alters, und alles was er jezt iſt, dieſen Leiden ſeines Lebens; aber ſie haben doch eine Seite ſeines Innwendi- gen tief verwundet, und er wird die Brandmale ſeiner Wunden tragen bis ans Grab. Der Menſch traͤgt die Wahrheit und die Weisheit in einem irrdiſchen Gefaͤß, und wenn er beſonders in den Tagen ſeiner bluͤhenden Staͤrke zu Boden gedruͤkt wird, und das Gold ſeines Lebens vor ſeinen Augen ins Koth aus- geſchuͤttet ſiehet, ſo achtet er denn den uͤbrigge- bliebenen Laim ſeines Daſeyns nicht mehr viel; er wird ſtolz gegen die Gluͤklichen und ſo un- aufmerkſam und gleichguͤltig gegen das, was dieſe von ihm fordern, wie gegen ſich ſelber, und druket ſich uͤber das was ihn wahr und S 3

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard03_1785/299>, abgerufen am 09.05.2024.