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[Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785.

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Thränen durchnezten sein Tuch, und flossen
so lang es einen Laut von dem Lobgesang hörte,
das unten im Abgrund zu seiner Jammerstelle
hinauf tönte.

Als es sie nicht mehr hörte, wurde ihm im
Innersten heiter, so heiter, als es ihm auf
seines Vaters Grab noch nie gewesen. Es
redete da mit ihm, wie wenn er vor ihm stühnde.

Mein Vater! mein Vater! sagte es zu ihm,
daß du auch sterben müssen, ehe du ihn kann-
test! den Vater des Landes und meinen --
der unten durch fuhr und Gott gelobet, der den
Mond geschaffen, und dich! --

Mein Vater! mein Vater! wenn er da ge-
wesen, so wärest du nicht gestorben! Nein wenn
er da gewesen, und du ihn gekannt, so wärest
du nicht gestorben!

Er ist wie du, und seinem Volk, was du
uns? Er führt ihns anderst und besser als
niemand, und du hättest auch deine Kinder an-
derst und besser erzogen als niemand, wenn du
hättest leben können! --

So redte das Kind die Nacht durch mit
dem Vater auf seinem Grab, und der Auf-
gang grauete hinter den Bergen, als es auf-
stuhnd von seiner Stell, und das nasse Tuch
wieder von dem Boden unter seinen Arm
nahm.

Es war nicht allein. Eine Menge Kinder

dachten

Thraͤnen durchnezten ſein Tuch, und floſſen
ſo lang es einen Laut von dem Lobgeſang hoͤrte,
das unten im Abgrund zu ſeiner Jammerſtelle
hinauf toͤnte.

Als es ſie nicht mehr hoͤrte, wurde ihm im
Innerſten heiter, ſo heiter, als es ihm auf
ſeines Vaters Grab noch nie geweſen. Es
redete da mit ihm, wie wenn er vor ihm ſtuͤhnde.

Mein Vater! mein Vater! ſagte es zu ihm,
daß du auch ſterben muͤſſen, ehe du ihn kann-
teſt! den Vater des Landes und meinen —
der unten durch fuhr und Gott gelobet, der den
Mond geſchaffen, und dich! —

Mein Vater! mein Vater! wenn er da ge-
weſen, ſo waͤreſt du nicht geſtorben! Nein wenn
er da geweſen, und du ihn gekannt, ſo waͤreſt
du nicht geſtorben!

Er iſt wie du, und ſeinem Volk, was du
uns? Er fuͤhrt ihns anderſt und beſſer als
niemand, und du haͤtteſt auch deine Kinder an-
derſt und beſſer erzogen als niemand, wenn du
haͤtteſt leben koͤnnen! —

So redte das Kind die Nacht durch mit
dem Vater auf ſeinem Grab, und der Auf-
gang grauete hinter den Bergen, als es auf-
ſtuhnd von ſeiner Stell, und das naſſe Tuch
wieder von dem Boden unter ſeinen Arm
nahm.

Es war nicht allein. Eine Menge Kinder

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[272/0294] Thraͤnen durchnezten ſein Tuch, und floſſen ſo lang es einen Laut von dem Lobgeſang hoͤrte, das unten im Abgrund zu ſeiner Jammerſtelle hinauf toͤnte. Als es ſie nicht mehr hoͤrte, wurde ihm im Innerſten heiter, ſo heiter, als es ihm auf ſeines Vaters Grab noch nie geweſen. Es redete da mit ihm, wie wenn er vor ihm ſtuͤhnde. Mein Vater! mein Vater! ſagte es zu ihm, daß du auch ſterben muͤſſen, ehe du ihn kann- teſt! den Vater des Landes und meinen — der unten durch fuhr und Gott gelobet, der den Mond geſchaffen, und dich! — Mein Vater! mein Vater! wenn er da ge- weſen, ſo waͤreſt du nicht geſtorben! Nein wenn er da geweſen, und du ihn gekannt, ſo waͤreſt du nicht geſtorben! Er iſt wie du, und ſeinem Volk, was du uns? Er fuͤhrt ihns anderſt und beſſer als niemand, und du haͤtteſt auch deine Kinder an- derſt und beſſer erzogen als niemand, wenn du haͤtteſt leben koͤnnen! — So redte das Kind die Nacht durch mit dem Vater auf ſeinem Grab, und der Auf- gang grauete hinter den Bergen, als es auf- ſtuhnd von ſeiner Stell, und das naſſe Tuch wieder von dem Boden unter ſeinen Arm nahm. Es war nicht allein. Eine Menge Kinder dachten

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Zitationshilfe: [Pestalozzi, Johann Heinrich]: Lienhard und Gertrud. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1785, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pestalozzi_lienhard03_1785/294>, abgerufen am 27.11.2024.