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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die mittelländische Race.
zählige geistige Anregungen und Hilfsmittel der Gesittung bis in
die neueste Zeit verdanken. Der Einbruch der Araber verscheuchte
zuerst die mönchische Finsterniss, in welche Europa zu versinken
drohte und frische Helligkeit durchströmte unsern Welttheil,
als die Kreuzfahrer aus Palästina Erfindungen und Wissens-
schätze heimbrachten. Eines der ältesten Culturvölker Vorder-
asiens, die Chaldäer im Lande Sinear, von denen die späteren
Assyrier abstammen, gehörte nach den vorausgehenden Erläuterungen
zu den Semiten. Wie die Aegypter bewohnte es eine Wüste, wie
diese den Nil, benutzte es die Hochwasser der mesopotamischen
Ströme, des Euphrat vorzugsweise, zu künstlichen Bewässerungen.
Im obern und mittleren Laufe besitzt dieser Strom so starke Ge-
schwindigkeiten, dass die Lederboote noch jetzt wie im Alterthum1)
nur zur Thalfahrt benutzt, am Ziele angelangt aber auf Lastthiere
geladen und wieder zum Oberlauf zurückgetragen werden. Weiter
gegen Süden beruhigt sich der Euphrat und zieht als stiller aber
tiefer Strom dem persischen Golfe zu. Jetzt tritt er im April über
sein rechtes Ufer, um in den Bodensenkungen Lachen und Sümpfe
zu hinterlassen, aus denen speerhohe Schilfe aufsprossen. Von
Mai bis November wölbt sich über Sinear ein eherner Himmel, die
Luftwärme steigt auf 39° R., selbst hinter dicken Mauern noch
auf 30°, ohne dass, so wenig wie in Aegypten, Indien und in
Yucatan, die Denkkraft der Bewohner unter diesen Temperaturen
erschlafft wäre. Von November bis December fallen wieder leichte
Regenschauer. Baumwuchs ist nur auf die Ufersäume beschränkt
und besteht aus Tamarisken, Acacien, Pappeln, Granatbäumen
mit ihren Feuerblüthen, sowie aus Palmen, beladen mit Trauben
bernsteingelber Datteln. Auf grossen Strecken ist der einstmals
so frohlockende Euphrat jetzt beängstigend still. Der Wind hebt
mit seinen Fittigen Sandwolken empor, um den fetten Marsch-
boden zu ersticken, ohne dass ihm Jemand wehrte. Weit über das
flache Land hin ragen seltsam gestaltete Hügel, die bei besserer
Annäherung als ungeheure Trümmer von Backsteinen erkannt
werden. An Lehm zu Luftziegeln fehlte es nirgends, einen treff-
lichen Mörtel aber lieferten die noch jetzt fliessenden Erdpech-

1) Herodot. lib. 1. cap. 194. vgl. auch Ritter, Erdkunde. Thl. XI.
S. 64.

Die mittelländische Race.
zählige geistige Anregungen und Hilfsmittel der Gesittung bis in
die neueste Zeit verdanken. Der Einbruch der Araber verscheuchte
zuerst die mönchische Finsterniss, in welche Europa zu versinken
drohte und frische Helligkeit durchströmte unsern Welttheil,
als die Kreuzfahrer aus Palästina Erfindungen und Wissens-
schätze heimbrachten. Eines der ältesten Culturvölker Vorder-
asiens, die Chaldäer im Lande Sinear, von denen die späteren
Assyrier abstammen, gehörte nach den vorausgehenden Erläuterungen
zu den Semiten. Wie die Aegypter bewohnte es eine Wüste, wie
diese den Nil, benutzte es die Hochwasser der mesopotamischen
Ströme, des Euphrat vorzugsweise, zu künstlichen Bewässerungen.
Im obern und mittleren Laufe besitzt dieser Strom so starke Ge-
schwindigkeiten, dass die Lederboote noch jetzt wie im Alterthum1)
nur zur Thalfahrt benutzt, am Ziele angelangt aber auf Lastthiere
geladen und wieder zum Oberlauf zurückgetragen werden. Weiter
gegen Süden beruhigt sich der Euphrat und zieht als stiller aber
tiefer Strom dem persischen Golfe zu. Jetzt tritt er im April über
sein rechtes Ufer, um in den Bodensenkungen Lachen und Sümpfe
zu hinterlassen, aus denen speerhohe Schilfe aufsprossen. Von
Mai bis November wölbt sich über Sinear ein eherner Himmel, die
Luftwärme steigt auf 39° R., selbst hinter dicken Mauern noch
auf 30°, ohne dass, so wenig wie in Aegypten, Indien und in
Yucatan, die Denkkraft der Bewohner unter diesen Temperaturen
erschlafft wäre. Von November bis December fallen wieder leichte
Regenschauer. Baumwuchs ist nur auf die Ufersäume beschränkt
und besteht aus Tamarisken, Acacien, Pappeln, Granatbäumen
mit ihren Feuerblüthen, sowie aus Palmen, beladen mit Trauben
bernsteingelber Datteln. Auf grossen Strecken ist der einstmals
so frohlockende Euphrat jetzt beängstigend still. Der Wind hebt
mit seinen Fittigen Sandwolken empor, um den fetten Marsch-
boden zu ersticken, ohne dass ihm Jemand wehrte. Weit über das
flache Land hin ragen seltsam gestaltete Hügel, die bei besserer
Annäherung als ungeheure Trümmer von Backsteinen erkannt
werden. An Lehm zu Luftziegeln fehlte es nirgends, einen treff-
lichen Mörtel aber lieferten die noch jetzt fliessenden Erdpech-

1) Herodot. lib. 1. cap. 194. vgl. auch Ritter, Erdkunde. Thl. XI.
S. 64.
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[535/0553] Die mittelländische Race. zählige geistige Anregungen und Hilfsmittel der Gesittung bis in die neueste Zeit verdanken. Der Einbruch der Araber verscheuchte zuerst die mönchische Finsterniss, in welche Europa zu versinken drohte und frische Helligkeit durchströmte unsern Welttheil, als die Kreuzfahrer aus Palästina Erfindungen und Wissens- schätze heimbrachten. Eines der ältesten Culturvölker Vorder- asiens, die Chaldäer im Lande Sinear, von denen die späteren Assyrier abstammen, gehörte nach den vorausgehenden Erläuterungen zu den Semiten. Wie die Aegypter bewohnte es eine Wüste, wie diese den Nil, benutzte es die Hochwasser der mesopotamischen Ströme, des Euphrat vorzugsweise, zu künstlichen Bewässerungen. Im obern und mittleren Laufe besitzt dieser Strom so starke Ge- schwindigkeiten, dass die Lederboote noch jetzt wie im Alterthum 1) nur zur Thalfahrt benutzt, am Ziele angelangt aber auf Lastthiere geladen und wieder zum Oberlauf zurückgetragen werden. Weiter gegen Süden beruhigt sich der Euphrat und zieht als stiller aber tiefer Strom dem persischen Golfe zu. Jetzt tritt er im April über sein rechtes Ufer, um in den Bodensenkungen Lachen und Sümpfe zu hinterlassen, aus denen speerhohe Schilfe aufsprossen. Von Mai bis November wölbt sich über Sinear ein eherner Himmel, die Luftwärme steigt auf 39° R., selbst hinter dicken Mauern noch auf 30°, ohne dass, so wenig wie in Aegypten, Indien und in Yucatan, die Denkkraft der Bewohner unter diesen Temperaturen erschlafft wäre. Von November bis December fallen wieder leichte Regenschauer. Baumwuchs ist nur auf die Ufersäume beschränkt und besteht aus Tamarisken, Acacien, Pappeln, Granatbäumen mit ihren Feuerblüthen, sowie aus Palmen, beladen mit Trauben bernsteingelber Datteln. Auf grossen Strecken ist der einstmals so frohlockende Euphrat jetzt beängstigend still. Der Wind hebt mit seinen Fittigen Sandwolken empor, um den fetten Marsch- boden zu ersticken, ohne dass ihm Jemand wehrte. Weit über das flache Land hin ragen seltsam gestaltete Hügel, die bei besserer Annäherung als ungeheure Trümmer von Backsteinen erkannt werden. An Lehm zu Luftziegeln fehlte es nirgends, einen treff- lichen Mörtel aber lieferten die noch jetzt fliessenden Erdpech- 1) Herodot. lib. 1. cap. 194. vgl. auch Ritter, Erdkunde. Thl. XI. S. 64.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/553>, abgerufen am 22.12.2024.