Das nördliche und südliche Festland von Amerika gleichen sich in vielen grossen Zügen, von vornherein schon in den Um- rissen, denn beide sind grosse Dreiecke, mit den Spitzen nach Süden gerichtet. Aber auch ihr senkrechter Bau stimmt darin überein, dass am Westrande vom Stillen Meer aus die Cordilleren aufsteigen und zwischen ihren Kämmen Hochebenen eingeschaltet liegen. Als nothwendige Folge dieses gleichförmigen Baues finden wir östlich von den Abhängen der Felsengebirge und der Cor- dilleren oder in ihrem "Regenschatten" keinen Wald, sondern offene Steppen, in Nordamerika Prairien, in Mittelamerika Savanen, in Venezuela Llanos, am Silberstrom Pampas geheissen. Erst auf die Steppen gegen Osten folgen dann grosse Waldgebiete, welche im Norden und Süden die atlantischen Hälften beider Welttheile bedecken. Auf den Grasebenen im Süden wie im Norden Amerika's suchen wir vergeblich nach den gesellschaftlichen Erscheinungen, die in der alten Welt auf den entsprechenden Länderräumen allenthalben hervorgerufen werden. Wir vermissen dort Völker, welche die Berberstämme Nordafrika's, die Beduinen Arabiens, die Türken in Turkistan, die Mongolen in der Gobi, die Lappen und Samojeden auf den Tundern des hohen Nordens in Amerika vertreten möchten. Wenn man es sehr häufig als einen Mangel der amerikanischen Menschheit bezeichnen hört, dass sie die Vieh- zucht vernachlässigt habe, so ist diese Behauptung ungenau, denn streng genommen fehlte ihr nur die Milchwirthschaft gänzlich Wie Hr. v. Martius 1) uns belehrt hat, gibt es in der Tupisprache oder Lingoa geral Brasiliens für Bezähmung einen eigenen Aus- druck mit dem Sinne, dass die Thiere zur Ablegung ihrer Wildheit gebracht werden sollen. Die meisten Eingebornen Brasiliens zeigen Freude am Umgang mit Thieren; sie wissen Affen und Papageien an sich zu fesseln, und rufen unter anderen durch Ernährung mit Fischen bei grünen Papageien rothe und gelbe Federn hervor2), auch gleichen ihre Hütten oft einer Menagerie. Culturgeschichtlich gewinnt jedoch die Thierzucht erst dann eine höhere Bedeutung, wenn der Mensch vorsorglich durch sie seinen Unterhalt erwirbt und sich abgewöhnt, von den Gnadengeschenken der Natur aus der Hand in den Mund zu leben. Am Amazonas könnte die Jagd
1) Ethnographie. Bd. 1. S. 672.
2)Charles Darwin, Domestication. tom. II. p. 280.
Die amerikanische Urbevölkerung.
Das nördliche und südliche Festland von Amerika gleichen sich in vielen grossen Zügen, von vornherein schon in den Um- rissen, denn beide sind grosse Dreiecke, mit den Spitzen nach Süden gerichtet. Aber auch ihr senkrechter Bau stimmt darin überein, dass am Westrande vom Stillen Meer aus die Cordilleren aufsteigen und zwischen ihren Kämmen Hochebenen eingeschaltet liegen. Als nothwendige Folge dieses gleichförmigen Baues finden wir östlich von den Abhängen der Felsengebirge und der Cor- dilleren oder in ihrem „Regenschatten“ keinen Wald, sondern offene Steppen, in Nordamerika Prairien, in Mittelamerika Savanen, in Venezuela Llanos, am Silberstrom Pampas geheissen. Erst auf die Steppen gegen Osten folgen dann grosse Waldgebiete, welche im Norden und Süden die atlantischen Hälften beider Welttheile bedecken. Auf den Grasebenen im Süden wie im Norden Amerika’s suchen wir vergeblich nach den gesellschaftlichen Erscheinungen, die in der alten Welt auf den entsprechenden Länderräumen allenthalben hervorgerufen werden. Wir vermissen dort Völker, welche die Berberstämme Nordafrika’s, die Beduinen Arabiens, die Türken in Turkistan, die Mongolen in der Gobi, die Lappen und Samojeden auf den Tundern des hohen Nordens in Amerika vertreten möchten. Wenn man es sehr häufig als einen Mangel der amerikanischen Menschheit bezeichnen hört, dass sie die Vieh- zucht vernachlässigt habe, so ist diese Behauptung ungenau, denn streng genommen fehlte ihr nur die Milchwirthschaft gänzlich Wie Hr. v. Martius 1) uns belehrt hat, gibt es in der Tupisprache oder Lingoa geral Brasiliens für Bezähmung einen eigenen Aus- druck mit dem Sinne, dass die Thiere zur Ablegung ihrer Wildheit gebracht werden sollen. Die meisten Eingebornen Brasiliens zeigen Freude am Umgang mit Thieren; sie wissen Affen und Papageien an sich zu fesseln, und rufen unter anderen durch Ernährung mit Fischen bei grünen Papageien rothe und gelbe Federn hervor2), auch gleichen ihre Hütten oft einer Menagerie. Culturgeschichtlich gewinnt jedoch die Thierzucht erst dann eine höhere Bedeutung, wenn der Mensch vorsorglich durch sie seinen Unterhalt erwirbt und sich abgewöhnt, von den Gnadengeschenken der Natur aus der Hand in den Mund zu leben. Am Amazonas könnte die Jagd
1) Ethnographie. Bd. 1. S. 672.
2)Charles Darwin, Domestication. tom. II. p. 280.
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[452/0470]
Die amerikanische Urbevölkerung.
Das nördliche und südliche Festland von Amerika gleichen
sich in vielen grossen Zügen, von vornherein schon in den Um-
rissen, denn beide sind grosse Dreiecke, mit den Spitzen nach
Süden gerichtet. Aber auch ihr senkrechter Bau stimmt darin
überein, dass am Westrande vom Stillen Meer aus die Cordilleren
aufsteigen und zwischen ihren Kämmen Hochebenen eingeschaltet
liegen. Als nothwendige Folge dieses gleichförmigen Baues finden
wir östlich von den Abhängen der Felsengebirge und der Cor-
dilleren oder in ihrem „Regenschatten“ keinen Wald, sondern
offene Steppen, in Nordamerika Prairien, in Mittelamerika Savanen,
in Venezuela Llanos, am Silberstrom Pampas geheissen. Erst auf
die Steppen gegen Osten folgen dann grosse Waldgebiete, welche
im Norden und Süden die atlantischen Hälften beider Welttheile
bedecken. Auf den Grasebenen im Süden wie im Norden Amerika’s
suchen wir vergeblich nach den gesellschaftlichen Erscheinungen,
die in der alten Welt auf den entsprechenden Länderräumen
allenthalben hervorgerufen werden. Wir vermissen dort Völker,
welche die Berberstämme Nordafrika’s, die Beduinen Arabiens,
die Türken in Turkistan, die Mongolen in der Gobi, die Lappen
und Samojeden auf den Tundern des hohen Nordens in Amerika
vertreten möchten. Wenn man es sehr häufig als einen Mangel
der amerikanischen Menschheit bezeichnen hört, dass sie die Vieh-
zucht vernachlässigt habe, so ist diese Behauptung ungenau, denn
streng genommen fehlte ihr nur die Milchwirthschaft gänzlich
Wie Hr. v. Martius 1) uns belehrt hat, gibt es in der Tupisprache
oder Lingoa geral Brasiliens für Bezähmung einen eigenen Aus-
druck mit dem Sinne, dass die Thiere zur Ablegung ihrer Wildheit
gebracht werden sollen. Die meisten Eingebornen Brasiliens zeigen
Freude am Umgang mit Thieren; sie wissen Affen und Papageien
an sich zu fesseln, und rufen unter anderen durch Ernährung mit
Fischen bei grünen Papageien rothe und gelbe Federn hervor 2),
auch gleichen ihre Hütten oft einer Menagerie. Culturgeschichtlich
gewinnt jedoch die Thierzucht erst dann eine höhere Bedeutung,
wenn der Mensch vorsorglich durch sie seinen Unterhalt erwirbt
und sich abgewöhnt, von den Gnadengeschenken der Natur aus
der Hand in den Mund zu leben. Am Amazonas könnte die Jagd
1) Ethnographie. Bd. 1. S. 672.
2) Charles Darwin, Domestication. tom. II. p. 280.
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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/470>, abgerufen am 22.12.2024.
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