Nach Erlösung seufzt die Creatur, lauten auch die Worte des Apostels. Auf dem Hindu lastete als Judasqual die Vorstellung einer rastlosen Erneuerung, ohne Rettung, dass das ewig rollende Rad jemals still stehen könnte und seine Einbildungskraft sah, beunruhigt von unheimlichen Zahlenausdrücken, in eine Zeit ohne Grenzen hinaus, die mit jedem Schritt vorwärts ihren Horizont ebenfalls um einen Schritt vorwärts schob. Wenn nun schon die höchsten Kasten nach einer Entfesselung der Seele sich sehnten, so war für die Gedrückten das Dasein ohne Abschluss eine Folter ohne Ruhepause.
Da trat nun nach den überlieferten Angaben im 6. Jahr- hundert vor unserer Zeitrechnung der Sohn Cuddhodana's des Königs von Kapilavastu, aus dem Stamme Gautama und dem Hause Cakja Namens Siddhartha mit einer Hoffnung auf Erlösung unter das indische Volk 1). Der Anblick von körperlichen Uebeln, von Krankheit, Alter und Tod hatten ihn zum Nachdenken an- geregt, wie der Mensch sich wohl dem Elend des irdischen Daseins entziehen möchte. Die Lehren brahmanischer Schulen befriedigten ihn nicht. Er erkannte vielmehr die Nichtigkeit des Gebetes, der Opfer und der Bussübungen. Schon diese Ver- nichtung der schamanistischen Verirrungen sichert ihm einen hohen Rang unter den Religionsstiftern. Er verkündete ferner seine Lehre nicht an Geweihte und wie ein Geheimniss, sondern er wirkte ganz im Gegensatze zu den Brahmanen durch die öffentliche Predigt in der Volkssprache 2); er wendete sich auch nicht an auserwählte Kasten, sondern an die gesammte Mensch- heit. Niemals ist der Buddhismus national gewesen, sondern weltbürgerlich geblieben bis auf den heutigen Tag. Laut ver- kündete vielmehr der Cakjamuni, um diesen Beinamen des neuen Religionsstifters hier einzuflechten, dass seine Lehre ein Gesetz der Gnade für Alle sei 3), und bekannt ist die schöne Legende von seinem Lieblingsschüler Ananda, welche so ähnlich klingt, wie die Begegnung mit der Samariterin am Brunnen im vierten Evangelium. Er begehrt nämlich von einem Tschandala-Mädchen, das Wasser schöpft, einen Trunk, und als es zögert, um ihn nicht durch Berührung zu beflecken, spricht er: "Meine Schwester,
1)Chr. Lassen, Indische Alterthumskunde. Bd. 2. S. 66.
2)Burnouf, Introduction, tom. I. p. 195.
3)Burnouf, l. c. tom. I. p. 198.
Die Religion des Buddha.
Nach Erlösung seufzt die Creatur, lauten auch die Worte des Apostels. Auf dem Hindu lastete als Judasqual die Vorstellung einer rastlosen Erneuerung, ohne Rettung, dass das ewig rollende Rad jemals still stehen könnte und seine Einbildungskraft sah, beunruhigt von unheimlichen Zahlenausdrücken, in eine Zeit ohne Grenzen hinaus, die mit jedem Schritt vorwärts ihren Horizont ebenfalls um einen Schritt vorwärts schob. Wenn nun schon die höchsten Kasten nach einer Entfesselung der Seele sich sehnten, so war für die Gedrückten das Dasein ohne Abschluss eine Folter ohne Ruhepause.
Da trat nun nach den überlieferten Angaben im 6. Jahr- hundert vor unserer Zeitrechnung der Sohn Çuddhôdana’s des Königs von Kapilavastu, aus dem Stamme Gautama und dem Hause Çâkja Namens Siddhârtha mit einer Hoffnung auf Erlösung unter das indische Volk 1). Der Anblick von körperlichen Uebeln, von Krankheit, Alter und Tod hatten ihn zum Nachdenken an- geregt, wie der Mensch sich wohl dem Elend des irdischen Daseins entziehen möchte. Die Lehren brahmanischer Schulen befriedigten ihn nicht. Er erkannte vielmehr die Nichtigkeit des Gebetes, der Opfer und der Bussübungen. Schon diese Ver- nichtung der schamanistischen Verirrungen sichert ihm einen hohen Rang unter den Religionsstiftern. Er verkündete ferner seine Lehre nicht an Geweihte und wie ein Geheimniss, sondern er wirkte ganz im Gegensatze zu den Brahmanen durch die öffentliche Predigt in der Volkssprache 2); er wendete sich auch nicht an auserwählte Kasten, sondern an die gesammte Mensch- heit. Niemals ist der Buddhismus national gewesen, sondern weltbürgerlich geblieben bis auf den heutigen Tag. Laut ver- kündete vielmehr der Çákjamuni, um diesen Beinamen des neuen Religionsstifters hier einzuflechten, dass seine Lehre ein Gesetz der Gnade für Alle sei 3), und bekannt ist die schöne Legende von seinem Lieblingsschüler Ananda, welche so ähnlich klingt, wie die Begegnung mit der Samariterin am Brunnen im vierten Evangelium. Er begehrt nämlich von einem Tschândâla-Mädchen, das Wasser schöpft, einen Trunk, und als es zögert, um ihn nicht durch Berührung zu beflecken, spricht er: „Meine Schwester,
1)Chr. Lassen, Indische Alterthumskunde. Bd. 2. S. 66.
2)Burnouf, Introduction, tom. I. p. 195.
3)Burnouf, l. c. tom. I. p. 198.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0303"n="285"/><fwplace="top"type="header">Die Religion des Buddha.</fw><lb/>
Nach Erlösung seufzt die Creatur, lauten auch die Worte des<lb/>
Apostels. Auf dem Hindu lastete als Judasqual die Vorstellung<lb/>
einer rastlosen Erneuerung, ohne Rettung, dass das ewig rollende<lb/>
Rad jemals still stehen könnte und seine Einbildungskraft sah,<lb/>
beunruhigt von unheimlichen Zahlenausdrücken, in eine Zeit ohne<lb/>
Grenzen hinaus, die mit jedem Schritt vorwärts ihren Horizont<lb/>
ebenfalls um einen Schritt vorwärts schob. Wenn nun schon<lb/>
die höchsten Kasten nach einer Entfesselung der Seele sich<lb/>
sehnten, so war für die Gedrückten das Dasein ohne Abschluss<lb/>
eine Folter ohne Ruhepause.</p><lb/><p>Da trat nun nach den überlieferten Angaben im 6. Jahr-<lb/>
hundert vor unserer Zeitrechnung der Sohn Çuddhôdana’s des<lb/>
Königs von Kapilavastu, aus dem Stamme Gautama und dem<lb/>
Hause Çâkja Namens Siddhârtha mit einer Hoffnung auf Erlösung<lb/>
unter das indische Volk <noteplace="foot"n="1)"><hirendition="#g">Chr. Lassen,</hi> Indische Alterthumskunde. Bd. 2. S. 66.</note>. Der Anblick von körperlichen Uebeln,<lb/>
von Krankheit, Alter und Tod hatten ihn zum Nachdenken an-<lb/>
geregt, wie der Mensch sich wohl dem Elend des irdischen<lb/>
Daseins entziehen möchte. Die Lehren brahmanischer Schulen<lb/>
befriedigten ihn nicht. Er erkannte vielmehr die Nichtigkeit des<lb/>
Gebetes, der Opfer und der Bussübungen. Schon diese Ver-<lb/>
nichtung der schamanistischen Verirrungen sichert ihm einen<lb/>
hohen Rang unter den Religionsstiftern. Er verkündete ferner<lb/>
seine Lehre nicht an Geweihte und wie ein Geheimniss, sondern<lb/>
er wirkte ganz im Gegensatze zu den Brahmanen durch die<lb/>
öffentliche Predigt in der Volkssprache <noteplace="foot"n="2)"><hirendition="#g">Burnouf,</hi> Introduction, tom. I. p. 195.</note>; er wendete sich auch<lb/>
nicht an auserwählte Kasten, sondern an die gesammte Mensch-<lb/>
heit. Niemals ist der Buddhismus national gewesen, sondern<lb/>
weltbürgerlich geblieben bis auf den heutigen Tag. Laut ver-<lb/>
kündete vielmehr der Çákjamuni, um diesen Beinamen des neuen<lb/>
Religionsstifters hier einzuflechten, dass seine Lehre ein Gesetz<lb/>
der Gnade für Alle sei <noteplace="foot"n="3)"><hirendition="#g">Burnouf,</hi> l. c. tom. I. p. 198.</note>, und bekannt ist die schöne Legende<lb/>
von seinem Lieblingsschüler Ananda, welche so ähnlich klingt,<lb/>
wie die Begegnung mit der Samariterin am Brunnen im vierten<lb/>
Evangelium. Er begehrt nämlich von einem Tschândâla-Mädchen,<lb/>
das Wasser schöpft, einen Trunk, und als es zögert, um ihn<lb/>
nicht durch Berührung zu beflecken, spricht er: „Meine Schwester,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[285/0303]
Die Religion des Buddha.
Nach Erlösung seufzt die Creatur, lauten auch die Worte des
Apostels. Auf dem Hindu lastete als Judasqual die Vorstellung
einer rastlosen Erneuerung, ohne Rettung, dass das ewig rollende
Rad jemals still stehen könnte und seine Einbildungskraft sah,
beunruhigt von unheimlichen Zahlenausdrücken, in eine Zeit ohne
Grenzen hinaus, die mit jedem Schritt vorwärts ihren Horizont
ebenfalls um einen Schritt vorwärts schob. Wenn nun schon
die höchsten Kasten nach einer Entfesselung der Seele sich
sehnten, so war für die Gedrückten das Dasein ohne Abschluss
eine Folter ohne Ruhepause.
Da trat nun nach den überlieferten Angaben im 6. Jahr-
hundert vor unserer Zeitrechnung der Sohn Çuddhôdana’s des
Königs von Kapilavastu, aus dem Stamme Gautama und dem
Hause Çâkja Namens Siddhârtha mit einer Hoffnung auf Erlösung
unter das indische Volk 1). Der Anblick von körperlichen Uebeln,
von Krankheit, Alter und Tod hatten ihn zum Nachdenken an-
geregt, wie der Mensch sich wohl dem Elend des irdischen
Daseins entziehen möchte. Die Lehren brahmanischer Schulen
befriedigten ihn nicht. Er erkannte vielmehr die Nichtigkeit des
Gebetes, der Opfer und der Bussübungen. Schon diese Ver-
nichtung der schamanistischen Verirrungen sichert ihm einen
hohen Rang unter den Religionsstiftern. Er verkündete ferner
seine Lehre nicht an Geweihte und wie ein Geheimniss, sondern
er wirkte ganz im Gegensatze zu den Brahmanen durch die
öffentliche Predigt in der Volkssprache 2); er wendete sich auch
nicht an auserwählte Kasten, sondern an die gesammte Mensch-
heit. Niemals ist der Buddhismus national gewesen, sondern
weltbürgerlich geblieben bis auf den heutigen Tag. Laut ver-
kündete vielmehr der Çákjamuni, um diesen Beinamen des neuen
Religionsstifters hier einzuflechten, dass seine Lehre ein Gesetz
der Gnade für Alle sei 3), und bekannt ist die schöne Legende
von seinem Lieblingsschüler Ananda, welche so ähnlich klingt,
wie die Begegnung mit der Samariterin am Brunnen im vierten
Evangelium. Er begehrt nämlich von einem Tschândâla-Mädchen,
das Wasser schöpft, einen Trunk, und als es zögert, um ihn
nicht durch Berührung zu beflecken, spricht er: „Meine Schwester,
1) Chr. Lassen, Indische Alterthumskunde. Bd. 2. S. 66.
2) Burnouf, Introduction, tom. I. p. 195.
3) Burnouf, l. c. tom. I. p. 198.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/303>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.