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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
zu Zeiten von Seuchen besucht werden. Tylor hat uns belehrt,
dass auch in Europa der Wahn herrscht, man könne aus dem
Hause des Kranken sein Uebel mit einem Stück seiner Habe hinweg
und auf einen andern Gegenstand, einen Baum, am liebsten wohl
auf einen Menschen übertragen. In Südeuropa bieten junge Mäd-
chen dem Reisenden oft Blumensträusse feil, die aber aus dem
Hause eines Kranken stammen1). Der Verfasser erinnert sich,
dass man ihn in der Knabenzeit streng gewarnt habe, nie eine
Blume aufzuheben, die auf dem Wege liege, "denn man könne
nicht wissen, mit welcher Krankheit derjenige behaftet gewesen
sei, der sie weggeworfen habe". Wohlverstanden erstreckte sich
dieses Verbot ausschliesslich nur auf Blumen. Die Suaheli in Ost-
afrika bringen den Krankheitsdämonen Opfer in Lebensmitteln,
die sie aber nicht selbst geniessen, sondern irgendwo an einem
Fussweg niedersetzen, damit ein Vorübergehender sie verzehre und
somit die Seuche sich auflade2).

Von allen Thieren haben die Schlangen am häufigsten Ver-
ehrung genossen, nirgends aber war die Schlangenanbetung oder
die Naga-Religion so weit verbreitet als in Indien, wovon Orts-
namen wie Nagapur, Widschanagara, Baghanagara Zeugniss ab-
legen. Noch heutigen Tages empfangen die Cobra oder Brillen-
schlangen am Nagapanschmi-Feste öffentliche Verehrung von den
Brahmanen. Auch Mose hat in einer schwachen Stunde die eherne
Schlange anfertigen lassen, die mit den anderen Heiligthümern nach
Jerusalem wanderte, wo sie erst der fromme König Hizqia um
720 v. Chr. aus dem Tempel entfernte. Selbst innerhalb des
Christenthums treffen wir auf die Secte der Ophiten, welche den
Schlangendienst fortsetzten oder erneuerten, wenn nicht das Meiste,
was ihnen aufgebürdet wird, auf Verläumdung beruht3). Die
Schlangenverehrung erfreut sich noch voller Lebenskraft im Neger-
reiche Dahome4) und hat sich mit der Sklaverei nach der Neuen
Welt verbreitet, wo sie neuerlich auf Haiti wieder üppig aus den
Wurzeln getrieben haben soll.

Das fliessende Wasser ist, abgesehen von der weitverbreiteten

1) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 150.
2) Journal of the Anthropological Institute. vol. I. p. CXLVIII.
3) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 243.
4) Bosman, Guinese Goud-kust. tom. II, p. 155--170.

Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
zu Zeiten von Seuchen besucht werden. Tylor hat uns belehrt,
dass auch in Europa der Wahn herrscht, man könne aus dem
Hause des Kranken sein Uebel mit einem Stück seiner Habe hinweg
und auf einen andern Gegenstand, einen Baum, am liebsten wohl
auf einen Menschen übertragen. In Südeuropa bieten junge Mäd-
chen dem Reisenden oft Blumensträusse feil, die aber aus dem
Hause eines Kranken stammen1). Der Verfasser erinnert sich,
dass man ihn in der Knabenzeit streng gewarnt habe, nie eine
Blume aufzuheben, die auf dem Wege liege, „denn man könne
nicht wissen, mit welcher Krankheit derjenige behaftet gewesen
sei, der sie weggeworfen habe“. Wohlverstanden erstreckte sich
dieses Verbot ausschliesslich nur auf Blumen. Die Suaheli in Ost-
afrika bringen den Krankheitsdämonen Opfer in Lebensmitteln,
die sie aber nicht selbst geniessen, sondern irgendwo an einem
Fussweg niedersetzen, damit ein Vorübergehender sie verzehre und
somit die Seuche sich auflade2).

Von allen Thieren haben die Schlangen am häufigsten Ver-
ehrung genossen, nirgends aber war die Schlangenanbetung oder
die Naga-Religion so weit verbreitet als in Indien, wovon Orts-
namen wie Nagapur, Widschanagara, Baghanagara Zeugniss ab-
legen. Noch heutigen Tages empfangen die Cobra oder Brillen-
schlangen am Nagapanschmi-Feste öffentliche Verehrung von den
Brahmanen. Auch Mose hat in einer schwachen Stunde die eherne
Schlange anfertigen lassen, die mit den anderen Heiligthümern nach
Jerusalem wanderte, wo sie erst der fromme König Hizqia um
720 v. Chr. aus dem Tempel entfernte. Selbst innerhalb des
Christenthums treffen wir auf die Secte der Ophiten, welche den
Schlangendienst fortsetzten oder erneuerten, wenn nicht das Meiste,
was ihnen aufgebürdet wird, auf Verläumdung beruht3). Die
Schlangenverehrung erfreut sich noch voller Lebenskraft im Neger-
reiche Dahome4) und hat sich mit der Sklaverei nach der Neuen
Welt verbreitet, wo sie neuerlich auf Haiti wieder üppig aus den
Wurzeln getrieben haben soll.

Das fliessende Wasser ist, abgesehen von der weitverbreiteten

1) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 150.
2) Journal of the Anthropological Institute. vol. I. p. CXLVIII.
3) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 243.
4) Bosman, Guinese Goud-kust. tom. II, p. 155—170.
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[263/0281] Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. zu Zeiten von Seuchen besucht werden. Tylor hat uns belehrt, dass auch in Europa der Wahn herrscht, man könne aus dem Hause des Kranken sein Uebel mit einem Stück seiner Habe hinweg und auf einen andern Gegenstand, einen Baum, am liebsten wohl auf einen Menschen übertragen. In Südeuropa bieten junge Mäd- chen dem Reisenden oft Blumensträusse feil, die aber aus dem Hause eines Kranken stammen 1). Der Verfasser erinnert sich, dass man ihn in der Knabenzeit streng gewarnt habe, nie eine Blume aufzuheben, die auf dem Wege liege, „denn man könne nicht wissen, mit welcher Krankheit derjenige behaftet gewesen sei, der sie weggeworfen habe“. Wohlverstanden erstreckte sich dieses Verbot ausschliesslich nur auf Blumen. Die Suaheli in Ost- afrika bringen den Krankheitsdämonen Opfer in Lebensmitteln, die sie aber nicht selbst geniessen, sondern irgendwo an einem Fussweg niedersetzen, damit ein Vorübergehender sie verzehre und somit die Seuche sich auflade 2). Von allen Thieren haben die Schlangen am häufigsten Ver- ehrung genossen, nirgends aber war die Schlangenanbetung oder die Naga-Religion so weit verbreitet als in Indien, wovon Orts- namen wie Nagapur, Widschanagara, Baghanagara Zeugniss ab- legen. Noch heutigen Tages empfangen die Cobra oder Brillen- schlangen am Nagapanschmi-Feste öffentliche Verehrung von den Brahmanen. Auch Mose hat in einer schwachen Stunde die eherne Schlange anfertigen lassen, die mit den anderen Heiligthümern nach Jerusalem wanderte, wo sie erst der fromme König Hizqia um 720 v. Chr. aus dem Tempel entfernte. Selbst innerhalb des Christenthums treffen wir auf die Secte der Ophiten, welche den Schlangendienst fortsetzten oder erneuerten, wenn nicht das Meiste, was ihnen aufgebürdet wird, auf Verläumdung beruht 3). Die Schlangenverehrung erfreut sich noch voller Lebenskraft im Neger- reiche Dahome 4) und hat sich mit der Sklaverei nach der Neuen Welt verbreitet, wo sie neuerlich auf Haiti wieder üppig aus den Wurzeln getrieben haben soll. Das fliessende Wasser ist, abgesehen von der weitverbreiteten 1) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 150. 2) Journal of the Anthropological Institute. vol. I. p. CXLVIII. 3) Tylor, Anfänge der Cultur. Bd. 2. S. 243. 4) Bosman, Guinese Goud-kust. tom. II, p. 155—170.

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/281>, abgerufen am 02.05.2024.