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Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.

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Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Die Redensart, dass sich schon vom Klange der Glöckchen am Halse
der Maulthiere die Lawinen lösen sollen, beruht ganz sicherlich
nicht auf Erfahrung, sondern deutet auf einen alten Aberglauben
im Style des eben erwähnten australischen. Ferner gehört hierher,
dass die papuanischen Bergvölker oder Wuka in Neuguinea ihre
Schwüre bei einem hohen Berge ablegen, der sie im Falle des
Meineides überschütten möge1). Am Attaranflusse in Pegu sollte
etwa 40 Jahre vor dem Besuche der Gräfin Nostiz2) ein gewaltiger
Thinganstamm zum Aushöhlen eines Kriegsbootes gefällt werden.
Beim Umsinken erschlug er unglücklicherweise über hundert Men-
schen. Sogleich wurde die Stelle als ein Zauberort betrachtet,
und auf dem Stumpfe des Baumes eine Kapelle für die Nat oder
Waldgeister errichtet. Als im Jahre 1698 der König von Cu-
massie starb, und ihm bald nachher sein bitterer Feind, der
holländische Oberfactor des Forts Elmina, ins Grab nachfolgte,
sahen die Neger, die ihre Abgeschiedenen als göttliche Wesen
verehren, in dem Tod des Letzteren ein Werk ihres voraus-
gegangenen Fürsten3). Sehr leicht erkennen wir in allen diesen
Fällen eine Schwäche des Denkvermögens, als müssten Begeben-
heiten, die der Zeit nach auf einander folgen, in einem ursäch-
lichen Zusammenhang stehen. So verehrten auch die Itelmen
Kamtschatkas die Bachstelzen als Verbreiter des Frühlings, weil
mit ihrer Ankunft die bessere Jahreszeit sich einstellte4), und unsre
Vorfahren müssen einen ähnlichen logischen Fehler begangen haben,
wie uns die Redensart bezeugt, dass eine vereinzelte Schwalbe den
Sommer nicht bringe. Stets also waren es die Urheber er-
schreckender oder ersehnter Begebenheiten, welche die religiöse
Verehrung auf sich zogen. Von dem viel gefeierten König Tez-
cucos Netzahualcoyotzin versichert uns ein eingeborner mexicani-
scher Geschichtschreiber, er habe einen unbekannten Gott verehrt
unter dem Namen Ursache der Ursachen5). Es ist also der
Drang nach einem unsichtbaren Urheber, der dazu führt, auch

1) O. Finsch, Neu-Guinea. S. 86.
2) Helfer's Reisen in Vorderasien und Indien. Leipzig 1873. Bd. 2.
S. 155.
3) Bosman, Guinese Goud-kust. Utrecht 1704. tom I. p. 152.
4) Georg Steller, Kamtschatka. S. 280.
5) Ixtlilxochitl, Histoire des Chichimeques. tom. I. p. 354; Prescott,
Conquest of Mexico. vol. I. p. 193.
Peschel, Völkerkunde. 17

Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern.
Die Redensart, dass sich schon vom Klange der Glöckchen am Halse
der Maulthiere die Lawinen lösen sollen, beruht ganz sicherlich
nicht auf Erfahrung, sondern deutet auf einen alten Aberglauben
im Style des eben erwähnten australischen. Ferner gehört hierher,
dass die papuanischen Bergvölker oder Wuka in Neuguinea ihre
Schwüre bei einem hohen Berge ablegen, der sie im Falle des
Meineides überschütten möge1). Am Attaranflusse in Pegu sollte
etwa 40 Jahre vor dem Besuche der Gräfin Nostiz2) ein gewaltiger
Thinganstamm zum Aushöhlen eines Kriegsbootes gefällt werden.
Beim Umsinken erschlug er unglücklicherweise über hundert Men-
schen. Sogleich wurde die Stelle als ein Zauberort betrachtet,
und auf dem Stumpfe des Baumes eine Kapelle für die Nat oder
Waldgeister errichtet. Als im Jahre 1698 der König von Cu-
massie starb, und ihm bald nachher sein bitterer Feind, der
holländische Oberfactor des Forts Elmina, ins Grab nachfolgte,
sahen die Neger, die ihre Abgeschiedenen als göttliche Wesen
verehren, in dem Tod des Letzteren ein Werk ihres voraus-
gegangenen Fürsten3). Sehr leicht erkennen wir in allen diesen
Fällen eine Schwäche des Denkvermögens, als müssten Begeben-
heiten, die der Zeit nach auf einander folgen, in einem ursäch-
lichen Zusammenhang stehen. So verehrten auch die Itelmen
Kamtschatkas die Bachstelzen als Verbreiter des Frühlings, weil
mit ihrer Ankunft die bessere Jahreszeit sich einstellte4), und unsre
Vorfahren müssen einen ähnlichen logischen Fehler begangen haben,
wie uns die Redensart bezeugt, dass eine vereinzelte Schwalbe den
Sommer nicht bringe. Stets also waren es die Urheber er-
schreckender oder ersehnter Begebenheiten, welche die religiöse
Verehrung auf sich zogen. Von dem viel gefeierten König Tez-
cucos Netzahualcoyotzin versichert uns ein eingeborner mexicani-
scher Geschichtschreiber, er habe einen unbekannten Gott verehrt
unter dem Namen Ursache der Ursachen5). Es ist also der
Drang nach einem unsichtbaren Urheber, der dazu führt, auch

1) O. Finsch, Neu-Guinea. S. 86.
2) Helfer’s Reisen in Vorderasien und Indien. Leipzig 1873. Bd. 2.
S. 155.
3) Bosman, Guinese Goud-kust. Utrecht 1704. tom I. p. 152.
4) Georg Steller, Kamtschatka. S. 280.
5) Ixtlilxochitl, Histoire des Chichimèques. tom. I. p. 354; Prescott,
Conquest of Mexico. vol. I. p. 193.
Peschel, Völkerkunde. 17
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[257/0275] Die religiösen Regungen bei unentwickelten Völkern. Die Redensart, dass sich schon vom Klange der Glöckchen am Halse der Maulthiere die Lawinen lösen sollen, beruht ganz sicherlich nicht auf Erfahrung, sondern deutet auf einen alten Aberglauben im Style des eben erwähnten australischen. Ferner gehört hierher, dass die papuanischen Bergvölker oder Wuka in Neuguinea ihre Schwüre bei einem hohen Berge ablegen, der sie im Falle des Meineides überschütten möge 1). Am Attaranflusse in Pegu sollte etwa 40 Jahre vor dem Besuche der Gräfin Nostiz 2) ein gewaltiger Thinganstamm zum Aushöhlen eines Kriegsbootes gefällt werden. Beim Umsinken erschlug er unglücklicherweise über hundert Men- schen. Sogleich wurde die Stelle als ein Zauberort betrachtet, und auf dem Stumpfe des Baumes eine Kapelle für die Nat oder Waldgeister errichtet. Als im Jahre 1698 der König von Cu- massie starb, und ihm bald nachher sein bitterer Feind, der holländische Oberfactor des Forts Elmina, ins Grab nachfolgte, sahen die Neger, die ihre Abgeschiedenen als göttliche Wesen verehren, in dem Tod des Letzteren ein Werk ihres voraus- gegangenen Fürsten 3). Sehr leicht erkennen wir in allen diesen Fällen eine Schwäche des Denkvermögens, als müssten Begeben- heiten, die der Zeit nach auf einander folgen, in einem ursäch- lichen Zusammenhang stehen. So verehrten auch die Itelmen Kamtschatkas die Bachstelzen als Verbreiter des Frühlings, weil mit ihrer Ankunft die bessere Jahreszeit sich einstellte 4), und unsre Vorfahren müssen einen ähnlichen logischen Fehler begangen haben, wie uns die Redensart bezeugt, dass eine vereinzelte Schwalbe den Sommer nicht bringe. Stets also waren es die Urheber er- schreckender oder ersehnter Begebenheiten, welche die religiöse Verehrung auf sich zogen. Von dem viel gefeierten König Tez- cucos Netzahualcoyotzin versichert uns ein eingeborner mexicani- scher Geschichtschreiber, er habe einen unbekannten Gott verehrt unter dem Namen Ursache der Ursachen 5). Es ist also der Drang nach einem unsichtbaren Urheber, der dazu führt, auch 1) O. Finsch, Neu-Guinea. S. 86. 2) Helfer’s Reisen in Vorderasien und Indien. Leipzig 1873. Bd. 2. S. 155. 3) Bosman, Guinese Goud-kust. Utrecht 1704. tom I. p. 152. 4) Georg Steller, Kamtschatka. S. 280. 5) Ixtlilxochitl, Histoire des Chichimèques. tom. I. p. 354; Prescott, Conquest of Mexico. vol. I. p. 193. Peschel, Völkerkunde. 17

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Zitationshilfe: Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/peschel_voelkerkunde_1874/275>, abgerufen am 22.12.2024.