Peschel, Oscar: Völkerkunde. Leipzig, 1874.Ehe und väterliche Gewalt. schaft der einzelnen Volksstämme gewonnen hat. Bedauernmüssen wir nur, dass der amerikanische Gelehrte in dieser uns fremdartigen Auffassung der Verwandtschaftsgrade die Reste einer ehelosen Vorzeit zu erkennen glaubt1). Auch er vermuthet, dass anfänglich die Begattung durch zufällige Begegnung, also in hetä- ristischer Art erfolgte. Später sei ein Zustand eingetreten, wo die Söhne einer Mutter mit allen ihren Schwestern gemeinsam lebten. Als Erbtheil jener Vorzeit liesse sich vielleicht die Schwager- pflicht betrachten, welche dem Hebräer auferlegte, der Wittwe seines Bruders Nachkommen zu erwecken, eine Satzung, die wir bei unendlich vielen Völkern schon angetroffen haben2) und zu denen wir auch noch die Neger der Goldküste hinzufügen müssen3). Andrerseits könnte man noch erinnern, dass der Erzvater Jacob nach einander zwei Schwestern heimführt. Noch wichtiger ist es, dass, wie wir selbst mitgetheilt haben4), im südlichen Indien Ehen von einer Brüderzahl mit mehreren Schwestern geschlossen werden. Ferner herrschte ehemals bei den Kanaken der Havaiinseln unter dem Namen Pinalua die Sitte, dass Brüder gemeinsam ihre Frauen, Schwestern gemeinsam ihre Männer besassen5). Sehr ge- wagt bleibt es vorläufig, diese vereinzelten Bräuche, welche eben- sogut als örtliche Verirrungen sich auffassen lassen, als noth- wendige Vorstufen zur strengen Ehe zu bezeichnen. Dass jemals irgendwo längere Zeit die Kinder einer Mutter geschlechtlich sich vermehrt haben sollten, klingt gerade in neuester Zeit höchst un- glaubwürdig, seitdem es feststeht, dass selbst bei blüthenlosen Pflanzen die gegenseitige Befruchtung von Nachkommen derselben Eltern möglichst verhindert wird. Die eigenthümlichen Verwandt- schaftsstufen, welche malayische, asiatische und amerikanische Mongolenvölker, sowie die indischen Dravida und etliche Neger sprachlich unterscheiden, begünstigen keineswegs jene Auffassung, denn unmöglich kann auf eine geschlechtliche Erzeugung ange- spielt werden, wenn jemand den Grossenkel seines Grossonkels Sohn, oder wenn eine Frau die Grossenkelin ihrer Grosstante 1) Systems of consanguinity, p. 480. 2) S. oben S. 24. 3) Bosman, Guinese Goudkust. Utrecht 1704. tom. I. p. 201. 4) S. oben S. 232. 5) Morgan, Systems of consanguinity. p. 453. Peschel, Völkerkunde. 16
Ehe und väterliche Gewalt. schaft der einzelnen Volksstämme gewonnen hat. Bedauernmüssen wir nur, dass der amerikanische Gelehrte in dieser uns fremdartigen Auffassung der Verwandtschaftsgrade die Reste einer ehelosen Vorzeit zu erkennen glaubt1). Auch er vermuthet, dass anfänglich die Begattung durch zufällige Begegnung, also in hetä- ristischer Art erfolgte. Später sei ein Zustand eingetreten, wo die Söhne einer Mutter mit allen ihren Schwestern gemeinsam lebten. Als Erbtheil jener Vorzeit liesse sich vielleicht die Schwager- pflicht betrachten, welche dem Hebräer auferlegte, der Wittwe seines Bruders Nachkommen zu erwecken, eine Satzung, die wir bei unendlich vielen Völkern schon angetroffen haben2) und zu denen wir auch noch die Neger der Goldküste hinzufügen müssen3). Andrerseits könnte man noch erinnern, dass der Erzvater Jacob nach einander zwei Schwestern heimführt. Noch wichtiger ist es, dass, wie wir selbst mitgetheilt haben4), im südlichen Indien Ehen von einer Brüderzahl mit mehreren Schwestern geschlossen werden. Ferner herrschte ehemals bei den Kanaken der Havaiinseln unter dem Namen Pinalua die Sitte, dass Brüder gemeinsam ihre Frauen, Schwestern gemeinsam ihre Männer besassen5). Sehr ge- wagt bleibt es vorläufig, diese vereinzelten Bräuche, welche eben- sogut als örtliche Verirrungen sich auffassen lassen, als noth- wendige Vorstufen zur strengen Ehe zu bezeichnen. Dass jemals irgendwo längere Zeit die Kinder einer Mutter geschlechtlich sich vermehrt haben sollten, klingt gerade in neuester Zeit höchst un- glaubwürdig, seitdem es feststeht, dass selbst bei blüthenlosen Pflanzen die gegenseitige Befruchtung von Nachkommen derselben Eltern möglichst verhindert wird. Die eigenthümlichen Verwandt- schaftsstufen, welche malayische, asiatische und amerikanische Mongolenvölker, sowie die indischen Dravida und etliche Neger sprachlich unterscheiden, begünstigen keineswegs jene Auffassung, denn unmöglich kann auf eine geschlechtliche Erzeugung ange- spielt werden, wenn jemand den Grossenkel seines Grossonkels Sohn, oder wenn eine Frau die Grossenkelin ihrer Grosstante 1) Systems of consanguinity, p. 480. 2) S. oben S. 24. 3) Bosman, Guinese Goudkust. Utrecht 1704. tom. I. p. 201. 4) S. oben S. 232. 5) Morgan, Systems of consanguinity. p. 453. Peschel, Völkerkunde. 16
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Ehe und väterliche Gewalt.
schaft der einzelnen Volksstämme gewonnen hat. Bedauern
müssen wir nur, dass der amerikanische Gelehrte in dieser uns
fremdartigen Auffassung der Verwandtschaftsgrade die Reste einer
ehelosen Vorzeit zu erkennen glaubt 1). Auch er vermuthet, dass
anfänglich die Begattung durch zufällige Begegnung, also in hetä-
ristischer Art erfolgte. Später sei ein Zustand eingetreten, wo
die Söhne einer Mutter mit allen ihren Schwestern gemeinsam
lebten. Als Erbtheil jener Vorzeit liesse sich vielleicht die Schwager-
pflicht betrachten, welche dem Hebräer auferlegte, der Wittwe
seines Bruders Nachkommen zu erwecken, eine Satzung, die wir
bei unendlich vielen Völkern schon angetroffen haben 2) und zu
denen wir auch noch die Neger der Goldküste hinzufügen müssen 3).
Andrerseits könnte man noch erinnern, dass der Erzvater Jacob
nach einander zwei Schwestern heimführt. Noch wichtiger ist es,
dass, wie wir selbst mitgetheilt haben 4), im südlichen Indien Ehen
von einer Brüderzahl mit mehreren Schwestern geschlossen werden.
Ferner herrschte ehemals bei den Kanaken der Havaiinseln unter
dem Namen Pinalua die Sitte, dass Brüder gemeinsam ihre
Frauen, Schwestern gemeinsam ihre Männer besassen 5). Sehr ge-
wagt bleibt es vorläufig, diese vereinzelten Bräuche, welche eben-
sogut als örtliche Verirrungen sich auffassen lassen, als noth-
wendige Vorstufen zur strengen Ehe zu bezeichnen. Dass jemals
irgendwo längere Zeit die Kinder einer Mutter geschlechtlich sich
vermehrt haben sollten, klingt gerade in neuester Zeit höchst un-
glaubwürdig, seitdem es feststeht, dass selbst bei blüthenlosen
Pflanzen die gegenseitige Befruchtung von Nachkommen derselben
Eltern möglichst verhindert wird. Die eigenthümlichen Verwandt-
schaftsstufen, welche malayische, asiatische und amerikanische
Mongolenvölker, sowie die indischen Dravida und etliche Neger
sprachlich unterscheiden, begünstigen keineswegs jene Auffassung,
denn unmöglich kann auf eine geschlechtliche Erzeugung ange-
spielt werden, wenn jemand den Grossenkel seines Grossonkels
Sohn, oder wenn eine Frau die Grossenkelin ihrer Grosstante
1) Systems of consanguinity, p. 480.
2) S. oben S. 24.
3) Bosman, Guinese Goudkust. Utrecht 1704. tom. I. p. 201.
4) S. oben S. 232.
5) Morgan, Systems of consanguinity. p. 453.
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