tum vom H. Bibliothekar mittheilen, das viel¬ leicht, das ist wenigstens meine Meinung, so frappant ist als manches andere. Die Schul¬ wohnung ist, wie Sie gewiß noch wohl wissen, dicht an der Kirche." Darauf gab er in einer langen Erzählung diese: Einst sey in der tie¬ fen Mitternacht die Orgel gegangen -- Er habe an der Kirchthüre gelauscht und Schop¬ pen deutlich einen kurzen Vers aus einem Haupt¬ lied singen und orgeln hören -- Darauf sey dieser laut vom Chore herab und auf die Kan¬ zel hinauf gestiegen und habe eine Kasualpre¬ digt an sich selber mit den Worten angefan¬ gen: mein andächtiger Zuhörer und Freund in Christo -- Im Exordium hab' er das stille lei¬ der so schnell vergangne Glück vor dem Leben berührt, obwohl nicht nach rechter Homiletik, da der zweite Theil fast den Eingang repetire -- Darauf einen Kanzelvers mit sich gesungen und aus Hiob, Cap. 3., wo dieser die Freude des Nicht-Seyns zeigt, den 26sten Vers verle¬ sen, der so lautet: "war ich nicht glückseelig? war ich nicht fein stille? hatt' ich nicht gute Ruhe? Und kommt solche Unruhe" -- Vor¬
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tum vom H. Bibliothekar mittheilen, das viel¬ leicht, das iſt wenigſtens meine Meinung, ſo frappant iſt als manches andere. Die Schul¬ wohnung iſt, wie Sie gewiß noch wohl wiſſen, dicht an der Kirche.“ Darauf gab er in einer langen Erzählung dieſe: Einſt ſey in der tie¬ fen Mitternacht die Orgel gegangen — Er habe an der Kirchthüre gelauſcht und Schop¬ pen deutlich einen kurzen Vers aus einem Haupt¬ lied ſingen und orgeln hören — Darauf ſey dieſer laut vom Chore herab und auf die Kan¬ zel hinauf geſtiegen und habe eine Kaſualpre¬ digt an ſich ſelber mit den Worten angefan¬ gen: mein andächtiger Zuhörer und Freund in Chriſto — Im Exordium hab' er das ſtille lei¬ der ſo ſchnell vergangne Glück vor dem Leben berührt, obwohl nicht nach rechter Homiletik, da der zweite Theil faſt den Eingang repetire — Darauf einen Kanzelvers mit ſich geſungen und aus Hiob, Cap. 3., wo dieſer die Freude des Nicht-Seyns zeigt, den 26ſten Vers verle¬ ſen, der ſo lautet: „war ich nicht glückſeelig? war ich nicht fein ſtille? hatt' ich nicht gute Ruhe? Und kommt ſolche Unruhe“ — Vor¬
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tum vom H. Bibliothekar mittheilen, das viel¬
leicht, das iſt wenigſtens meine Meinung, ſo
frappant iſt als manches andere. Die Schul¬
wohnung iſt, wie Sie gewiß noch wohl wiſſen,
dicht an der Kirche.“ Darauf gab er in einer
langen Erzählung dieſe: Einſt ſey in der tie¬
fen Mitternacht die Orgel gegangen — Er
habe an der Kirchthüre gelauſcht und Schop¬
pen deutlich einen kurzen Vers aus einem Haupt¬
lied ſingen und orgeln hören — Darauf ſey
dieſer laut vom Chore herab und auf die Kan¬
zel hinauf geſtiegen und habe eine Kaſualpre¬
digt an ſich ſelber mit den Worten angefan¬
gen: mein andächtiger Zuhörer und Freund in
Chriſto — Im Exordium hab' er das ſtille lei¬
der ſo ſchnell vergangne Glück vor dem Leben
berührt, obwohl nicht nach rechter Homiletik,
da der zweite Theil faſt den Eingang repetire
— Darauf einen Kanzelvers mit ſich geſungen
und aus Hiob, Cap. 3., wo dieſer die Freude
des Nicht-Seyns zeigt, den 26ſten Vers verle¬
ſen, der ſo lautet: „war ich nicht glückſeelig?
war ich nicht fein ſtille? hatt' ich nicht gute
Ruhe? Und kommt ſolche Unruhe“ — Vor¬
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Jean Paul: Titan. Bd. 4. Berlin, 1803, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan04_1803/287>, abgerufen am 22.05.2024.
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