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Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802.

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-- "Stiehl meine Stimme nicht," sagte Karl zor¬
nig. -- "O, lasset Sie in Ruhe", sagte die Mut¬
ter, aus deren gebückten Augen nur kleine, spar¬
same Thränen auf den Kranz der Tochter zit¬
terten, deren mattes, nach dem Himmel aufbli¬
ckendes Haupt sie an sich angelehnt mit beiden
Händen hielt.

Auf einmal, als die Sonne die Wolken wie
Augenlieder aufschlug und hell herunterblickte,
erschütterte sich die stille Gestalt; Sterbende se¬
hen doppelt, sie sah zwei Sonnenkugeln und
rief an die Mutter geschmiegt: "ach Mutter,
wie groß und feurig sind Seine Augen!" -- Sie
sah den Tod am Himmel stehen. "Bedecket
mich mit dem Leichenschleier, (flehte sie ängstlich)
-- meinen Schleier!" Ihr Bruder griff nach
ihm und deckte damit die irren Augen und die
Blumen und Locken zu; auch die Sonne zog
schonend wieder das Gewölke über sich.

"Denk' an den allmächtigen Gott!" rief
ihr der fromme Vater zu. "Ich denke an ihn"
antwortete leise die Verhüllte. Die Aurora der
zweiten Welt steht schwarz vor den Menschen,
sie bebten alle. Albano und Roquairol ergrif¬

— „Stiehl meine Stimme nicht,“ ſagte Karl zor¬
nig. — „O, laſſet Sie in Ruhe“, ſagte die Mut¬
ter, aus deren gebückten Augen nur kleine, ſpar¬
ſame Thränen auf den Kranz der Tochter zit¬
terten, deren mattes, nach dem Himmel aufbli¬
ckendes Haupt ſie an ſich angelehnt mit beiden
Händen hielt.

Auf einmal, als die Sonne die Wolken wie
Augenlieder aufſchlug und hell herunterblickte,
erſchütterte ſich die ſtille Geſtalt; Sterbende ſe¬
hen doppelt, ſie ſah zwei Sonnenkugeln und
rief an die Mutter geſchmiegt: „ach Mutter,
wie groß und feurig ſind Seine Augen!“ — Sie
ſah den Tod am Himmel ſtehen. „Bedecket
mich mit dem Leichenſchleier, (flehte ſie ängſtlich)
— meinen Schleier!“ Ihr Bruder griff nach
ihm und deckte damit die irren Augen und die
Blumen und Locken zu; auch die Sonne zog
ſchonend wieder das Gewölke über ſich.

„Denk' an den allmächtigen Gott!“ rief
ihr der fromme Vater zu. „Ich denke an ihn“
antwortete leiſe die Verhüllte. Die Aurora der
zweiten Welt ſteht ſchwarz vor den Menſchen,
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[386/0398] — „Stiehl meine Stimme nicht,“ ſagte Karl zor¬ nig. — „O, laſſet Sie in Ruhe“, ſagte die Mut¬ ter, aus deren gebückten Augen nur kleine, ſpar¬ ſame Thränen auf den Kranz der Tochter zit¬ terten, deren mattes, nach dem Himmel aufbli¬ ckendes Haupt ſie an ſich angelehnt mit beiden Händen hielt. Auf einmal, als die Sonne die Wolken wie Augenlieder aufſchlug und hell herunterblickte, erſchütterte ſich die ſtille Geſtalt; Sterbende ſe¬ hen doppelt, ſie ſah zwei Sonnenkugeln und rief an die Mutter geſchmiegt: „ach Mutter, wie groß und feurig ſind Seine Augen!“ — Sie ſah den Tod am Himmel ſtehen. „Bedecket mich mit dem Leichenſchleier, (flehte ſie ängſtlich) — meinen Schleier!“ Ihr Bruder griff nach ihm und deckte damit die irren Augen und die Blumen und Locken zu; auch die Sonne zog ſchonend wieder das Gewölke über ſich. „Denk' an den allmächtigen Gott!“ rief ihr der fromme Vater zu. „Ich denke an ihn“ antwortete leiſe die Verhüllte. Die Aurora der zweiten Welt ſteht ſchwarz vor den Menſchen, ſie bebten alle. Albano und Roquairol ergrif¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/398>, abgerufen am 22.11.2024.