lich zog ihn die Theaterversenkung des Lebens, ein bodenloser Schlummer, in die dunkle Tiefe.
Als er belastet erwachte, war er allein und ohne seine Waffe, in einem alten bestäubten gothischen Zimmer -- ein mattes Lichtlein streue¬ te nur Schatten umher -- er sah durch das Fenster -- Lilar schien es zu seyn, aber auf die ganze Landschaft war Schnee gefallen und der Himmel weiß bewölkt, und doch stachen sonder¬ bar die Sterne durch. Was ist das, steh' ich im Larventanz der Träume, fragt' er sich.
Da gieng eine Tapete auf-- eine verhangne weibliche Gestalt mit unzähligen Schleiern auf dem Angesicht trat herein -- stand ein wenig -- und flog ihm an sein Herz. "Wer ists?" frag¬ te er. Sie drückte ihn heftiger an sich und weinte durch die Schleier hindurch. "Kennst Du mich?" fragt' er. Sie nickte. "Bist Du mei¬ ne unbekannte Schwester?" fragt' er. Sie nickte und hielt ihn mit festen Schwesterarmen, mit heißen Liebesthränen, mit ungestümen Küs¬ sen an sich fest. "Rede, wo lebst Du?" Sie schüttelte, "Bist Du gestorben oder ein Traum?" -- Sie schüttelte. -- "Heißest Du Julienne?"
lich zog ihn die Theaterverſenkung des Lebens, ein bodenloſer Schlummer, in die dunkle Tiefe.
Als er belaſtet erwachte, war er allein und ohne ſeine Waffe, in einem alten beſtäubten gothiſchen Zimmer — ein mattes Lichtlein ſtreue¬ te nur Schatten umher — er ſah durch das Fenſter — Lilar ſchien es zu ſeyn, aber auf die ganze Landſchaft war Schnee gefallen und der Himmel weiß bewölkt, und doch ſtachen ſonder¬ bar die Sterne durch. Was iſt das, ſteh' ich im Larventanz der Träume, fragt' er ſich.
Da gieng eine Tapete auf— eine verhangne weibliche Geſtalt mit unzähligen Schleiern auf dem Angeſicht trat herein — ſtand ein wenig — und flog ihm an ſein Herz. „Wer iſts?“ frag¬ te er. Sie drückte ihn heftiger an ſich und weinte durch die Schleier hindurch. „Kennſt Du mich?“ fragt' er. Sie nickte. „Biſt Du mei¬ ne unbekannte Schweſter?“ fragt' er. Sie nickte und hielt ihn mit feſten Schweſterarmen, mit heißen Liebesthränen, mit ungeſtümen Küs¬ ſen an ſich feſt. „Rede, wo lebſt Du?“ Sie ſchüttelte, „Biſt Du geſtorben oder ein Traum?“ — Sie ſchüttelte. — „Heißeſt Du Julienne?“
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lich zog ihn die Theaterverſenkung des Lebens,
ein bodenloſer Schlummer, in die dunkle Tiefe.
Als er belaſtet erwachte, war er allein und
ohne ſeine Waffe, in einem alten beſtäubten
gothiſchen Zimmer — ein mattes Lichtlein ſtreue¬
te nur Schatten umher — er ſah durch das
Fenſter — Lilar ſchien es zu ſeyn, aber auf die
ganze Landſchaft war Schnee gefallen und der
Himmel weiß bewölkt, und doch ſtachen ſonder¬
bar die Sterne durch. Was iſt das, ſteh' ich
im Larventanz der Träume, fragt' er ſich.
Da gieng eine Tapete auf— eine verhangne
weibliche Geſtalt mit unzähligen Schleiern auf
dem Angeſicht trat herein — ſtand ein wenig
— und flog ihm an ſein Herz. „Wer iſts?“ frag¬
te er. Sie drückte ihn heftiger an ſich und
weinte durch die Schleier hindurch. „Kennſt
Du mich?“ fragt' er. Sie nickte. „Biſt Du mei¬
ne unbekannte Schweſter?“ fragt' er. Sie
nickte und hielt ihn mit feſten Schweſterarmen,
mit heißen Liebesthränen, mit ungeſtümen Küs¬
ſen an ſich feſt. „Rede, wo lebſt Du?“ Sie
ſchüttelte, „Biſt Du geſtorben oder ein Traum?“
— Sie ſchüttelte. — „Heißeſt Du Julienne?“
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Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/373>, abgerufen am 25.11.2024.
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