Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802.

Bild:
<< vorherige Seite

flüssig werden, nämlich seine Augen, und also
vorher sein eignes und foderte dann der ent¬
zückten, im schönsten Himmel umhergeschleuder¬
ten Seele nichts Geringeres ab als -- da sie
vor dem zugeworfnen Schnupftuch verstummte
wie der Kanarienvogel unter dem übergeworf¬
nen -- ein schwaches Singen. Rabette konnte
nicht singen, sie sagte es, sie weigerte sich, sie
sang endlich; aber sie dachte unter dem leeren
Singen an Nichts weiter als an ihn und sein
wildes, nasses Gesicht.

Das schlimmste Kapitel unter allen, die er
in seinen Roman brachte, ist wohl das sechste,
das er in der Illuminazionsnacht in Lilar nie¬
derschrieb. Anfangs hatt' er die stumme, glanz¬
lose Zuschauerin einsam stehen lassen, indem er
hinter dem Venuswagen voll fremder Göttinnen
nachlief und aufsprang. Allmählig kroch Eine
Freude nach der andern herzu und gab ihm den
Tarantelbiß, dem ein krankes Toben folgte.
Da Mäßigkeit eine wahre stärkende Arzenei
des Lebens ist: so nahm er zu dieser kräftigen
Arzenei, um sie nicht in immer stärkern Dosen
brauchen zu müssen, ungemein selten die Zu¬

flüſſig werden, nämlich ſeine Augen, und alſo
vorher ſein eignes und foderte dann der ent¬
zückten, im ſchönſten Himmel umhergeſchleuder¬
ten Seele nichts Geringeres ab als — da ſie
vor dem zugeworfnen Schnupftuch verſtummte
wie der Kanarienvogel unter dem übergeworf¬
nen — ein ſchwaches Singen. Rabette konnte
nicht ſingen, ſie ſagte es, ſie weigerte ſich, ſie
ſang endlich; aber ſie dachte unter dem leeren
Singen an Nichts weiter als an ihn und ſein
wildes, naſſes Geſicht.

Das ſchlimmſte Kapitel unter allen, die er
in ſeinen Roman brachte, iſt wohl das ſechste,
das er in der Illuminazionsnacht in Lilar nie¬
derſchrieb. Anfangs hatt' er die ſtumme, glanz¬
loſe Zuſchauerin einſam ſtehen laſſen, indem er
hinter dem Venuswagen voll fremder Göttinnen
nachlief und aufſprang. Allmählig kroch Eine
Freude nach der andern herzu und gab ihm den
Tarantelbiß, dem ein krankes Toben folgte.
Da Mäßigkeit eine wahre ſtärkende Arzenei
des Lebens iſt: ſo nahm er zu dieſer kräftigen
Arzenei, um ſie nicht in immer ſtärkern Doſen
brauchen zu müſſen, ungemein ſelten die Zu¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0283" n="271"/>
flü&#x017F;&#x017F;ig werden, nämlich &#x017F;eine Augen, und al&#x017F;o<lb/>
vorher &#x017F;ein eignes und foderte dann der ent¬<lb/>
zückten, im &#x017F;chön&#x017F;ten Himmel umherge&#x017F;chleuder¬<lb/>
ten Seele nichts Geringeres ab als &#x2014; da &#x017F;ie<lb/>
vor dem zugeworfnen Schnupftuch ver&#x017F;tummte<lb/>
wie der Kanarienvogel unter dem übergeworf¬<lb/>
nen &#x2014; ein &#x017F;chwaches Singen. Rabette konnte<lb/>
nicht &#x017F;ingen, &#x017F;ie &#x017F;agte es, &#x017F;ie weigerte &#x017F;ich, &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ang endlich; aber &#x017F;ie dachte unter dem leeren<lb/>
Singen an Nichts weiter als an ihn und &#x017F;ein<lb/>
wildes, na&#x017F;&#x017F;es Ge&#x017F;icht.</p><lb/>
          <p>Das &#x017F;chlimm&#x017F;te Kapitel unter allen, die er<lb/>
in &#x017F;einen Roman brachte, i&#x017F;t wohl das &#x017F;echste,<lb/>
das er in der Illuminazionsnacht in Lilar nie¬<lb/>
der&#x017F;chrieb. Anfangs hatt' er die &#x017F;tumme, glanz¬<lb/>
lo&#x017F;e Zu&#x017F;chauerin ein&#x017F;am &#x017F;tehen la&#x017F;&#x017F;en, indem er<lb/>
hinter dem Venuswagen voll fremder Göttinnen<lb/>
nachlief und auf&#x017F;prang. Allmählig kroch Eine<lb/>
Freude nach der andern herzu und gab ihm den<lb/>
Tarantelbiß, dem ein krankes Toben folgte.<lb/>
Da Mäßigkeit eine wahre &#x017F;tärkende Arzenei<lb/>
des Lebens i&#x017F;t: &#x017F;o nahm er zu die&#x017F;er kräftigen<lb/>
Arzenei, um &#x017F;ie nicht in immer &#x017F;tärkern Do&#x017F;en<lb/>
brauchen zu mü&#x017F;&#x017F;en, ungemein &#x017F;elten die Zu¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[271/0283] flüſſig werden, nämlich ſeine Augen, und alſo vorher ſein eignes und foderte dann der ent¬ zückten, im ſchönſten Himmel umhergeſchleuder¬ ten Seele nichts Geringeres ab als — da ſie vor dem zugeworfnen Schnupftuch verſtummte wie der Kanarienvogel unter dem übergeworf¬ nen — ein ſchwaches Singen. Rabette konnte nicht ſingen, ſie ſagte es, ſie weigerte ſich, ſie ſang endlich; aber ſie dachte unter dem leeren Singen an Nichts weiter als an ihn und ſein wildes, naſſes Geſicht. Das ſchlimmſte Kapitel unter allen, die er in ſeinen Roman brachte, iſt wohl das ſechste, das er in der Illuminazionsnacht in Lilar nie¬ derſchrieb. Anfangs hatt' er die ſtumme, glanz¬ loſe Zuſchauerin einſam ſtehen laſſen, indem er hinter dem Venuswagen voll fremder Göttinnen nachlief und aufſprang. Allmählig kroch Eine Freude nach der andern herzu und gab ihm den Tarantelbiß, dem ein krankes Toben folgte. Da Mäßigkeit eine wahre ſtärkende Arzenei des Lebens iſt: ſo nahm er zu dieſer kräftigen Arzenei, um ſie nicht in immer ſtärkern Doſen brauchen zu müſſen, ungemein ſelten die Zu¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/283
Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 3. Berlin, 1802, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan03_1802/283>, abgerufen am 24.11.2024.