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Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801.

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"ich schäme mich wohl recht." -- "O Du lie¬
"bes Herz, (rief Liane freudig ihr um den Hals
"fallend) schäme Dich nicht und blick' in mein
"Auge -- Schwester, komme zu mir, so oft
"Du bekümmert bist, ich will gern mit Deiner
"Seele weinen und will Dein Auge noch eher
"abtrocknen als meines." -- Ein überwältigen¬
der Zauber war in diesen Liebestönen, in die¬
sen Liebesblicken, weil Liane wähnte, sie trauere
über irgend einen verfinsterten Stern des Le¬
bens. -- Und nie hat die furchtsame Dankbar¬
keit ein verehrtes Herz frischer und jugendlicher
umarmet als Rabette Lianen.

Da kam Albano. Vom Austönen des Wie¬
genliedes erwachend war er ihr nachgeeilt, ohne
alle kalte und andere Tropfen von seinen feuri¬
gen Wangen zu wischen; "wie ist Dir, Schwe¬
"ster?" fragt' er eilig. Liane, noch in der Umar¬
mung und Begeisterung schwebend, antwortete
schnell: "Sie haben eine gute Schwester, ich
"will sie lieben wie ihr Bruder." Die süßen
Worte, die so innig gerührten Seelen, der feu¬
rige Sturm seines Wesens rissen ihn dahin und
er umschloß die Umarmenden und drückte die

„ich ſchäme mich wohl recht.“ — „O Du lie¬
„bes Herz, (rief Liane freudig ihr um den Hals
„fallend) ſchäme Dich nicht und blick’ in mein
„Auge — Schweſter, komme zu mir, ſo oft
„Du bekümmert biſt, ich will gern mit Deiner
„Seele weinen und will Dein Auge noch eher
„abtrocknen als meines.“ — Ein überwältigen¬
der Zauber war in dieſen Liebestönen, in die¬
ſen Liebesblicken, weil Liane wähnte, ſie trauere
über irgend einen verfinſterten Stern des Le¬
bens. — Und nie hat die furchtſame Dankbar¬
keit ein verehrtes Herz friſcher und jugendlicher
umarmet als Rabette Lianen.

Da kam Albano. Vom Austönen des Wie¬
genliedes erwachend war er ihr nachgeeilt, ohne
alle kalte und andere Tropfen von ſeinen feuri¬
gen Wangen zu wiſchen; „wie iſt Dir, Schwe¬
„ſter?“ fragt’ er eilig. Liane, noch in der Umar¬
mung und Begeiſterung ſchwebend, antwortete
ſchnell: „Sie haben eine gute Schweſter, ich
„will ſie lieben wie ihr Bruder.“ Die ſüßen
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[108/0116] „ich ſchäme mich wohl recht.“ — „O Du lie¬ „bes Herz, (rief Liane freudig ihr um den Hals „fallend) ſchäme Dich nicht und blick’ in mein „Auge — Schweſter, komme zu mir, ſo oft „Du bekümmert biſt, ich will gern mit Deiner „Seele weinen und will Dein Auge noch eher „abtrocknen als meines.“ — Ein überwältigen¬ der Zauber war in dieſen Liebestönen, in die¬ ſen Liebesblicken, weil Liane wähnte, ſie trauere über irgend einen verfinſterten Stern des Le¬ bens. — Und nie hat die furchtſame Dankbar¬ keit ein verehrtes Herz friſcher und jugendlicher umarmet als Rabette Lianen. Da kam Albano. Vom Austönen des Wie¬ genliedes erwachend war er ihr nachgeeilt, ohne alle kalte und andere Tropfen von ſeinen feuri¬ gen Wangen zu wiſchen; „wie iſt Dir, Schwe¬ „ſter?“ fragt’ er eilig. Liane, noch in der Umar¬ mung und Begeiſterung ſchwebend, antwortete ſchnell: „Sie haben eine gute Schweſter, ich „will ſie lieben wie ihr Bruder.“ Die ſüßen Worte, die ſo innig gerührten Seelen, der feu¬ rige Sturm ſeines Weſens riſſen ihn dahin und er umſchloß die Umarmenden und drückte die

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 2. Berlin, 1801, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan02_1801/116>, abgerufen am 06.05.2024.