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Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

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Er ritzte sich, aber zufällig zu tief; und mit
einem schönen kühlen Heben seines leichter ath¬
menden Wesens sah er der rothen Quelle seines
Armes in der Abendsonne zu, und wurde wie
nach abgefallnen Bürden leichter -- nüchtern --
still -- und weich. Er dachte an die verschwund¬
ne Mutter, deren Liebe nun ewig unvergolten
blieb -- ach er hätte dieses Blut gern für sie
vergossen -- und nun quoll heißer als je in
seiner Brust die Liebe für den kränklichen Va¬
ter auf: o komme bald, sagte sein Herz, ich
will dich so unaussprechlich lieben, du lieber
Vater!

Die Sonne erkaltete an der feuchten Erde
-- nur noch die zackige Mauerkrone aus den
Goldstufen der Gletscherspitzen glühte über aus¬
gelöschten Wolken -- und die Zauberlaterne
der Natur warf ihre Bilder nur noch gezogner
und matter: da gieng eine lange Gestalt in
einem offnen rothen Mantel langsam um die
Zedratobäume auf ihn zu, rieb mit der Rech¬
ten an der Stelle des Herzens, woran kleine
Funken verglommen, und zerdrückte mit der
halb erhobnen Linken eine Wachslarve zum

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Er ritzte ſich, aber zufällig zu tief; und mit
einem ſchönen kühlen Heben ſeines leichter ath¬
menden Weſens ſah er der rothen Quelle ſeines
Armes in der Abendſonne zu, und wurde wie
nach abgefallnen Bürden leichter — nüchtern —
ſtill — und weich. Er dachte an die verſchwund¬
ne Mutter, deren Liebe nun ewig unvergolten
blieb — ach er hätte dieſes Blut gern für ſie
vergoſſen — und nun quoll heißer als je in
ſeiner Bruſt die Liebe für den kränklichen Va¬
ter auf: o komme bald, ſagte ſein Herz, ich
will dich ſo unausſprechlich lieben, du lieber
Vater!

Die Sonne erkaltete an der feuchten Erde
— nur noch die zackige Mauerkrone aus den
Goldſtufen der Gletſcherſpitzen glühte über aus¬
gelöſchten Wolken — und die Zauberlaterne
der Natur warf ihre Bilder nur noch gezogner
und matter: da gieng eine lange Geſtalt in
einem offnen rothen Mantel langſam um die
Zedratobäume auf ihn zu, rieb mit der Rech¬
ten an der Stelle des Herzens, woran kleine
Funken verglommen, und zerdrückte mit der
halb erhobnen Linken eine Wachslarve zum

D 2
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[51/0071] Er ritzte ſich, aber zufällig zu tief; und mit einem ſchönen kühlen Heben ſeines leichter ath¬ menden Weſens ſah er der rothen Quelle ſeines Armes in der Abendſonne zu, und wurde wie nach abgefallnen Bürden leichter — nüchtern — ſtill — und weich. Er dachte an die verſchwund¬ ne Mutter, deren Liebe nun ewig unvergolten blieb — ach er hätte dieſes Blut gern für ſie vergoſſen — und nun quoll heißer als je in ſeiner Bruſt die Liebe für den kränklichen Va¬ ter auf: o komme bald, ſagte ſein Herz, ich will dich ſo unausſprechlich lieben, du lieber Vater! Die Sonne erkaltete an der feuchten Erde — nur noch die zackige Mauerkrone aus den Goldſtufen der Gletſcherſpitzen glühte über aus¬ gelöſchten Wolken — und die Zauberlaterne der Natur warf ihre Bilder nur noch gezogner und matter: da gieng eine lange Geſtalt in einem offnen rothen Mantel langſam um die Zedratobäume auf ihn zu, rieb mit der Rech¬ ten an der Stelle des Herzens, woran kleine Funken verglommen, und zerdrückte mit der halb erhobnen Linken eine Wachslarve zum D 2

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/71>, abgerufen am 22.11.2024.