Wir wollen nicht zu lange auf diese späte Zeit des Lebens blicken, wo sich die Menschen wie¬ der als Kinder für die längere Wiege des Grabes verkürzen; und wo sie gleich den Abends schla¬ fenden Blumen unkenntlich sind und einan¬ der früher als im Tode gleich werden.
Besonders dem Lektor war wie allen Hof¬ leuten schlecht mit diesen Funeralien gedient; auch wollt' er gern die Hiobskrankheit ihres Klagens durch Versetzung heilen und führte sie näher zu Lianen. Aber eben, indem sie den Antheil und die Opfer dieser Freundinn beschrieb und indem ihr wieder die lange weinende Um¬ armung erschien, worin Liane sie und den Schmerz gleichsam fest an sich geschlossen hatte, so kehrte jeder dunkle schwere Blutstropfe den die kräftigen Pulsadern fortgetrieben hatten, wieder in das Herz zurück und sie hörte auf, zu malen, sowohl diese Geschichte als den Kopf.
Die beiden Freundinnen waren keine solche, die sich den Kuß durch zwei Flöre hinauslan¬ gen, oder die einander abzuherzen wissen, ohne die kleinste Quetschwunde der Frisur, oder de¬ ren Liebesmahl sich jedes Jahr, wie das Abend¬
Wir wollen nicht zu lange auf dieſe ſpäte Zeit des Lebens blicken, wo ſich die Menſchen wie¬ der als Kinder für die längere Wiege des Grabes verkürzen; und wo ſie gleich den Abends ſchla¬ fenden Blumen unkenntlich ſind und einan¬ der früher als im Tode gleich werden.
Beſonders dem Lektor war wie allen Hof¬ leuten ſchlecht mit dieſen Funeralien gedient; auch wollt' er gern die Hiobskrankheit ihres Klagens durch Verſetzung heilen und führte ſie näher zu Lianen. Aber eben, indem ſie den Antheil und die Opfer dieſer Freundinn beſchrieb und indem ihr wieder die lange weinende Um¬ armung erſchien, worin Liane ſie und den Schmerz gleichſam feſt an ſich geſchloſſen hatte, ſo kehrte jeder dunkle ſchwere Blutstropfe den die kräftigen Pulsadern fortgetrieben hatten, wieder in das Herz zurück und ſie hörte auf, zu malen, ſowohl dieſe Geſchichte als den Kopf.
Die beiden Freundinnen waren keine ſolche, die ſich den Kuß durch zwei Flöre hinauslan¬ gen, oder die einander abzuherzen wiſſen, ohne die kleinſte Quetſchwunde der Friſur, oder de¬ ren Liebesmahl ſich jedes Jahr, wie das Abend¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0310"n="290"/><p>Wir wollen nicht zu lange auf dieſe ſpäte<lb/>
Zeit des Lebens blicken, wo ſich die Menſchen wie¬<lb/>
der als Kinder für die längere Wiege des Grabes<lb/>
verkürzen; und wo ſie gleich den Abends ſchla¬<lb/>
fenden Blumen <hirendition="#g">unkenntlich</hi>ſind und einan¬<lb/>
der früher als im Tode gleich werden.</p><lb/><p>Beſonders dem Lektor war wie allen Hof¬<lb/>
leuten ſchlecht mit dieſen Funeralien gedient;<lb/>
auch wollt' er gern die Hiobskrankheit ihres<lb/>
Klagens durch Verſetzung heilen und führte ſie<lb/>
näher zu Lianen. Aber eben, indem ſie den<lb/>
Antheil und die Opfer dieſer Freundinn beſchrieb<lb/>
und indem ihr wieder die lange weinende Um¬<lb/>
armung erſchien, worin Liane ſie und den<lb/>
Schmerz gleichſam feſt an ſich geſchloſſen hatte,<lb/>ſo kehrte jeder dunkle ſchwere Blutstropfe den<lb/>
die kräftigen Pulsadern fortgetrieben hatten,<lb/>
wieder in das Herz zurück und ſie hörte auf,<lb/>
zu malen, ſowohl dieſe Geſchichte als den Kopf.</p><lb/><p>Die beiden Freundinnen waren keine ſolche,<lb/>
die ſich den Kuß durch zwei Flöre hinauslan¬<lb/>
gen, oder die einander abzuherzen wiſſen, ohne<lb/>
die kleinſte Quetſchwunde der Friſur, oder de¬<lb/>
ren Liebesmahl ſich jedes Jahr, wie das Abend¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[290/0310]
Wir wollen nicht zu lange auf dieſe ſpäte
Zeit des Lebens blicken, wo ſich die Menſchen wie¬
der als Kinder für die längere Wiege des Grabes
verkürzen; und wo ſie gleich den Abends ſchla¬
fenden Blumen unkenntlich ſind und einan¬
der früher als im Tode gleich werden.
Beſonders dem Lektor war wie allen Hof¬
leuten ſchlecht mit dieſen Funeralien gedient;
auch wollt' er gern die Hiobskrankheit ihres
Klagens durch Verſetzung heilen und führte ſie
näher zu Lianen. Aber eben, indem ſie den
Antheil und die Opfer dieſer Freundinn beſchrieb
und indem ihr wieder die lange weinende Um¬
armung erſchien, worin Liane ſie und den
Schmerz gleichſam feſt an ſich geſchloſſen hatte,
ſo kehrte jeder dunkle ſchwere Blutstropfe den
die kräftigen Pulsadern fortgetrieben hatten,
wieder in das Herz zurück und ſie hörte auf,
zu malen, ſowohl dieſe Geſchichte als den Kopf.
Die beiden Freundinnen waren keine ſolche,
die ſich den Kuß durch zwei Flöre hinauslan¬
gen, oder die einander abzuherzen wiſſen, ohne
die kleinſte Quetſchwunde der Friſur, oder de¬
ren Liebesmahl ſich jedes Jahr, wie das Abend¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/310>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.