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Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800.

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Kirche und ihre Kirchstühle zu haben. -- Die
rüstige Soldatenfrau legte in einem hochstau¬
digen Gärtlein Früherbsen, und warf zuweilen
einen Erdenkloß in den Kirschbaum unter die
geflügelten Obstdiebe, und begoß wieder un¬
verdrossen die neue Leinwand und den ver¬
pflanzten Sallat, und lief doch willig zum klei¬
nen zehnjährigen Mädchen, das von Blattern
erblindet, auf der Thürschwelle strickte, und
nur bei gefallnen Maschen sie als Maschinen¬
göttinn berief. Albano stellte sich an den äus¬
sersten Balkon des sich lieblich-aufschließenden
Thals, und jeder Windstoß bließ in seinem
Herzen die alte kindische Sehnsucht an, daß er
möchte fliegen können. Ach, welche Wonne, so
sich aufzureißen von dem zurückziehenden Er¬
denfußblock, und sich frei und getragen in den
weiten Aether zu werfen -- und so im kühlen
durchwehenden Luftbade auf und nieder plät¬
schernd, mitten am Tage in die dämmernde
Wolke zu fliegen und ungesehen neben der
Lerche, die unter ihr schmettert, zu schweben --
oder dem Adler nachzurauschen, und im Flie¬
gen Städte nur wie figurirte Stufensammlun¬

Kirche und ihre Kirchſtühle zu haben. — Die
rüſtige Soldatenfrau legte in einem hochſtau¬
digen Gärtlein Früherbſen, und warf zuweilen
einen Erdenkloß in den Kirſchbaum unter die
geflügelten Obſtdiebe, und begoß wieder un¬
verdroſſen die neue Leinwand und den ver¬
pflanzten Sallat, und lief doch willig zum klei¬
nen zehnjährigen Mädchen, das von Blattern
erblindet, auf der Thürſchwelle ſtrickte, und
nur bei gefallnen Maſchen ſie als Maſchinen¬
göttinn berief. Albano ſtellte ſich an den äus¬
ſerſten Balkon des ſich lieblich-aufſchließenden
Thals, und jeder Windſtoß bließ in ſeinem
Herzen die alte kindiſche Sehnſucht an, daß er
möchte fliegen können. Ach, welche Wonne, ſo
ſich aufzureißen von dem zurückziehenden Er¬
denfußblock, und ſich frei und getragen in den
weiten Aether zu werfen — und ſo im kühlen
durchwehenden Luftbade auf und nieder plät¬
ſchernd, mitten am Tage in die dämmernde
Wolke zu fliegen und ungeſehen neben der
Lerche, die unter ihr ſchmettert, zu ſchweben —
oder dem Adler nachzurauſchen, und im Flie¬
gen Städte nur wie figurirte Stufenſammlun¬

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[135/0155] Kirche und ihre Kirchſtühle zu haben. — Die rüſtige Soldatenfrau legte in einem hochſtau¬ digen Gärtlein Früherbſen, und warf zuweilen einen Erdenkloß in den Kirſchbaum unter die geflügelten Obſtdiebe, und begoß wieder un¬ verdroſſen die neue Leinwand und den ver¬ pflanzten Sallat, und lief doch willig zum klei¬ nen zehnjährigen Mädchen, das von Blattern erblindet, auf der Thürſchwelle ſtrickte, und nur bei gefallnen Maſchen ſie als Maſchinen¬ göttinn berief. Albano ſtellte ſich an den äus¬ ſerſten Balkon des ſich lieblich-aufſchließenden Thals, und jeder Windſtoß bließ in ſeinem Herzen die alte kindiſche Sehnſucht an, daß er möchte fliegen können. Ach, welche Wonne, ſo ſich aufzureißen von dem zurückziehenden Er¬ denfußblock, und ſich frei und getragen in den weiten Aether zu werfen — und ſo im kühlen durchwehenden Luftbade auf und nieder plät¬ ſchernd, mitten am Tage in die dämmernde Wolke zu fliegen und ungeſehen neben der Lerche, die unter ihr ſchmettert, zu ſchweben — oder dem Adler nachzurauſchen, und im Flie¬ gen Städte nur wie figurirte Stufenſammlun¬

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Zitationshilfe: Jean Paul: Titan. Bd. 1. Berlin, 1800, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_titan01_1800/155>, abgerufen am 23.11.2024.