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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

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ein Betthimmel sich herüberkrümmte -- der ganze
Junius zog sich mit seinen langen Tagen und lan¬
gen Gräsern um ihn herum, wenn er seine Ein¬
bildung den Junius-Landschafts Holzschnitt aus¬
brüten ließ auf dem kleine Kreuzgen, die nichts
als Vögel seyn sollten, durch das graue Druckpa¬
pier flogen und auf dem der Holzschneider das fet¬
te Laubwerk zu Blätterskeletten mazerierte. Allein
wer Phantasie hat, macht sich aus jedem Fetzen
eine wunderthätige Reliquie, aus jedem Eselskinn¬
backen eine Quelle; die fünf Sinne reichen ihr nur
die Kartons, nur die Grundstriche des Vergnü¬
gens oder Mißvergnügens.

Den Mai überblätterte der Patient, weil der
ohnehin um das Haus draußen stand. Die Kirsch¬
blüthen, womit der Wonnemond sein grünes Haar
besteckt, die Maiblümgen, die als Vorsteckrosen
über seinem Busen duften, beroch er nicht -- der
Geruch war weg, -- aber er besah sie und hatte
einige in einer Schüssel neben seinem Krankenbette.

Ich habe meine Absicht klug erreicht, mich und
meine Zuhörer fünf oder sechs Seiten von der tran¬
rigen Minute wegzuführen, in der vor unser al¬
ler Augen der Tod vor das Bett unsers kranken

ein Betthimmel ſich heruͤberkruͤmmte — der ganze
Junius zog ſich mit ſeinen langen Tagen und lan¬
gen Graͤſern um ihn herum, wenn er ſeine Ein¬
bildung den Junius-Landſchafts Holzſchnitt aus¬
bruͤten ließ auf dem kleine Kreuzgen, die nichts
als Voͤgel ſeyn ſollten, durch das graue Druckpa¬
pier flogen und auf dem der Holzſchneider das fet¬
te Laubwerk zu Blaͤtterſkeletten mazerierte. Allein
wer Phantaſie hat, macht ſich aus jedem Fetzen
eine wunderthaͤtige Reliquie, aus jedem Eſelskinn¬
backen eine Quelle; die fuͤnf Sinne reichen ihr nur
die Kartons, nur die Grundſtriche des Vergnuͤ¬
gens oder Mißvergnuͤgens.

Den Mai uͤberblaͤtterte der Patient, weil der
ohnehin um das Haus draußen ſtand. Die Kirſch¬
bluͤthen, womit der Wonnemond ſein gruͤnes Haar
beſteckt, die Maibluͤmgen, die als Vorſteckroſen
uͤber ſeinem Buſen duften, beroch er nicht — der
Geruch war weg, — aber er beſah ſie und hatte
einige in einer Schuͤſſel neben ſeinem Krankenbette.

Ich habe meine Abſicht klug erreicht, mich und
meine Zuhoͤrer fuͤnf oder ſechs Seiten von der tran¬
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ler Augen der Tod vor das Bett unſers kranken

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[439/0449] ein Betthimmel ſich heruͤberkruͤmmte — der ganze Junius zog ſich mit ſeinen langen Tagen und lan¬ gen Graͤſern um ihn herum, wenn er ſeine Ein¬ bildung den Junius-Landſchafts Holzſchnitt aus¬ bruͤten ließ auf dem kleine Kreuzgen, die nichts als Voͤgel ſeyn ſollten, durch das graue Druckpa¬ pier flogen und auf dem der Holzſchneider das fet¬ te Laubwerk zu Blaͤtterſkeletten mazerierte. Allein wer Phantaſie hat, macht ſich aus jedem Fetzen eine wunderthaͤtige Reliquie, aus jedem Eſelskinn¬ backen eine Quelle; die fuͤnf Sinne reichen ihr nur die Kartons, nur die Grundſtriche des Vergnuͤ¬ gens oder Mißvergnuͤgens. Den Mai uͤberblaͤtterte der Patient, weil der ohnehin um das Haus draußen ſtand. Die Kirſch¬ bluͤthen, womit der Wonnemond ſein gruͤnes Haar beſteckt, die Maibluͤmgen, die als Vorſteckroſen uͤber ſeinem Buſen duften, beroch er nicht — der Geruch war weg, — aber er beſah ſie und hatte einige in einer Schuͤſſel neben ſeinem Krankenbette. Ich habe meine Abſicht klug erreicht, mich und meine Zuhoͤrer fuͤnf oder ſechs Seiten von der tran¬ rigen Minute wegzufuͤhren, in der vor unſer al¬ ler Augen der Tod vor das Bett unſers kranken

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/449>, abgerufen am 22.11.2024.