Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793.

Bild:
<< vorherige Seite

rädert, sondern auf blinkenden Wellen uns wiegt
und unter hineingebognen Blumen vorüberträgt --
ein Tag, zu dem wir den Bruder vergeblich un¬
ter den verlebten suchen und von dem wir am En¬
de jedes andern klagen, seit ihm war keiner wie¬
der so.

Es wird uns allen wolthun, wenn ich diese
acht Wonne-Wochen oder zwei Wonne-Monate
weitläuftig beschreibe. Sie bestanden aus lauter
ähnlichen Tagen. Keine einzige Wolke zog hinter
den Häusern herauf. Die ganze Nacht stand die
rückende Abendröthe unten am Himmel, an wel¬
chem die untergehende Sonne allemal wie eine Ro¬
se glühend abgeblühet hatte. Um 1 Uhr schlugen
schon die Lerchen und die Natur spielte und phan¬
tasierte die ganze Nacht auf der Nachtigallen-Har¬
monika. In seine Träume tönten die äußern Me¬
lodien hinein und in ihnen flog er über Blüthen-
Bäume, denen die wahren vor seinem ofnen Fen¬
ster ihren Blumen-Athem liehen. Der tagende
Traum rückte ihn sanft wie die lispelnde Mutter
das Kind, aus dem Schlaf ins Erwachen über und
er trat mit säugender Brust in den Lärm der Na¬
tur hinaus, wo die Sonne die Erde von neuem

raͤdert, ſondern auf blinkenden Wellen uns wiegt
und unter hineingebognen Blumen voruͤbertraͤgt —
ein Tag, zu dem wir den Bruder vergeblich un¬
ter den verlebten ſuchen und von dem wir am En¬
de jedes andern klagen, ſeit ihm war keiner wie¬
der ſo.

Es wird uns allen wolthun, wenn ich dieſe
acht Wonne-Wochen oder zwei Wonne-Monate
weitlaͤuftig beſchreibe. Sie beſtanden aus lauter
aͤhnlichen Tagen. Keine einzige Wolke zog hinter
den Haͤuſern herauf. Die ganze Nacht ſtand die
ruͤckende Abendroͤthe unten am Himmel, an wel¬
chem die untergehende Sonne allemal wie eine Ro¬
ſe gluͤhend abgebluͤhet hatte. Um 1 Uhr ſchlugen
ſchon die Lerchen und die Natur ſpielte und phan¬
taſierte die ganze Nacht auf der Nachtigallen-Har¬
monika. In ſeine Traͤume toͤnten die aͤußern Me¬
lodien hinein und in ihnen flog er uͤber Bluͤthen-
Baͤume, denen die wahren vor ſeinem ofnen Fen¬
ſter ihren Blumen-Athem liehen. Der tagende
Traum ruͤckte ihn ſanft wie die liſpelnde Mutter
das Kind, aus dem Schlaf ins Erwachen uͤber und
er trat mit ſaͤugender Bruſt in den Laͤrm der Na¬
tur hinaus, wo die Sonne die Erde von neuem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0414" n="404"/>
ra&#x0364;dert, &#x017F;ondern auf blinkenden Wellen uns wiegt<lb/>
und unter hineingebognen Blumen voru&#x0364;bertra&#x0364;gt &#x2014;<lb/>
ein Tag, zu dem wir den Bruder vergeblich un¬<lb/>
ter den verlebten &#x017F;uchen und von dem wir am En¬<lb/>
de jedes andern klagen, &#x017F;eit ihm war keiner wie¬<lb/>
der &#x017F;o.</p><lb/>
          <p>Es wird uns allen wolthun, wenn ich die&#x017F;e<lb/>
acht Wonne-Wochen oder zwei Wonne-Monate<lb/>
weitla&#x0364;uftig be&#x017F;chreibe. Sie be&#x017F;tanden aus lauter<lb/>
a&#x0364;hnlichen Tagen. Keine einzige Wolke zog hinter<lb/>
den Ha&#x0364;u&#x017F;ern herauf. Die ganze Nacht &#x017F;tand die<lb/>
ru&#x0364;ckende Abendro&#x0364;the unten am Himmel, an wel¬<lb/>
chem die untergehende Sonne allemal wie eine Ro¬<lb/>
&#x017F;e glu&#x0364;hend abgeblu&#x0364;het hatte. Um 1 Uhr &#x017F;chlugen<lb/>
&#x017F;chon die Lerchen und die Natur &#x017F;pielte und phan¬<lb/>
ta&#x017F;ierte die ganze Nacht auf der Nachtigallen-Har¬<lb/>
monika. In &#x017F;eine Tra&#x0364;ume to&#x0364;nten die a&#x0364;ußern Me¬<lb/>
lodien hinein und in ihnen flog er u&#x0364;ber Blu&#x0364;then-<lb/>
Ba&#x0364;ume, denen die wahren vor &#x017F;einem ofnen Fen¬<lb/>
&#x017F;ter ihren Blumen-Athem liehen. Der <hi rendition="#g">tagende</hi><lb/>
Traum ru&#x0364;ckte ihn &#x017F;anft wie die li&#x017F;pelnde Mutter<lb/>
das Kind, aus dem Schlaf ins Erwachen u&#x0364;ber und<lb/>
er trat mit &#x017F;a&#x0364;ugender Bru&#x017F;t in den La&#x0364;rm der Na¬<lb/>
tur hinaus, wo die Sonne die Erde von neuem<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[404/0414] raͤdert, ſondern auf blinkenden Wellen uns wiegt und unter hineingebognen Blumen voruͤbertraͤgt — ein Tag, zu dem wir den Bruder vergeblich un¬ ter den verlebten ſuchen und von dem wir am En¬ de jedes andern klagen, ſeit ihm war keiner wie¬ der ſo. Es wird uns allen wolthun, wenn ich dieſe acht Wonne-Wochen oder zwei Wonne-Monate weitlaͤuftig beſchreibe. Sie beſtanden aus lauter aͤhnlichen Tagen. Keine einzige Wolke zog hinter den Haͤuſern herauf. Die ganze Nacht ſtand die ruͤckende Abendroͤthe unten am Himmel, an wel¬ chem die untergehende Sonne allemal wie eine Ro¬ ſe gluͤhend abgebluͤhet hatte. Um 1 Uhr ſchlugen ſchon die Lerchen und die Natur ſpielte und phan¬ taſierte die ganze Nacht auf der Nachtigallen-Har¬ monika. In ſeine Traͤume toͤnten die aͤußern Me¬ lodien hinein und in ihnen flog er uͤber Bluͤthen- Baͤume, denen die wahren vor ſeinem ofnen Fen¬ ſter ihren Blumen-Athem liehen. Der tagende Traum ruͤckte ihn ſanft wie die liſpelnde Mutter das Kind, aus dem Schlaf ins Erwachen uͤber und er trat mit ſaͤugender Bruſt in den Laͤrm der Na¬ tur hinaus, wo die Sonne die Erde von neuem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/414
Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/414>, abgerufen am 25.11.2024.