Die Nachtwandlerin fuhr zusammen, da sie den schönen Schläfer sah: sie hatte im ganzen Gar¬ ten, den sie in diesen stillen Minuten durchstrichen hatte, niemand vermuthet und gefunden. Er lag auf einem Knie sanft zusammen gesunken; sein blas¬ ses Gesicht wurde von einem schönen Traum, vom aufgehenden Monde und von Beatens Auge ange¬ strahlt. Ihr fiel nicht ein, daß er sich vielleicht nur schlafend stelle; sie zitterte also um einen halben Schritt näher, um erstlich gewiß zu seyn wers wäre und um zweitens mit vollem Auge auf der Gestallt zu ruhen, vor der sie bisher nur vorüberstreichen durfte. Unter dem Anschauen wuste sie nicht recht, wenn sie es eigentlich endigen sollte. Endlich wandte sie ihrem Paradiese dem Rücken, nachdem sie noch einmal ganz an ihn getreten war; aber unter dem trägen Rückwärtsgehen fiel ihr (ohne Schrecken) ein, "er wird doch nicht gar tod seyn." Sie kehrte also wieder um und behorchte seine wachsenden Athemzüge. Neben ihm lagen zwei spitze Steingen so groß wie mein Dintenfaß; sie bückte sich zwei¬ mal neben ihm nieder (sie wollt' es nicht auf ein¬ mal oder auch mit dem Fuße thun) um sie wegzu¬ nehmen, damit er nicht in ihre Spitzen hineinfiele. . .
Die Nachtwandlerin fuhr zuſammen, da ſie den ſchoͤnen Schlaͤfer ſah: ſie hatte im ganzen Gar¬ ten, den ſie in dieſen ſtillen Minuten durchſtrichen hatte, niemand vermuthet und gefunden. Er lag auf einem Knie ſanft zuſammen geſunken; ſein blaſ¬ ſes Geſicht wurde von einem ſchoͤnen Traum, vom aufgehenden Monde und von Beatens Auge ange¬ ſtrahlt. Ihr fiel nicht ein, daß er ſich vielleicht nur ſchlafend ſtelle; ſie zitterte alſo um einen halben Schritt naͤher, um erſtlich gewiß zu ſeyn wers waͤre und um zweitens mit vollem Auge auf der Geſtallt zu ruhen, vor der ſie bisher nur voruͤberſtreichen durfte. Unter dem Anſchauen wuſte ſie nicht recht, wenn ſie es eigentlich endigen ſollte. Endlich wandte ſie ihrem Paradieſe dem Ruͤcken, nachdem ſie noch einmal ganz an ihn getreten war; aber unter dem traͤgen Ruͤckwaͤrtsgehen fiel ihr (ohne Schrecken) ein, „er wird doch nicht gar tod ſeyn.“ Sie kehrte alſo wieder um und behorchte ſeine wachſenden Athemzuͤge. Neben ihm lagen zwei ſpitze Steingen ſo groß wie mein Dintenfaß; ſie buͤckte ſich zwei¬ mal neben ihm nieder (ſie wollt' es nicht auf ein¬ mal oder auch mit dem Fuße thun) um ſie wegzu¬ nehmen, damit er nicht in ihre Spitzen hineinfiele. . .
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0131"n="121"/><p>Die Nachtwandlerin fuhr zuſammen, da ſie<lb/>
den ſchoͤnen Schlaͤfer ſah: ſie hatte im ganzen Gar¬<lb/>
ten, den ſie in dieſen ſtillen Minuten durchſtrichen<lb/>
hatte, niemand vermuthet und gefunden. Er lag<lb/>
auf einem Knie ſanft zuſammen geſunken; ſein blaſ¬<lb/>ſes Geſicht wurde von einem ſchoͤnen Traum, vom<lb/>
aufgehenden Monde und von Beatens Auge ange¬<lb/>ſtrahlt. Ihr fiel nicht ein, daß er ſich vielleicht nur<lb/>ſchlafend ſtelle; ſie zitterte alſo um einen halben<lb/>
Schritt naͤher, um erſtlich gewiß zu ſeyn wers waͤre<lb/>
und um zweitens mit vollem Auge auf der Geſtallt<lb/>
zu ruhen, vor der ſie bisher nur voruͤberſtreichen<lb/>
durfte. Unter dem Anſchauen wuſte ſie nicht recht,<lb/>
wenn ſie es eigentlich endigen ſollte. Endlich wandte<lb/>ſie ihrem Paradieſe dem Ruͤcken, nachdem ſie noch<lb/>
einmal ganz an ihn getreten war; aber unter dem<lb/>
traͤgen Ruͤckwaͤrtsgehen fiel ihr (<hirendition="#g">ohne</hi> Schrecken)<lb/>
ein, „er wird doch nicht gar tod ſeyn.“ Sie kehrte<lb/>
alſo wieder um und behorchte ſeine wachſenden<lb/>
Athemzuͤge. Neben ihm lagen zwei ſpitze Steingen<lb/>ſo groß wie mein Dintenfaß; ſie buͤckte ſich <hirendition="#g">zwei¬<lb/>
mal neben</hi> ihm nieder (ſie wollt' es nicht auf ein¬<lb/>
mal oder auch mit dem Fuße thun) um ſie wegzu¬<lb/>
nehmen, damit er nicht in ihre Spitzen hineinfiele. . .</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[121/0131]
Die Nachtwandlerin fuhr zuſammen, da ſie
den ſchoͤnen Schlaͤfer ſah: ſie hatte im ganzen Gar¬
ten, den ſie in dieſen ſtillen Minuten durchſtrichen
hatte, niemand vermuthet und gefunden. Er lag
auf einem Knie ſanft zuſammen geſunken; ſein blaſ¬
ſes Geſicht wurde von einem ſchoͤnen Traum, vom
aufgehenden Monde und von Beatens Auge ange¬
ſtrahlt. Ihr fiel nicht ein, daß er ſich vielleicht nur
ſchlafend ſtelle; ſie zitterte alſo um einen halben
Schritt naͤher, um erſtlich gewiß zu ſeyn wers waͤre
und um zweitens mit vollem Auge auf der Geſtallt
zu ruhen, vor der ſie bisher nur voruͤberſtreichen
durfte. Unter dem Anſchauen wuſte ſie nicht recht,
wenn ſie es eigentlich endigen ſollte. Endlich wandte
ſie ihrem Paradieſe dem Ruͤcken, nachdem ſie noch
einmal ganz an ihn getreten war; aber unter dem
traͤgen Ruͤckwaͤrtsgehen fiel ihr (ohne Schrecken)
ein, „er wird doch nicht gar tod ſeyn.“ Sie kehrte
alſo wieder um und behorchte ſeine wachſenden
Athemzuͤge. Neben ihm lagen zwei ſpitze Steingen
ſo groß wie mein Dintenfaß; ſie buͤckte ſich zwei¬
mal neben ihm nieder (ſie wollt' es nicht auf ein¬
mal oder auch mit dem Fuße thun) um ſie wegzu¬
nehmen, damit er nicht in ihre Spitzen hineinfiele. . .
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 2. Berlin, 1793, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge02_1793/131>, abgerufen am 02.05.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.