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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

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Erde die Beschaffenheit nicht haben, die sol¬
che Seelenstürme in uns verdienen kann; da al¬
so das Größte, was uns zu sich reissen, oder
von sich stoßen kann, in andern Welten stehen
muß: so sieht man, daß die größten Bewegun¬
gen unsers Ichs nur vielleicht ausserhalb des
Körpers ihren vergönnten geräumigern Spielraum
antreffen.

Ueberhaupt ist Leidenschaft subjektiv und re¬
lativ: die nämliche Willensbewegung ist in der
stärkern Seele unter größern Wellen nur ein
Wollen und in der schwächern auf der glattern
Fläche ein innerer Sturm. Unser ewiges Wollen
fliesset immerfort durch uns und in uns, wie ein
Strom und die Leidenschaften sind nur die Was¬
serfälle
und Kaskaden dieses Stroms; sind
wir aber zur Verdammung derselben bloß durch
ihre Seltenheit befugt? Ist nicht dem kleinen
Bach das Kaskade, was dem Strom nur Welle
ist? -- Und wenn wir im Enthusiasmus unsre Kälte
und in der Kälte unsern Enthusiasmus schelten:
wo haben wir Recht? und giebt die Dauer des
Scheltens das Recht? --

Erde die Beſchaffenheit nicht haben, die ſol¬
che Seelenſtuͤrme in uns verdienen kann; da al¬
ſo das Groͤßte, was uns zu ſich reiſſen, oder
von ſich ſtoßen kann, in andern Welten ſtehen
muß: ſo ſieht man, daß die groͤßten Bewegun¬
gen unſers Ichs nur vielleicht auſſerhalb des
Koͤrpers ihren vergoͤnnten geraͤumigern Spielraum
antreffen.

Ueberhaupt iſt Leidenſchaft ſubjektiv und re¬
lativ: die naͤmliche Willensbewegung iſt in der
ſtaͤrkern Seele unter groͤßern Wellen nur ein
Wollen und in der ſchwaͤchern auf der glattern
Flaͤche ein innerer Sturm. Unſer ewiges Wollen
flieſſet immerfort durch uns und in uns, wie ein
Strom und die Leidenſchaften ſind nur die Waſ¬
ſerfaͤlle
und Kaſkaden dieſes Stroms; ſind
wir aber zur Verdammung derſelben bloß durch
ihre Seltenheit befugt? Iſt nicht dem kleinen
Bach das Kaſkade, was dem Strom nur Welle
iſt? — Und wenn wir im Enthuſiasmus unſre Kaͤlte
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wo haben wir Recht? und giebt die Dauer des
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[376/0412] Erde die Beſchaffenheit nicht haben, die ſol¬ che Seelenſtuͤrme in uns verdienen kann; da al¬ ſo das Groͤßte, was uns zu ſich reiſſen, oder von ſich ſtoßen kann, in andern Welten ſtehen muß: ſo ſieht man, daß die groͤßten Bewegun¬ gen unſers Ichs nur vielleicht auſſerhalb des Koͤrpers ihren vergoͤnnten geraͤumigern Spielraum antreffen. Ueberhaupt iſt Leidenſchaft ſubjektiv und re¬ lativ: die naͤmliche Willensbewegung iſt in der ſtaͤrkern Seele unter groͤßern Wellen nur ein Wollen und in der ſchwaͤchern auf der glattern Flaͤche ein innerer Sturm. Unſer ewiges Wollen flieſſet immerfort durch uns und in uns, wie ein Strom und die Leidenſchaften ſind nur die Waſ¬ ſerfaͤlle und Kaſkaden dieſes Stroms; ſind wir aber zur Verdammung derſelben bloß durch ihre Seltenheit befugt? Iſt nicht dem kleinen Bach das Kaſkade, was dem Strom nur Welle iſt? — Und wenn wir im Enthuſiasmus unſre Kaͤlte und in der Kaͤlte unſern Enthuſiaſmus ſchelten: wo haben wir Recht? und giebt die Dauer des Scheltens das Recht? —

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/412>, abgerufen am 22.11.2024.