-- Aber in Gustavs Gehirn riß dieses in der Luft hangende Gesicht mit der Aeznadel ein ver¬ zerrtes Bild hinein, das seine Fieberphantasien ihm einmal wieder unter die sterbenden Augen halten werden. Bloß heftige Phantasie, nicht Mangel an Muth, schaft die Geisterfurcht; und wer jene ein¬ mal in einem Kinde zum Erschrecken aufwiegelte, gewinnt nichts, wenn er sie nachher widerlegt und sie belehrt "es war natürlich." Daher fürchten sich in der nämlichen Familie nur einige Kinder, d. h. die mit geflügelter Phantasie -- daher zieht Shakes¬ pear in seinen Geisterßenen die Haare des Freiden¬ kers in der Frontloge zu Berge, offenbar vermittelst seiner aufgewiegelten Phantasie. -- Die Geisterfurcht ist ein ausserordentliches Meteor unserer Natur: erst¬ lich wegen ihrer Herrschaft über alle Völker; zwei¬ tens weil sie nicht von der Erziehung kömmt; denn in der Kindheit schauert man zugleich vor dem gros¬ sen Bären an der Thüre und vor einem Geiste zu¬ sammen, aber die eine Furcht vergeht, warum bleibt die andre? -- Drittens: des Gegenstandes wegen: der Geisterfurchtsame erstarret nicht vor Schmerz oder Tod, sondern vor der bloßen Gegenwart eines ganz fremdartigen Wesens; er würde einen Mond-
— Aber in Guſtavs Gehirn riß dieſes in der Luft hangende Geſicht mit der Aeznadel ein ver¬ zerrtes Bild hinein, das ſeine Fieberphantaſien ihm einmal wieder unter die ſterbenden Augen halten werden. Bloß heftige Phantaſie, nicht Mangel an Muth, ſchaft die Geiſterfurcht; und wer jene ein¬ mal in einem Kinde zum Erſchrecken aufwiegelte, gewinnt nichts, wenn er ſie nachher widerlegt und ſie belehrt „es war natuͤrlich.“ Daher fuͤrchten ſich in der naͤmlichen Familie nur einige Kinder, d. h. die mit gefluͤgelter Phantaſie — daher zieht Shakeſ¬ pear in ſeinen Geiſterſzenen die Haare des Freiden¬ kers in der Frontloge zu Berge, offenbar vermittelſt ſeiner aufgewiegelten Phantaſie. — Die Geiſterfurcht iſt ein auſſerordentliches Meteor unſerer Natur: erſt¬ lich wegen ihrer Herrſchaft uͤber alle Voͤlker; zwei¬ tens weil ſie nicht von der Erziehung koͤmmt; denn in der Kindheit ſchauert man zugleich vor dem groſ¬ ſen Baͤren an der Thuͤre und vor einem Geiſte zu¬ ſammen, aber die eine Furcht vergeht, warum bleibt die andre? — Drittens: des Gegenſtandes wegen: der Geiſterfurchtſame erſtarret nicht vor Schmerz oder Tod, ſondern vor der bloßen Gegenwart eines ganz fremdartigen Weſens; er wuͤrde einen Mond-
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— Aber in Guſtavs Gehirn riß dieſes in der
Luft hangende Geſicht mit der Aeznadel ein ver¬
zerrtes Bild hinein, das ſeine Fieberphantaſien ihm
einmal wieder unter die ſterbenden Augen halten
werden. Bloß heftige Phantaſie, nicht Mangel an
Muth, ſchaft die Geiſterfurcht; und wer jene ein¬
mal in einem Kinde zum Erſchrecken aufwiegelte,
gewinnt nichts, wenn er ſie nachher widerlegt und
ſie belehrt „es war natuͤrlich.“ Daher fuͤrchten ſich
in der naͤmlichen Familie nur einige Kinder, d. h.
die mit gefluͤgelter Phantaſie — daher zieht Shakeſ¬
pear in ſeinen Geiſterſzenen die Haare des Freiden¬
kers in der Frontloge zu Berge, offenbar vermittelſt
ſeiner aufgewiegelten Phantaſie. — Die Geiſterfurcht
iſt ein auſſerordentliches Meteor unſerer Natur: erſt¬
lich wegen ihrer Herrſchaft uͤber alle Voͤlker; zwei¬
tens weil ſie nicht von der Erziehung koͤmmt; denn
in der Kindheit ſchauert man zugleich vor dem groſ¬
ſen Baͤren an der Thuͤre und vor einem Geiſte zu¬
ſammen, aber die eine Furcht vergeht, warum bleibt
die andre? — Drittens: des Gegenſtandes wegen:
der Geiſterfurchtſame erſtarret nicht vor Schmerz oder
Tod, ſondern vor der bloßen Gegenwart eines
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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/314>, abgerufen am 13.05.2024.
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