die ich vor 14 Tagen noch von ihr wußte. Mäd¬ chen, die oft krank sind, gewöhnen sich eine Mi¬ ne von geduldigem Ergeben an, die "zum Ster¬ ben schön" ist. Ich habe ihren Lieblingsaus¬ druck unterstrichen, aber nur von ihrer Zunge kann er im schönsten sterbenden sinkenden Laute fliessen. Diese Geduld gewöhnet ihr ausser ihren ewigen Kopfschmerzen auch ihr [Vat]er an, der sie gleich sehr quält und liebt und [de]r ihr zu Gefallen (nach dem Egoismus des Geizes) eine Welt abschlachtete. Wenn die Seele mancher Menschen (sicher auch diese) zu zart und fein für diese Morast-Erde ist: so ists auch oft der Körper mancher Menschen, der nur in Kolibri-Wetter und in Tempe-Thälern und in Zephyrn ausdauert. Ein zarter Körper und ein zarter Geist reiben einander auf. Beata hängt wie alle von dieser Krystallisation, ein wenig zur Schwärmerei, Empfindsamkeit und Dichtkunst hin; aber was sie in meinen Augen hoch hinauf stellt ist ein Ehrgefühl, eine demüthige Selbstach¬ tung, die (meinen wenigen Bemerkungen nach) ein Erbtheil nicht der Erziehung sondern des gütig¬ sten Schicksals ist. Diese Würde sichert ohne prüde Aengstlichkeit die weibliche Tugend: wenn man
die ich vor 14 Tagen noch von ihr wußte. Maͤd¬ chen, die oft krank ſind, gewoͤhnen ſich eine Mi¬ ne von geduldigem Ergeben an, die „zum Ster¬ ben ſchoͤn” iſt. Ich habe ihren Lieblingsaus¬ druck unterſtrichen, aber nur von ihrer Zunge kann er im ſchoͤnſten ſterbenden ſinkenden Laute flieſſen. Dieſe Geduld gewoͤhnet ihr auſſer ihren ewigen Kopfſchmerzen auch ihr [Vat]er an, der ſie gleich ſehr quaͤlt und liebt und [de]r ihr zu Gefallen (nach dem Egoiſmus des Geizes) eine Welt abſchlachtete. Wenn die Seele mancher Menſchen (ſicher auch dieſe) zu zart und fein fuͤr dieſe Moraſt-Erde iſt: ſo iſts auch oft der Koͤrper mancher Menſchen, der nur in Kolibri-Wetter und in Tempe-Thaͤlern und in Zephyrn ausdauert. Ein zarter Koͤrper und ein zarter Geiſt reiben einander auf. Beata haͤngt wie alle von dieſer Kryſtalliſation, ein wenig zur Schwaͤrmerei, Empfindſamkeit und Dichtkunſt hin; aber was ſie in meinen Augen hoch hinauf ſtellt iſt ein Ehrgefuͤhl, eine demuͤthige Selbſtach¬ tung, die (meinen wenigen Bemerkungen nach) ein Erbtheil nicht der Erziehung ſondern des guͤtig¬ ſten Schickſals iſt. Dieſe Wuͤrde ſichert ohne pruͤde Aengſtlichkeit die weibliche Tugend: wenn man
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0282"n="246"/>
die ich vor 14 Tagen noch von ihr wußte. Maͤd¬<lb/>
chen, die oft krank ſind, gewoͤhnen ſich eine Mi¬<lb/>
ne von geduldigem Ergeben an, die „<hirendition="#g">zum Ster</hi>¬<lb/><hirendition="#g">ben ſchoͤn</hi>” iſt. Ich habe ihren Lieblingsaus¬<lb/>
druck unterſtrichen, aber nur von ihrer Zunge kann<lb/>
er im ſchoͤnſten ſterbenden ſinkenden Laute flieſſen.<lb/>
Dieſe Geduld gewoͤhnet ihr auſſer ihren ewigen<lb/>
Kopfſchmerzen auch ihr <supplied>Vat</supplied>er an, der ſie gleich<lb/>ſehr quaͤlt und liebt und <supplied>de</supplied>r ihr zu Gefallen (nach<lb/>
dem Egoiſmus des Geizes) eine Welt abſchlachtete.<lb/>
Wenn die <hirendition="#g">Seele</hi> mancher Menſchen (ſicher auch<lb/>
dieſe) zu zart und fein fuͤr dieſe Moraſt-Erde iſt:<lb/>ſo iſts auch <hirendition="#g">oft</hi> der <hirendition="#g">Koͤrper</hi> mancher Menſchen,<lb/>
der nur in Kolibri-Wetter und in Tempe-Thaͤlern<lb/>
und in Zephyrn ausdauert. Ein zarter Koͤrper<lb/>
und ein zarter Geiſt reiben einander auf. Beata<lb/>
haͤngt wie alle von dieſer Kryſtalliſation, ein wenig<lb/>
zur Schwaͤrmerei, Empfindſamkeit und Dichtkunſt<lb/>
hin; aber was ſie in meinen Augen hoch hinauf<lb/>ſtellt iſt ein Ehrgefuͤhl, eine demuͤthige Selbſtach¬<lb/>
tung, die (meinen wenigen Bemerkungen nach)<lb/>
ein Erbtheil nicht der Erziehung ſondern des guͤtig¬<lb/>ſten Schickſals iſt. Dieſe Wuͤrde ſichert ohne pruͤde<lb/>
Aengſtlichkeit die weibliche Tugend: wenn man<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[246/0282]
die ich vor 14 Tagen noch von ihr wußte. Maͤd¬
chen, die oft krank ſind, gewoͤhnen ſich eine Mi¬
ne von geduldigem Ergeben an, die „zum Ster¬
ben ſchoͤn” iſt. Ich habe ihren Lieblingsaus¬
druck unterſtrichen, aber nur von ihrer Zunge kann
er im ſchoͤnſten ſterbenden ſinkenden Laute flieſſen.
Dieſe Geduld gewoͤhnet ihr auſſer ihren ewigen
Kopfſchmerzen auch ihr Vater an, der ſie gleich
ſehr quaͤlt und liebt und der ihr zu Gefallen (nach
dem Egoiſmus des Geizes) eine Welt abſchlachtete.
Wenn die Seele mancher Menſchen (ſicher auch
dieſe) zu zart und fein fuͤr dieſe Moraſt-Erde iſt:
ſo iſts auch oft der Koͤrper mancher Menſchen,
der nur in Kolibri-Wetter und in Tempe-Thaͤlern
und in Zephyrn ausdauert. Ein zarter Koͤrper
und ein zarter Geiſt reiben einander auf. Beata
haͤngt wie alle von dieſer Kryſtalliſation, ein wenig
zur Schwaͤrmerei, Empfindſamkeit und Dichtkunſt
hin; aber was ſie in meinen Augen hoch hinauf
ſtellt iſt ein Ehrgefuͤhl, eine demuͤthige Selbſtach¬
tung, die (meinen wenigen Bemerkungen nach)
ein Erbtheil nicht der Erziehung ſondern des guͤtig¬
ſten Schickſals iſt. Dieſe Wuͤrde ſichert ohne pruͤde
Aengſtlichkeit die weibliche Tugend: wenn man
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/282>, abgerufen am 05.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.