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Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793.

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den Historiographen, der seine Contes moraux äst¬
hetisch und mit Pathos *) auszumachen vorhatte
und nun selber von einem fremden Pathos erwischt
wurde. Ernestinens Herz, Lippen und Ohren wa¬
ren hinter den strengsten Gittern erzogen; daher
wich ihre so melodische Seele (bei einem bloßen Kuß)
in eine fremde harte Tonart aus; sie gab vom
schönsten Mädchen nichts zu, als: "ein gutes
Mädchen ists." Ueberhaupt ist mir die Frau, die
gewisse Fehltritte einer andern schonend beurtheilt,
mit ihrer Toleranz verdächtig; eine ganz reine
weibliche Seele erzwingt an sich höchstens die Mine
dieser Toleranz für eine weniger reine.

Auf jene Lippen drückte Gustav den ersten und
letzten Kuß: denn in der Pfingstwoche zog die Schä¬
ferin nach Maussenbach als Schloß-Dienstbote. Wir
werden nichts mehr von ihr hören. -- So wirds

*) Gustavs Muth zum Kuß ist natürlich. Unser Geschlecht
durchläuft drei Perioden des Muths gegen das Schöne --
die erste ist die kindliche, wo man beim weiblichen Ge¬
schlecht noch aus Mangel an Gefühl etc. wagt -- die zweite
ist die schwärmerische, wo man dichtet aber nicht wagt --
die dritte ist die letzte, wo man Welt genug hat, um frei¬
müthig zu seyn, und Gefühl genug, um das Geschlecht zu
schonen und zu achten. Gustav küßte in der ersten Periode.

den Hiſtoriographen, der ſeine Contes moraux aͤſt¬
hetiſch und mit Pathos *) auszumachen vorhatte
und nun ſelber von einem fremden Pathos erwiſcht
wurde. Erneſtinens Herz, Lippen und Ohren wa¬
ren hinter den ſtrengſten Gittern erzogen; daher
wich ihre ſo melodiſche Seele (bei einem bloßen Kuß)
in eine fremde harte Tonart aus; ſie gab vom
ſchoͤnſten Maͤdchen nichts zu, als: „ein gutes
Maͤdchen iſts.“ Ueberhaupt iſt mir die Frau, die
gewiſſe Fehltritte einer andern ſchonend beurtheilt,
mit ihrer Toleranz verdaͤchtig; eine ganz reine
weibliche Seele erzwingt an ſich hoͤchſtens die Mine
dieſer Toleranz fuͤr eine weniger reine.

Auf jene Lippen druͤckte Guſtav den erſten und
letzten Kuß: denn in der Pfingſtwoche zog die Schaͤ¬
ferin nach Mauſſenbach als Schloß-Dienſtbote. Wir
werden nichts mehr von ihr hoͤren. — So wirds

*) Guſtavs Muth zum Kuß iſt natürlich. Unſer Geſchlecht
durchläuft drei Perioden des Muths gegen das Schöne —
die erſte iſt die kindliche, wo man beim weiblichen Ge¬
ſchlecht noch aus Mangel an Gefühl ꝛc. wagt — die zweite
iſt die ſchwärmeriſche, wo man dichtet aber nicht wagt —
die dritte iſt die letzte, wo man Welt genug hat, um frei¬
müthig zu ſeyn, und Gefühl genug, um das Geſchlecht zu
ſchonen und zu achten. Guſtav küßte in der erſten Periode.
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[219/0255] den Hiſtoriographen, der ſeine Contes moraux aͤſt¬ hetiſch und mit Pathos *) auszumachen vorhatte und nun ſelber von einem fremden Pathos erwiſcht wurde. Erneſtinens Herz, Lippen und Ohren wa¬ ren hinter den ſtrengſten Gittern erzogen; daher wich ihre ſo melodiſche Seele (bei einem bloßen Kuß) in eine fremde harte Tonart aus; ſie gab vom ſchoͤnſten Maͤdchen nichts zu, als: „ein gutes Maͤdchen iſts.“ Ueberhaupt iſt mir die Frau, die gewiſſe Fehltritte einer andern ſchonend beurtheilt, mit ihrer Toleranz verdaͤchtig; eine ganz reine weibliche Seele erzwingt an ſich hoͤchſtens die Mine dieſer Toleranz fuͤr eine weniger reine. Auf jene Lippen druͤckte Guſtav den erſten und letzten Kuß: denn in der Pfingſtwoche zog die Schaͤ¬ ferin nach Mauſſenbach als Schloß-Dienſtbote. Wir werden nichts mehr von ihr hoͤren. — So wirds *) Guſtavs Muth zum Kuß iſt natürlich. Unſer Geſchlecht durchläuft drei Perioden des Muths gegen das Schöne — die erſte iſt die kindliche, wo man beim weiblichen Ge¬ ſchlecht noch aus Mangel an Gefühl ꝛc. wagt — die zweite iſt die ſchwärmeriſche, wo man dichtet aber nicht wagt — die dritte iſt die letzte, wo man Welt genug hat, um frei¬ müthig zu ſeyn, und Gefühl genug, um das Geſchlecht zu ſchonen und zu achten. Guſtav küßte in der erſten Periode.

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Zitationshilfe: Jean Paul: Die unsichtbare Loge. Bd. 1. Berlin, 1793, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_loge01_1793/255>, abgerufen am 23.11.2024.