Ich kann nicht schreiben, der Leser kann sich's leicht vorstellen, wie Viktor die ersten Maitage ver¬ lebte oder vertrauerte: denn er kann sich's nicht leicht vorstellen. Vielleicht wir alle hielten die Bande, die ihn mit Flamin verschlangen, für dünne wenige Fibern oder unempfindliche Gewohnheitsflechsen; es sind aber weiche Nerven und feste Muskeln das Bind¬ werk ihrer Seelen. Er selber wußte nicht, wie sehr er ihn liebe als da er damit aufhören sollte. In diesen gemeinschaftlichen Irrthum fallen wir alle, Held, Leser und Schreiber, aus Einem Grunde: wenn man einem Freunde, den man schon lange liebte, lange Zeit keinen Beweis der Liebe geben konnte aus Mangel der Gelegenheit: so quälet man sich mit dem Vorwurfe, man erkalte gegen ihn. Aber dieser Vorwurf selber ist der schönste Beweis der Liebe. Bei Viktor trat noch mehr zusammen, ihn selber zu bereden, er werde ein kälterer Freund. Die Vesperturnire um Klotilde, diese Disputationen pro loco thaten ohnehin das ihrige; aber immer kränkte er sich mit der Selbstrezension, daß er zu¬ weilen seinem Freunde kleine Opfer abgeschlagen, z. B. seinetwegen Versäumung einer Lustpartie, das Wegbleiben aus gewissen Regierungsraths-Häusern, die Flamin haßte. Aber in der Freundschaft sind große Opfer leichter als kleine -- man opfert ihr lieber das Leben als eine Stunde auf, lieber das
Ich kann nicht ſchreiben, der Leſer kann ſich's leicht vorſtellen, wie Viktor die erſten Maitage ver¬ lebte oder vertrauerte: denn er kann ſich's nicht leicht vorſtellen. Vielleicht wir alle hielten die Bande, die ihn mit Flamin verſchlangen, fuͤr duͤnne wenige Fibern oder unempfindliche Gewohnheitsflechſen; es ſind aber weiche Nerven und feſte Muſkeln das Bind¬ werk ihrer Seelen. Er ſelber wußte nicht, wie ſehr er ihn liebe als da er damit aufhoͤren ſollte. In dieſen gemeinſchaftlichen Irrthum fallen wir alle, Held, Leſer und Schreiber, aus Einem Grunde: wenn man einem Freunde, den man ſchon lange liebte, lange Zeit keinen Beweis der Liebe geben konnte aus Mangel der Gelegenheit: ſo quaͤlet man ſich mit dem Vorwurfe, man erkalte gegen ihn. Aber dieſer Vorwurf ſelber iſt der ſchoͤnſte Beweis der Liebe. Bei Viktor trat noch mehr zuſammen, ihn ſelber zu bereden, er werde ein kaͤlterer Freund. Die Veſperturnire um Klotilde, dieſe Diſputationen pro loco thaten ohnehin das ihrige; aber immer kraͤnkte er ſich mit der Selbſtrezenſion, daß er zu¬ weilen ſeinem Freunde kleine Opfer abgeſchlagen, z. B. ſeinetwegen Verſaͤumung einer Luſtpartie, das Wegbleiben aus gewiſſen Regierungsraths-Haͤuſern, die Flamin haßte. Aber in der Freundſchaft ſind große Opfer leichter als kleine — man opfert ihr lieber das Leben als eine Stunde auf, lieber das
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0089"n="79"/><p>Ich kann nicht ſchreiben, der Leſer kann ſich's<lb/>
leicht vorſtellen, wie Viktor die erſten Maitage ver¬<lb/>
lebte oder vertrauerte: denn er kann ſich's nicht leicht<lb/>
vorſtellen. Vielleicht wir alle hielten die Bande,<lb/>
die ihn mit Flamin verſchlangen, fuͤr duͤnne wenige<lb/>
Fibern oder unempfindliche Gewohnheitsflechſen; es<lb/>ſind aber weiche Nerven und feſte Muſkeln das Bind¬<lb/>
werk ihrer Seelen. Er ſelber wußte nicht, wie ſehr<lb/>
er ihn liebe als da er damit aufhoͤren ſollte. In<lb/>
dieſen gemeinſchaftlichen Irrthum fallen wir alle,<lb/>
Held, Leſer und Schreiber, aus Einem Grunde:<lb/>
wenn man einem Freunde, den man ſchon lange<lb/>
liebte, lange Zeit keinen Beweis der Liebe geben<lb/>
konnte aus Mangel der Gelegenheit: ſo quaͤlet man<lb/>ſich mit dem Vorwurfe, man erkalte gegen ihn.<lb/>
Aber dieſer Vorwurf ſelber iſt der ſchoͤnſte Beweis<lb/>
der Liebe. Bei Viktor trat noch mehr zuſammen,<lb/>
ihn ſelber zu bereden, er werde ein kaͤlterer Freund.<lb/>
Die Veſperturnire um Klotilde, dieſe Diſputationen<lb/><hirendition="#aq">pro loco</hi> thaten ohnehin das ihrige; aber immer<lb/>
kraͤnkte er ſich mit der Selbſtrezenſion, daß er zu¬<lb/>
weilen ſeinem Freunde kleine Opfer abgeſchlagen, z.<lb/>
B. ſeinetwegen Verſaͤumung einer Luſtpartie, das<lb/>
Wegbleiben aus gewiſſen Regierungsraths-Haͤuſern,<lb/>
die Flamin haßte. Aber in der Freundſchaft ſind<lb/>
große Opfer leichter als kleine — man opfert ihr<lb/>
lieber das Leben als eine Stunde auf, lieber das<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[79/0089]
Ich kann nicht ſchreiben, der Leſer kann ſich's
leicht vorſtellen, wie Viktor die erſten Maitage ver¬
lebte oder vertrauerte: denn er kann ſich's nicht leicht
vorſtellen. Vielleicht wir alle hielten die Bande,
die ihn mit Flamin verſchlangen, fuͤr duͤnne wenige
Fibern oder unempfindliche Gewohnheitsflechſen; es
ſind aber weiche Nerven und feſte Muſkeln das Bind¬
werk ihrer Seelen. Er ſelber wußte nicht, wie ſehr
er ihn liebe als da er damit aufhoͤren ſollte. In
dieſen gemeinſchaftlichen Irrthum fallen wir alle,
Held, Leſer und Schreiber, aus Einem Grunde:
wenn man einem Freunde, den man ſchon lange
liebte, lange Zeit keinen Beweis der Liebe geben
konnte aus Mangel der Gelegenheit: ſo quaͤlet man
ſich mit dem Vorwurfe, man erkalte gegen ihn.
Aber dieſer Vorwurf ſelber iſt der ſchoͤnſte Beweis
der Liebe. Bei Viktor trat noch mehr zuſammen,
ihn ſelber zu bereden, er werde ein kaͤlterer Freund.
Die Veſperturnire um Klotilde, dieſe Diſputationen
pro loco thaten ohnehin das ihrige; aber immer
kraͤnkte er ſich mit der Selbſtrezenſion, daß er zu¬
weilen ſeinem Freunde kleine Opfer abgeſchlagen, z.
B. ſeinetwegen Verſaͤumung einer Luſtpartie, das
Wegbleiben aus gewiſſen Regierungsraths-Haͤuſern,
die Flamin haßte. Aber in der Freundſchaft ſind
große Opfer leichter als kleine — man opfert ihr
lieber das Leben als eine Stunde auf, lieber das
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Drittes Heftlein. Berlin, 1795, S. 79. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus03_1795/89>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.