seiner jagenden Wolken einließ. Nichts rührte ihn unter einer Musik allzeit mehr als in die laufenden Wolken zu sehen: wenn er diese Nebelströme in ih¬ rer ewigen Flucht um unser Schatten-Rund beglei¬ tete mit seinen Augen und mit den Tönen, und wenn er ihnen mitgab alle seine Freuden und seine Wünsche: dann dacht' er wie in allen seinen Freu¬ den und Leiden an andre Wolken, an eine andre Flucht, an andre Schatten als an die über ihm, dann lechzete und schmachtete seine ganze Seele; aber die Saiten stillten das Lechzen, wie die kalte Bleikugel im Mund den Durst ablöscht, und die Töne löseten die drückenden Thränen von der vollen Seele ab.
Theurer Viktor! im Menschen ist ein großer Wunsch, der nie erfüllt wurde: er hat keinen Na¬ men, er sucht seinen Gegenstand, aber alles was du ihm nennest und alle Freuden sind es nicht; allein er kömmt wieder, wenn du in einer Sommernacht nach Norden siehst oder nach fernen Gebirgen, oder wenn Mondlicht auf der Erde ist oder der Himmel ge¬ stirnt, oder wenn du sehr glücklich bist. Dieser große ungeheure Wunsch hebt unsern Geist empor, aber mit Schmerzen: ach! wir werden hienieden lie¬ gend in die Höhe geworfen gleich Epilepti¬ schen. Aber diesen Wunsch, dem nichts einen Na¬ men geben kann, nennen unsre Saiten und Töne dem
ſeiner jagenden Wolken einließ. Nichts ruͤhrte ihn unter einer Muſik allzeit mehr als in die laufenden Wolken zu ſehen: wenn er dieſe Nebelſtroͤme in ih¬ rer ewigen Flucht um unſer Schatten-Rund beglei¬ tete mit ſeinen Augen und mit den Toͤnen, und wenn er ihnen mitgab alle ſeine Freuden und ſeine Wuͤnſche: dann dacht' er wie in allen ſeinen Freu¬ den und Leiden an andre Wolken, an eine andre Flucht, an andre Schatten als an die uͤber ihm, dann lechzete und ſchmachtete ſeine ganze Seele; aber die Saiten ſtillten das Lechzen, wie die kalte Bleikugel im Mund den Durſt abloͤſcht, und die Toͤne loͤſeten die druͤckenden Thraͤnen von der vollen Seele ab.
Theurer Viktor! im Menſchen iſt ein großer Wunſch, der nie erfuͤllt wurde: er hat keinen Na¬ men, er ſucht ſeinen Gegenſtand, aber alles was du ihm nenneſt und alle Freuden ſind es nicht; allein er koͤmmt wieder, wenn du in einer Sommernacht nach Norden ſiehſt oder nach fernen Gebirgen, oder wenn Mondlicht auf der Erde iſt oder der Himmel ge¬ ſtirnt, oder wenn du ſehr gluͤcklich biſt. Dieſer große ungeheure Wunſch hebt unſern Geiſt empor, aber mit Schmerzen: ach! wir werden hienieden lie¬ gend in die Hoͤhe geworfen gleich Epilepti¬ ſchen. Aber dieſen Wunſch, dem nichts einen Na¬ men geben kann, nennen unſre Saiten und Toͤne dem
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ſeiner jagenden Wolken einließ. Nichts ruͤhrte ihn
unter einer Muſik allzeit mehr als in die laufenden
Wolken zu ſehen: wenn er dieſe Nebelſtroͤme in ih¬
rer ewigen Flucht um unſer Schatten-Rund beglei¬
tete mit ſeinen Augen und mit den Toͤnen, und
wenn er ihnen mitgab alle ſeine Freuden und ſeine
Wuͤnſche: dann dacht' er wie in allen ſeinen Freu¬
den und Leiden an andre Wolken, an eine andre
Flucht, an andre Schatten als an die uͤber ihm,
dann lechzete und ſchmachtete ſeine ganze Seele;
aber die Saiten ſtillten das Lechzen, wie die kalte
Bleikugel im Mund den Durſt abloͤſcht, und die
Toͤne loͤſeten die druͤckenden Thraͤnen von der vollen
Seele ab.
Theurer Viktor! im Menſchen iſt ein großer
Wunſch, der nie erfuͤllt wurde: er hat keinen Na¬
men, er ſucht ſeinen Gegenſtand, aber alles was du
ihm nenneſt und alle Freuden ſind es nicht; allein er
koͤmmt wieder, wenn du in einer Sommernacht nach
Norden ſiehſt oder nach fernen Gebirgen, oder wenn
Mondlicht auf der Erde iſt oder der Himmel ge¬
ſtirnt, oder wenn du ſehr gluͤcklich biſt. Dieſer große
ungeheure Wunſch hebt unſern Geiſt empor, aber mit
Schmerzen: ach! wir werden hienieden lie¬
gend in die Hoͤhe geworfen gleich Epilepti¬
ſchen. Aber dieſen Wunſch, dem nichts einen Na¬
men geben kann, nennen unſre Saiten und Toͤne dem
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Zweites Heftlein. Berlin, 1795, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus02_1795/95>, abgerufen am 21.11.2024.
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