womit die Braut den Abend voll kindlicher Erinne¬ rungen an der Brust der geliebten Mutter zubringt, eh' sie am Morgen dem Bräutigam entgegen zieht.
Viktor warf sich jeden vergossenen Blutstropfen vor und entschloß sich, heute zu gehen, weil diese Psyche mit ihren großen Flügeln sich in ihrem Ge¬ webe nicht mehr ohne Risse bewegen konnte. In Emanuels Augen glänzte eine unaussprechliche Liebe für seinen gerührten Schüler. Emanuel kam auf seinen Todestag, um jenen zu trösten und stellte ihm vor, daß er erst in einem Jahre von hinnen gehen könne: er bauete seine schwärmerische Weissagung auf zwei Gründe, daß erstlich seine meisten männli¬ chen Verwandten am nämlichen Tage und im näm¬ lichen Stufenjahre gestorben wären, zweitens daß schon mehrere Schwindsüchtige in ihrer zerstörten Brust wie in einem Zauberspiegel ihren letzten Tag gelesen hätten. Viktor bestritt ihn; er zeigte, die Erklärung des letztern Phänomens, als könne der Hektiker aus dem regelmäßigen stufenweisen dimi¬ nuendo oder Fallen der Lebenskraft leicht die letzte Stufe oder den Gefrierpunkt vorausfühlen, sey falsch, weil Gefühle der Zukunft in der Gegenwart Widersprüche (in adjecto) wären und weil wir mit¬ ten im Leben so wenig den Eintritt des Todes als im Wachen den Eintritt des Schlafes (trotz gleicher Stufenfolge) voraus empfinden könnten. Viktor
womit die Braut den Abend voll kindlicher Erinne¬ rungen an der Bruſt der geliebten Mutter zubringt, eh' ſie am Morgen dem Braͤutigam entgegen zieht.
Viktor warf ſich jeden vergoſſenen Blutstropfen vor und entſchloß ſich, heute zu gehen, weil dieſe Pſyche mit ihren großen Fluͤgeln ſich in ihrem Ge¬ webe nicht mehr ohne Riſſe bewegen konnte. In Emanuels Augen glaͤnzte eine unausſprechliche Liebe fuͤr ſeinen geruͤhrten Schuͤler. Emanuel kam auf ſeinen Todestag, um jenen zu troͤſten und ſtellte ihm vor, daß er erſt in einem Jahre von hinnen gehen koͤnne: er bauete ſeine ſchwaͤrmeriſche Weiſſagung auf zwei Gruͤnde, daß erſtlich ſeine meiſten maͤnnli¬ chen Verwandten am naͤmlichen Tage und im naͤm¬ lichen Stufenjahre geſtorben waͤren, zweitens daß ſchon mehrere Schwindſuͤchtige in ihrer zerſtoͤrten Bruſt wie in einem Zauberſpiegel ihren letzten Tag geleſen haͤtten. Viktor beſtritt ihn; er zeigte, die Erklaͤrung des letztern Phaͤnomens, als koͤnne der Hektiker aus dem regelmaͤßigen ſtufenweiſen dimi¬ nuendo oder Fallen der Lebenskraft leicht die letzte Stufe oder den Gefrierpunkt vorausfuͤhlen, ſey falſch, weil Gefuͤhle der Zukunft in der Gegenwart Widerſpruͤche (in adjecto) waͤren und weil wir mit¬ ten im Leben ſo wenig den Eintritt des Todes als im Wachen den Eintritt des Schlafes (trotz gleicher Stufenfolge) voraus empfinden koͤnnten. Viktor
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womit die Braut den Abend voll kindlicher Erinne¬
rungen an der Bruſt der geliebten Mutter zubringt,
eh' ſie am Morgen dem Braͤutigam entgegen zieht.
Viktor warf ſich jeden vergoſſenen Blutstropfen
vor und entſchloß ſich, heute zu gehen, weil dieſe
Pſyche mit ihren großen Fluͤgeln ſich in ihrem Ge¬
webe nicht mehr ohne Riſſe bewegen konnte. In
Emanuels Augen glaͤnzte eine unausſprechliche Liebe
fuͤr ſeinen geruͤhrten Schuͤler. Emanuel kam auf
ſeinen Todestag, um jenen zu troͤſten und ſtellte ihm
vor, daß er erſt in einem Jahre von hinnen gehen
koͤnne: er bauete ſeine ſchwaͤrmeriſche Weiſſagung
auf zwei Gruͤnde, daß erſtlich ſeine meiſten maͤnnli¬
chen Verwandten am naͤmlichen Tage und im naͤm¬
lichen Stufenjahre geſtorben waͤren, zweitens daß
ſchon mehrere Schwindſuͤchtige in ihrer zerſtoͤrten
Bruſt wie in einem Zauberſpiegel ihren letzten Tag
geleſen haͤtten. Viktor beſtritt ihn; er zeigte, die
Erklaͤrung des letztern Phaͤnomens, als koͤnne der
Hektiker aus dem regelmaͤßigen ſtufenweiſen dimi¬
nuendo oder Fallen der Lebenskraft leicht die letzte
Stufe oder den Gefrierpunkt vorausfuͤhlen, ſey
falſch, weil Gefuͤhle der Zukunft in der Gegenwart
Widerſpruͤche (in adjecto) waͤren und weil wir mit¬
ten im Leben ſo wenig den Eintritt des Todes als
im Wachen den Eintritt des Schlafes (trotz gleicher
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 346. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/357>, abgerufen am 21.11.2024.
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