Emanuels vor sein Auge -- diese schien zu sagen: "in einem Jahre bin ich schon unter der Erde, "komme nurzu mir, Armer, ich will dich so lange "lieben bis ich sterbe!" Ohne ein Licht zu begehren, schrieb er mit strömenden Augen, denen ohnehin kei¬ nes geholfen hätte, dieses Blatt an Emanuel:
Emanuel!
Sage nicht zu mir: ich kenne dich nicht! -- Warum kann der Mensch auf dem schmalen Son¬ nenstäubgen Erde, auf dem er warm wird, und während den schnellen Augenblicken, die er am Pulse abzählt zwischen dem Blitze des Lebens und dem Schlage des Todes, noch einen Unterschied machen unter Bekannten und Unbekannten? Warum fallen die kleinen Wesen, die einerlei Wunden haben und von denen die Zeit das nämliche Maas zum Sarge nimmt, nicht einander ohne Zögern mit dem Seuf¬ zer in die Arme: "ach wohl sind wir einander ähn¬ lich und bekannt?" -- Warum müssen erst die Fleischstatuen, worein unsre Geister eingekettet sind, zusammenrücken und einander betasten, damit die darin vermummten Wesen sich einander denken und sich lieben? -- Und doch ists so menschlich und wahr: was nimmt uns denn der Tod anders als Fleischstatuen -- als das geliebte Angesicht unsern Augen -- als die theuere Stimme unsern Ohren und
Emanuels vor ſein Auge — dieſe ſchien zu ſagen: »in einem Jahre bin ich ſchon unter der Erde, »komme nurzu mir, Armer, ich will dich ſo lange »lieben bis ich ſterbe!« Ohne ein Licht zu begehren, ſchrieb er mit ſtroͤmenden Augen, denen ohnehin kei¬ nes geholfen haͤtte, dieſes Blatt an Emanuel:
Emanuel!
Sage nicht zu mir: ich kenne dich nicht! — Warum kann der Menſch auf dem ſchmalen Son¬ nenſtaͤubgen Erde, auf dem er warm wird, und waͤhrend den ſchnellen Augenblicken, die er am Pulſe abzaͤhlt zwiſchen dem Blitze des Lebens und dem Schlage des Todes, noch einen Unterſchied machen unter Bekannten und Unbekannten? Warum fallen die kleinen Weſen, die einerlei Wunden haben und von denen die Zeit das naͤmliche Maas zum Sarge nimmt, nicht einander ohne Zoͤgern mit dem Seuf¬ zer in die Arme: »ach wohl ſind wir einander aͤhn¬ lich und bekannt?« — Warum muͤſſen erſt die Fleiſchſtatuen, worein unſre Geiſter eingekettet ſind, zuſammenruͤcken und einander betaſten, damit die darin vermummten Weſen ſich einander denken und ſich lieben? — Und doch iſts ſo menſchlich und wahr: was nimmt uns denn der Tod anders als Fleiſchſtatuen — als das geliebte Angeſicht unſern Augen — als die theuere Stimme unſern Ohren und
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Emanuels vor ſein Auge — dieſe ſchien zu ſagen:
»in einem Jahre bin ich ſchon unter der Erde,
»komme nur zu mir, Armer, ich will dich ſo lange
»lieben bis ich ſterbe!« Ohne ein Licht zu begehren,
ſchrieb er mit ſtroͤmenden Augen, denen ohnehin kei¬
nes geholfen haͤtte, dieſes Blatt an Emanuel:
Emanuel!
Sage nicht zu mir: ich kenne dich nicht! —
Warum kann der Menſch auf dem ſchmalen Son¬
nenſtaͤubgen Erde, auf dem er warm wird, und
waͤhrend den ſchnellen Augenblicken, die er am Pulſe
abzaͤhlt zwiſchen dem Blitze des Lebens und dem
Schlage des Todes, noch einen Unterſchied machen
unter Bekannten und Unbekannten? Warum fallen
die kleinen Weſen, die einerlei Wunden haben und
von denen die Zeit das naͤmliche Maas zum Sarge
nimmt, nicht einander ohne Zoͤgern mit dem Seuf¬
zer in die Arme: »ach wohl ſind wir einander aͤhn¬
lich und bekannt?« — Warum muͤſſen erſt die
Fleiſchſtatuen, worein unſre Geiſter eingekettet ſind,
zuſammenruͤcken und einander betaſten, damit die
darin vermummten Weſen ſich einander denken und
ſich lieben? — Und doch iſts ſo menſchlich und
wahr: was nimmt uns denn der Tod anders als
Fleiſchſtatuen — als das geliebte Angeſicht unſern
Augen — als die theuere Stimme unſern Ohren und
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Jean Paul: Hesperus, oder 45 Hundsposttage. Erstes Heftlein. Berlin, 1795, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/paul_hesperus01_1795/166>, abgerufen am 23.11.2024.
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