Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].sagen: pectus est quod disertos facit! Alles andere fehlte ihm. Die Stimme war laut und schreiend, der Vortrag nicht zusammenhängend, die Ausdrücke entbehrten oft der gehörigen Klarheit. Wenn er eine Periode anfing, so stockte er nach dem Vordersatze, änderte die Prämissen, half sich gewaltsam aus der Verlegenheit, und schloß in einer ganz andern Konstruktion, als in der er angefangen. Allein diese Mängel schwammen, so zu sagen, nur auf der Oberfläche seiner Rede; in der Tiefe blieb immer ein gesunder Kern von Thatsachen und Wahrheiten, den man nach und nach aus der unschmackhaften Schale herauslösen lernte. Er hatte noch eine verwünschte Angewohnheit. War sein Vortrag nach vieler Mühe in Fluß gerathen, und fing an, frei dahin zu strömen, so daß man mit steigendem Interesse folgte, so schnappte er plötzlich ab, um uns einige kurze Sätze zu diktiren, die den Inhalt des eben vorgetragenen enthielten. Man wurde aus der geistigen Operation des denkenden Zuhörens in das mechanische Geschäft des Aufschreibens hinübergerissen. Als wir später mit Schlosser etwas genauer bekannt wurden und in seinem Hause verkehrten, hielten wir es nicht für unbescheiden, nach der Ursache dieser störenden Gewohnheit zu fragen. Er erwiederte, daß bei seinen süddeutschen Zuhörern keine hinlängliche Vorbildung vorauszusetzen sei, um einen freien Vortrag in genügender Weise nachzuschreiben. Schlosser stammte aus der ostfriesischen Hauptstadt Jever, hart an der Nordseeküste. Er setzte uns auseinander, daß die Bevölkerung dieser Strandgegenden zwar sehr dünn, aber desto kräftiger sei: denn alle Kinder werden im ersten Jahre ihres Alters von einem Marschfieber heimgesucht, das über die Hälfte davon hinwegrafft, die sagen: pectus est quod disertos facit! Alles andere fehlte ihm. Die Stimme war laut und schreiend, der Vortrag nicht zusammenhängend, die Ausdrücke entbehrten oft der gehörigen Klarheit. Wenn er eine Periode anfing, so stockte er nach dem Vordersatze, änderte die Prämissen, half sich gewaltsam aus der Verlegenheit, und schloß in einer ganz andern Konstruktion, als in der er angefangen. Allein diese Mängel schwammen, so zu sagen, nur auf der Oberfläche seiner Rede; in der Tiefe blieb immer ein gesunder Kern von Thatsachen und Wahrheiten, den man nach und nach aus der unschmackhaften Schale herauslösen lernte. Er hatte noch eine verwünschte Angewohnheit. War sein Vortrag nach vieler Mühe in Fluß gerathen, und fing an, frei dahin zu strömen, so daß man mit steigendem Interesse folgte, so schnappte er plötzlich ab, um uns einige kurze Sätze zu diktiren, die den Inhalt des eben vorgetragenen enthielten. Man wurde aus der geistigen Operation des denkenden Zuhörens in das mechanische Geschäft des Aufschreibens hinübergerissen. Als wir später mit Schlosser etwas genauer bekannt wurden und in seinem Hause verkehrten, hielten wir es nicht für unbescheiden, nach der Ursache dieser störenden Gewohnheit zu fragen. Er erwiederte, daß bei seinen süddeutschen Zuhörern keine hinlängliche Vorbildung vorauszusetzen sei, um einen freien Vortrag in genügender Weise nachzuschreiben. Schlosser stammte aus der ostfriesischen Hauptstadt Jever, hart an der Nordseeküste. Er setzte uns auseinander, daß die Bevölkerung dieser Strandgegenden zwar sehr dünn, aber desto kräftiger sei: denn alle Kinder werden im ersten Jahre ihres Alters von einem Marschfieber heimgesucht, das über die Hälfte davon hinwegrafft, die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0336" n="328"/> sagen: <hi rendition="#i">pectus est quod disertos facit!</hi> Alles andere fehlte ihm. Die Stimme war laut und schreiend, der Vortrag nicht zusammenhängend, die Ausdrücke entbehrten oft der gehörigen Klarheit. Wenn er eine Periode anfing, so stockte er nach dem Vordersatze, änderte die Prämissen, half sich gewaltsam aus der Verlegenheit, und schloß in einer ganz andern Konstruktion, als in der er angefangen. Allein diese Mängel schwammen, so zu sagen, nur auf der Oberfläche seiner Rede; in der Tiefe blieb immer ein gesunder Kern von Thatsachen und Wahrheiten, den man nach und nach aus der unschmackhaften Schale herauslösen lernte. Er hatte noch eine verwünschte Angewohnheit. War sein Vortrag nach vieler Mühe in Fluß gerathen, und fing an, frei dahin zu strömen, so daß man mit steigendem Interesse folgte, so schnappte er plötzlich ab, um uns einige kurze Sätze zu diktiren, die den Inhalt des eben vorgetragenen enthielten. Man wurde aus der geistigen Operation des denkenden Zuhörens in das mechanische Geschäft des Aufschreibens hinübergerissen. Als wir später mit Schlosser etwas genauer bekannt wurden und in seinem Hause verkehrten, hielten wir es nicht für unbescheiden, nach der Ursache dieser störenden Gewohnheit zu fragen. Er erwiederte, daß bei seinen süddeutschen Zuhörern keine hinlängliche Vorbildung vorauszusetzen sei, um einen freien Vortrag in genügender Weise nachzuschreiben. </p><lb/> <p> Schlosser stammte aus der ostfriesischen Hauptstadt Jever, hart an der Nordseeküste. Er setzte uns auseinander, daß die Bevölkerung dieser Strandgegenden zwar sehr dünn, aber desto kräftiger sei: denn alle Kinder werden im ersten Jahre ihres Alters von einem Marschfieber heimgesucht, das über die Hälfte davon hinwegrafft, die </p> </div> </body> </text> </TEI> [328/0336]
sagen: pectus est quod disertos facit! Alles andere fehlte ihm. Die Stimme war laut und schreiend, der Vortrag nicht zusammenhängend, die Ausdrücke entbehrten oft der gehörigen Klarheit. Wenn er eine Periode anfing, so stockte er nach dem Vordersatze, änderte die Prämissen, half sich gewaltsam aus der Verlegenheit, und schloß in einer ganz andern Konstruktion, als in der er angefangen. Allein diese Mängel schwammen, so zu sagen, nur auf der Oberfläche seiner Rede; in der Tiefe blieb immer ein gesunder Kern von Thatsachen und Wahrheiten, den man nach und nach aus der unschmackhaften Schale herauslösen lernte. Er hatte noch eine verwünschte Angewohnheit. War sein Vortrag nach vieler Mühe in Fluß gerathen, und fing an, frei dahin zu strömen, so daß man mit steigendem Interesse folgte, so schnappte er plötzlich ab, um uns einige kurze Sätze zu diktiren, die den Inhalt des eben vorgetragenen enthielten. Man wurde aus der geistigen Operation des denkenden Zuhörens in das mechanische Geschäft des Aufschreibens hinübergerissen. Als wir später mit Schlosser etwas genauer bekannt wurden und in seinem Hause verkehrten, hielten wir es nicht für unbescheiden, nach der Ursache dieser störenden Gewohnheit zu fragen. Er erwiederte, daß bei seinen süddeutschen Zuhörern keine hinlängliche Vorbildung vorauszusetzen sei, um einen freien Vortrag in genügender Weise nachzuschreiben.
Schlosser stammte aus der ostfriesischen Hauptstadt Jever, hart an der Nordseeküste. Er setzte uns auseinander, daß die Bevölkerung dieser Strandgegenden zwar sehr dünn, aber desto kräftiger sei: denn alle Kinder werden im ersten Jahre ihres Alters von einem Marschfieber heimgesucht, das über die Hälfte davon hinwegrafft, die
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Zitationshilfe: | Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/336>, abgerufen am 16.02.2025. |