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Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871].

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von hohen Gebäuden umgebenen Hof. Nun wollte auch noch das Unglück, daß Lettow bald nach dem Beginne des Unterrichtes eine langwierige und schmerzhafte Krankheit bekam, die ihn zwar am Lehren nicht hinderte, aber ihn nöthigte, viele Bäder zu nehmen. Fritz guckte einmal durch die Thür der Nebenstube, und sah die angefüllte Badewanne darin stehn. Dies war genug, um uns den äußersten Widerwillen einzuflößen, der durch Lettows nachlässigen Anzug, und besonders durch seinen keineswegs sauberen Schlafrock noch vermehrt ward. War es uns zu verdenken, wenn wir uns diesen qualvollen Stunden, so oft es anging, entzogen? Manchmal, wenn wir in der Sommerhitze um 12 Uhr vor dem Hause standen, nachdem wir schon 4 Stunden in der Klasse geschwitzt, zog Fritz ganz leise, leise an der Glockenschnur, so daß man inwendig nichts hören konnte, und wiederholte dies Manöver nach zehn Minuten. Dann hieß es: Lettow ist heute auf seinem Garten geblieben; und sehr vergnügt gingen wir nach Hause. Fragte nun Lettow in der nächsten Stunde, warum wir gefehlt, so sagte Fritz mit der edelsten Dreistigkeit: Herr Superintendent! wir haben zwei Mal geklingelt, aber es wurde uns nicht geöffnet!

Ueber die Hauptsache, den ethischen Karakter des Religionsunterrichtes wüßte ich nur zu sagen, daß er uns vollkommen kalt ließ. "Religion ist Erkenntniß und Verehrung Gottes. Der Mensch hat Pflichten gegen Gott, gegen seine Nebenmenschen und gegen sich selbst." Diese und ähnliche Sätze gaben Anlaß zu mancherlei moralischen Betrachtungen. In Luthers kleinem Katechismus war uns das Auswendiglernen des "Was ist das?" im höchsten Grade zuwider, weil wir den schlichten Sinn der einfachen

von hohen Gebäuden umgebenen Hof. Nun wollte auch noch das Unglück, daß Lettow bald nach dem Beginne des Unterrichtes eine langwierige und schmerzhafte Krankheit bekam, die ihn zwar am Lehren nicht hinderte, aber ihn nöthigte, viele Bäder zu nehmen. Fritz guckte einmal durch die Thür der Nebenstube, und sah die angefüllte Badewanne darin stehn. Dies war genug, um uns den äußersten Widerwillen einzuflößen, der durch Lettows nachlässigen Anzug, und besonders durch seinen keineswegs sauberen Schlafrock noch vermehrt ward. War es uns zu verdenken, wenn wir uns diesen qualvollen Stunden, so oft es anging, entzogen? Manchmal, wenn wir in der Sommerhitze um 12 Uhr vor dem Hause standen, nachdem wir schon 4 Stunden in der Klasse geschwitzt, zog Fritz ganz leise, leise an der Glockenschnur, so daß man inwendig nichts hören konnte, und wiederholte dies Manöver nach zehn Minuten. Dann hieß es: Lettow ist heute auf seinem Garten geblieben; und sehr vergnügt gingen wir nach Hause. Fragte nun Lettow in der nächsten Stunde, warum wir gefehlt, so sagte Fritz mit der edelsten Dreistigkeit: Herr Superintendent! wir haben zwei Mal geklingelt, aber es wurde uns nicht geöffnet!

Ueber die Hauptsache, den ethischen Karakter des Religionsunterrichtes wüßte ich nur zu sagen, daß er uns vollkommen kalt ließ. „Religion ist Erkenntniß und Verehrung Gottes. Der Mensch hat Pflichten gegen Gott, gegen seine Nebenmenschen und gegen sich selbst.“ Diese und ähnliche Sätze gaben Anlaß zu mancherlei moralischen Betrachtungen. In Luthers kleinem Katechismus war uns das Auswendiglernen des „Was ist das?“ im höchsten Grade zuwider, weil wir den schlichten Sinn der einfachen

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[170/0178] von hohen Gebäuden umgebenen Hof. Nun wollte auch noch das Unglück, daß Lettow bald nach dem Beginne des Unterrichtes eine langwierige und schmerzhafte Krankheit bekam, die ihn zwar am Lehren nicht hinderte, aber ihn nöthigte, viele Bäder zu nehmen. Fritz guckte einmal durch die Thür der Nebenstube, und sah die angefüllte Badewanne darin stehn. Dies war genug, um uns den äußersten Widerwillen einzuflößen, der durch Lettows nachlässigen Anzug, und besonders durch seinen keineswegs sauberen Schlafrock noch vermehrt ward. War es uns zu verdenken, wenn wir uns diesen qualvollen Stunden, so oft es anging, entzogen? Manchmal, wenn wir in der Sommerhitze um 12 Uhr vor dem Hause standen, nachdem wir schon 4 Stunden in der Klasse geschwitzt, zog Fritz ganz leise, leise an der Glockenschnur, so daß man inwendig nichts hören konnte, und wiederholte dies Manöver nach zehn Minuten. Dann hieß es: Lettow ist heute auf seinem Garten geblieben; und sehr vergnügt gingen wir nach Hause. Fragte nun Lettow in der nächsten Stunde, warum wir gefehlt, so sagte Fritz mit der edelsten Dreistigkeit: Herr Superintendent! wir haben zwei Mal geklingelt, aber es wurde uns nicht geöffnet! Ueber die Hauptsache, den ethischen Karakter des Religionsunterrichtes wüßte ich nur zu sagen, daß er uns vollkommen kalt ließ. „Religion ist Erkenntniß und Verehrung Gottes. Der Mensch hat Pflichten gegen Gott, gegen seine Nebenmenschen und gegen sich selbst.“ Diese und ähnliche Sätze gaben Anlaß zu mancherlei moralischen Betrachtungen. In Luthers kleinem Katechismus war uns das Auswendiglernen des „Was ist das?“ im höchsten Grade zuwider, weil wir den schlichten Sinn der einfachen

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Zitationshilfe: Parthey, Gustav: Jugenderinnerungen. Bd. 2. Berlin, [1871], S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/parthey_jugenderinnerungen02_1871/178>, abgerufen am 25.11.2024.