Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.stellen zu wollen, klänge wie Hohn. Auch die Synagogen sind jeden Schmuckes - auch des durch die Gesetzesauslegung erlaubten - bar. Hie und da ein schöner Messingleuchter, und in Brody ein wahrer Schatz herrlicher alter silberner Thorakronen, sprechen von vergangenen, besseren Zeiten. Landschaftlich ist der größte Teil Galiziens, den wir auf unserer Reise zu Wagen oder per Bahn kennen lernten, ziemlich reizlos, flach und eintönig, und wir mußten uns oft damit trösten, daß es fruchtbare Felder und gute Weiden waren, die sich unseren etwas Abwechslung suchenden Augen darboten. Die Anlagen der Städtchen und Dörfer haben wir sich fast gleichmäßig wiederholend vorgefunden. Ein großer, viereckiger Platz, von niederen Häusern umstanden, der Rynckplatz, auf dem der Markt abgehalten wird. Oft steht in der Mitte eine Propination, irgend ein öffentliches Gebäude, oder ein kleiner Komplex von Verkaufshütten. Charakteristisch für die durchschnittlich analphabetische Bevölkerung ist, daß die Firmenschilder nicht nur in hebräischer und polnischer Sprache Namen und Handel oder Handwerk verkünden, sondern daß, wie in der Kinderfibel, ein Anschauungsbild gleichzeitig die Verständigung mit übernimmt. Einige dieser Bilder wiederholen sich ganz typisch. So die Schere und ein verschlungenes Ellenmaß für die Männerschneider, ein wie eine Käferlarve aussehendes, fest gewickeltes Kind auf den Schildern der Hebammen u. s. w. Die Märkte bieten ein sehr bewegtes, buntes Bild. Die Bauern und Bäuerinnen in ihren grellfarbigen Röcken und Tüchern, die Juden in der bekannten Tracht schreien und gestikulieren heftig. Meistens "handeln" sie, oft auch in nicht unanfechtbarer Weise, in sogenannten Luftgeschäften, Mäklerei, Übertragung von Ansprüchen u. s. w. Wir sehen aber auch viele Juden schwere Arbeiten verrichten, als Lastträger oder Fuhrknechte, aber das nur stundenweise, gewissermaßen ruckweise. Eine gleichmäßige, systematische, körperliche Arbeit vermeiden sie, soweit ich es beobachten konnte; dagegen sind sie Meister im Darben. Die Umsätze und der Verdienst für die Juden sind sehr gering, die Preise der Lebensmittel sind verhältnismäßig sehr hoch. Bemerkenswert ist, daß man unter der jüdischen Bevölkerung stellen zu wollen, klänge wie Hohn. Auch die Synagogen sind jeden Schmuckes – auch des durch die Gesetzesauslegung erlaubten – bar. Hie und da ein schöner Messingleuchter, und in Brody ein wahrer Schatz herrlicher alter silberner Thorakronen, sprechen von vergangenen, besseren Zeiten. Landschaftlich ist der größte Teil Galiziens, den wir auf unserer Reise zu Wagen oder per Bahn kennen lernten, ziemlich reizlos, flach und eintönig, und wir mußten uns oft damit trösten, daß es fruchtbare Felder und gute Weiden waren, die sich unseren etwas Abwechslung suchenden Augen darboten. Die Anlagen der Städtchen und Dörfer haben wir sich fast gleichmäßig wiederholend vorgefunden. Ein großer, viereckiger Platz, von niederen Häusern umstanden, der Rynckplatz, auf dem der Markt abgehalten wird. Oft steht in der Mitte eine Propination, irgend ein öffentliches Gebäude, oder ein kleiner Komplex von Verkaufshütten. Charakteristisch für die durchschnittlich analphabetische Bevölkerung ist, daß die Firmenschilder nicht nur in hebräischer und polnischer Sprache Namen und Handel oder Handwerk verkünden, sondern daß, wie in der Kinderfibel, ein Anschauungsbild gleichzeitig die Verständigung mit übernimmt. Einige dieser Bilder wiederholen sich ganz typisch. So die Schere und ein verschlungenes Ellenmaß für die Männerschneider, ein wie eine Käferlarve aussehendes, fest gewickeltes Kind auf den Schildern der Hebammen u. s. w. Die Märkte bieten ein sehr bewegtes, buntes Bild. Die Bauern und Bäuerinnen in ihren grellfarbigen Röcken und Tüchern, die Juden in der bekannten Tracht schreien und gestikulieren heftig. Meistens „handeln“ sie, oft auch in nicht unanfechtbarer Weise, in sogenannten Luftgeschäften, Mäklerei, Übertragung von Ansprüchen u. s. w. Wir sehen aber auch viele Juden schwere Arbeiten verrichten, als Lastträger oder Fuhrknechte, aber das nur stundenweise, gewissermaßen ruckweise. Eine gleichmäßige, systematische, körperliche Arbeit vermeiden sie, soweit ich es beobachten konnte; dagegen sind sie Meister im Darben. Die Umsätze und der Verdienst für die Juden sind sehr gering, die Preise der Lebensmittel sind verhältnismäßig sehr hoch. Bemerkenswert ist, daß man unter der jüdischen Bevölkerung <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0008" n="8"/> stellen zu wollen, klänge wie Hohn. Auch die Synagogen sind jeden Schmuckes – auch des durch die Gesetzesauslegung erlaubten – bar. Hie und da ein schöner Messingleuchter, und in Brody ein wahrer Schatz herrlicher alter silberner Thorakronen, sprechen von vergangenen, besseren Zeiten.</p> <p>Landschaftlich ist der größte Teil Galiziens, den wir auf unserer Reise zu Wagen oder per Bahn kennen lernten, ziemlich reizlos, flach und eintönig, und wir mußten uns oft damit trösten, daß es fruchtbare Felder und gute Weiden waren, die sich unseren etwas Abwechslung suchenden Augen darboten.</p> <p>Die Anlagen der Städtchen und Dörfer haben wir sich fast gleichmäßig wiederholend vorgefunden. Ein großer, viereckiger Platz, von niederen Häusern umstanden, der Rynckplatz, auf dem der Markt abgehalten wird. Oft steht in der Mitte eine Propination, irgend ein öffentliches Gebäude, oder ein kleiner Komplex von Verkaufshütten.</p> <p>Charakteristisch für die durchschnittlich analphabetische Bevölkerung ist, daß die Firmenschilder nicht nur in hebräischer und polnischer Sprache Namen und Handel oder Handwerk verkünden, sondern daß, wie in der Kinderfibel, ein Anschauungsbild gleichzeitig die Verständigung mit übernimmt. Einige dieser Bilder wiederholen sich ganz typisch. So die Schere und ein verschlungenes Ellenmaß für die Männerschneider, ein wie eine Käferlarve aussehendes, fest gewickeltes Kind auf den Schildern der Hebammen u. s. w.</p> <p>Die Märkte bieten ein sehr bewegtes, buntes Bild. Die Bauern und Bäuerinnen in ihren grellfarbigen Röcken und Tüchern, die Juden in der bekannten Tracht schreien und gestikulieren heftig. Meistens „handeln“ sie, oft auch in nicht unanfechtbarer Weise, in sogenannten Luftgeschäften, Mäklerei, Übertragung von Ansprüchen u. s. w. Wir sehen aber auch viele Juden schwere Arbeiten verrichten, als Lastträger oder Fuhrknechte, aber das nur stundenweise, gewissermaßen ruckweise. Eine gleichmäßige, systematische, körperliche Arbeit vermeiden sie, soweit ich es beobachten konnte; dagegen sind sie Meister im Darben. Die Umsätze und der Verdienst für die Juden sind sehr gering, die Preise der Lebensmittel sind verhältnismäßig sehr hoch.</p> <p>Bemerkenswert ist, daß man unter der jüdischen Bevölkerung </p> </div> </body> </text> </TEI> [8/0008]
stellen zu wollen, klänge wie Hohn. Auch die Synagogen sind jeden Schmuckes – auch des durch die Gesetzesauslegung erlaubten – bar. Hie und da ein schöner Messingleuchter, und in Brody ein wahrer Schatz herrlicher alter silberner Thorakronen, sprechen von vergangenen, besseren Zeiten.
Landschaftlich ist der größte Teil Galiziens, den wir auf unserer Reise zu Wagen oder per Bahn kennen lernten, ziemlich reizlos, flach und eintönig, und wir mußten uns oft damit trösten, daß es fruchtbare Felder und gute Weiden waren, die sich unseren etwas Abwechslung suchenden Augen darboten.
Die Anlagen der Städtchen und Dörfer haben wir sich fast gleichmäßig wiederholend vorgefunden. Ein großer, viereckiger Platz, von niederen Häusern umstanden, der Rynckplatz, auf dem der Markt abgehalten wird. Oft steht in der Mitte eine Propination, irgend ein öffentliches Gebäude, oder ein kleiner Komplex von Verkaufshütten.
Charakteristisch für die durchschnittlich analphabetische Bevölkerung ist, daß die Firmenschilder nicht nur in hebräischer und polnischer Sprache Namen und Handel oder Handwerk verkünden, sondern daß, wie in der Kinderfibel, ein Anschauungsbild gleichzeitig die Verständigung mit übernimmt. Einige dieser Bilder wiederholen sich ganz typisch. So die Schere und ein verschlungenes Ellenmaß für die Männerschneider, ein wie eine Käferlarve aussehendes, fest gewickeltes Kind auf den Schildern der Hebammen u. s. w.
Die Märkte bieten ein sehr bewegtes, buntes Bild. Die Bauern und Bäuerinnen in ihren grellfarbigen Röcken und Tüchern, die Juden in der bekannten Tracht schreien und gestikulieren heftig. Meistens „handeln“ sie, oft auch in nicht unanfechtbarer Weise, in sogenannten Luftgeschäften, Mäklerei, Übertragung von Ansprüchen u. s. w. Wir sehen aber auch viele Juden schwere Arbeiten verrichten, als Lastträger oder Fuhrknechte, aber das nur stundenweise, gewissermaßen ruckweise. Eine gleichmäßige, systematische, körperliche Arbeit vermeiden sie, soweit ich es beobachten konnte; dagegen sind sie Meister im Darben. Die Umsätze und der Verdienst für die Juden sind sehr gering, die Preise der Lebensmittel sind verhältnismäßig sehr hoch.
Bemerkenswert ist, daß man unter der jüdischen Bevölkerung
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/8 |
Zitationshilfe: | Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/8>, abgerufen am 27.07.2024. |