Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.Sehr gut gestellt sind die jüdischen Arbeiter in den Borislawer Naphtha-Gruben. Im ganzen kann gesagt werden, daß die jüdischen Fabrikarbeiter Galiziens ein äußerst intelligenter und lebensfähiger Menschenschlag sind. Der Mangel an Industrie im Lande bringt es leider mit sich, daß nur ein kleiner Prozentsatz der galizischen Bevölkerung in den industriellen Betrieben Arbeit finden kann. Die Frage, ob künstliche Industriebetriebe durch die Philanthropie einzuführen seien, muß entschieden verneint werden. In dieser Hinsicht wurden uns zwei Vorschläge gemacht. In Tarnow hat uns ein ruinierter Nudelfabrikant die Errichtung einer Nudelfabrik vorgeschlagen, da, nach seiner Angabe in ganz Galizien nur noch eine einzige Nudelfabrik in Lemberg bestehe. In Brody wurde uns ebenfalls von einem früheren Fabrikanten die Errichtung einer Strickwarenfabrik vorgeschlagen. Ich vermag eine Unterstützung beider Projekte aus folgenden Gründen nicht anzuraten: es wurde absichtlich betont, daß beide Fabrikanten, die diese Vorschläge machten, als selbständige Unternehmer durch ungenügende Mittel ruiniert waren. Nicht der Unternehmungsgeist fehlt hier, sondern der Kredit. Um also neue Industrien für die galizischen Juden zu schaffen, bedarf es nicht neuer Unternehmungen, sondern eines gut geregelten industriellen Kredits. Ein philanthropisches Institut kann aber nie die Regelung des industriellen Kredites übernehmen, die auf den kompliziertesten Bankoperationen beruht. Darum muß die Frage der Industrialisierung Galiziens der allgemeinen Entwicklung des Landes überlassen werden. Die speziell für jüdische Frauen von der J. C. A. gegründeten industriellen Unternehmungen lassen viel zu wünschen übrig. Sie vereinigen die Mängel des Kollektiv- und des Privatbetriebes. Auf der einen Seite sind sie, wie alle Kollektivbetriebe, schwerfällig und in ihrer Administration kostspielig, auf der anderen Seite treten sie den Arbeitern gegenüber als größte Ausbeuter auf, da die kaufmännische Seite Mittelspersonen überlassen wird. Tatsächlich habe ich speziell in der Strumpfwirkerei der J. C. A. in Kolomea von den gemeinsten Fällen Menschenwuchers gehört. Die Arbeiterinnen machen dort den Eindruck von ganz unterdrückten Sehr gut gestellt sind die jüdischen Arbeiter in den Borislawer Naphtha-Gruben. Im ganzen kann gesagt werden, daß die jüdischen Fabrikarbeiter Galiziens ein äußerst intelligenter und lebensfähiger Menschenschlag sind. Der Mangel an Industrie im Lande bringt es leider mit sich, daß nur ein kleiner Prozentsatz der galizischen Bevölkerung in den industriellen Betrieben Arbeit finden kann. Die Frage, ob künstliche Industriebetriebe durch die Philanthropie einzuführen seien, muß entschieden verneint werden. In dieser Hinsicht wurden uns zwei Vorschläge gemacht. In Tarnow hat uns ein ruinierter Nudelfabrikant die Errichtung einer Nudelfabrik vorgeschlagen, da, nach seiner Angabe in ganz Galizien nur noch eine einzige Nudelfabrik in Lemberg bestehe. In Brody wurde uns ebenfalls von einem früheren Fabrikanten die Errichtung einer Strickwarenfabrik vorgeschlagen. Ich vermag eine Unterstützung beider Projekte aus folgenden Gründen nicht anzuraten: es wurde absichtlich betont, daß beide Fabrikanten, die diese Vorschläge machten, als selbständige Unternehmer durch ungenügende Mittel ruiniert waren. Nicht der Unternehmungsgeist fehlt hier, sondern der Kredit. Um also neue Industrien für die galizischen Juden zu schaffen, bedarf es nicht neuer Unternehmungen, sondern eines gut geregelten industriellen Kredits. Ein philanthropisches Institut kann aber nie die Regelung des industriellen Kredites übernehmen, die auf den kompliziertesten Bankoperationen beruht. Darum muß die Frage der Industrialisierung Galiziens der allgemeinen Entwicklung des Landes überlassen werden. Die speziell für jüdische Frauen von der J. C. A. gegründeten industriellen Unternehmungen lassen viel zu wünschen übrig. Sie vereinigen die Mängel des Kollektiv- und des Privatbetriebes. Auf der einen Seite sind sie, wie alle Kollektivbetriebe, schwerfällig und in ihrer Administration kostspielig, auf der anderen Seite treten sie den Arbeitern gegenüber als größte Ausbeuter auf, da die kaufmännische Seite Mittelspersonen überlassen wird. Tatsächlich habe ich speziell in der Strumpfwirkerei der J. C. A. in Kolomea von den gemeinsten Fällen Menschenwuchers gehört. 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In Brody wurde uns ebenfalls von einem früheren Fabrikanten die Errichtung einer Strickwarenfabrik vorgeschlagen.</p> <p>Ich vermag eine Unterstützung beider Projekte aus folgenden Gründen nicht anzuraten: es wurde absichtlich betont, daß beide Fabrikanten, die diese Vorschläge machten, als selbständige Unternehmer durch ungenügende Mittel ruiniert waren. Nicht der Unternehmungsgeist fehlt hier, sondern der Kredit.</p> <p>Um also neue Industrien für die galizischen Juden zu <choice><sic>schafffen</sic><corr>schaffen</corr></choice>, bedarf es nicht neuer Unternehmungen, sondern eines gut geregelten industriellen Kredits. Ein philanthropisches Institut kann aber nie die Regelung des industriellen Kredites übernehmen, die auf den kompliziertesten Bankoperationen beruht. Darum muß die Frage der Industrialisierung Galiziens der allgemeinen Entwicklung des Landes überlassen werden.</p> <p>Die speziell für jüdische Frauen von der J. C. A. gegründeten industriellen Unternehmungen lassen viel zu wünschen übrig.</p> <p>Sie vereinigen die Mängel des Kollektiv- und des Privatbetriebes.</p> <p>Auf der einen Seite sind sie, wie alle Kollektivbetriebe, schwerfällig und in ihrer Administration kostspielig, auf der anderen Seite treten sie den Arbeitern gegenüber als größte Ausbeuter auf, da die kaufmännische Seite Mittelspersonen überlassen wird. Tatsächlich habe ich speziell in der Strumpfwirkerei der J. C. A. in Kolomea von den gemeinsten Fällen Menschenwuchers gehört.</p> <p>Die Arbeiterinnen machen dort den Eindruck von ganz unterdrückten </p> </div> </body> </text> </TEI> [74/0074]
Sehr gut gestellt sind die jüdischen Arbeiter in den Borislawer Naphtha-Gruben.
Im ganzen kann gesagt werden, daß die jüdischen Fabrikarbeiter Galiziens ein äußerst intelligenter und lebensfähiger Menschenschlag sind. Der Mangel an Industrie im Lande bringt es leider mit sich, daß nur ein kleiner Prozentsatz der galizischen Bevölkerung in den industriellen Betrieben Arbeit finden kann.
Die Frage, ob künstliche Industriebetriebe durch die Philanthropie einzuführen seien, muß entschieden verneint werden.
In dieser Hinsicht wurden uns zwei Vorschläge gemacht.
In Tarnow hat uns ein ruinierter Nudelfabrikant die Errichtung einer Nudelfabrik vorgeschlagen, da, nach seiner Angabe in ganz Galizien nur noch eine einzige Nudelfabrik in Lemberg bestehe. In Brody wurde uns ebenfalls von einem früheren Fabrikanten die Errichtung einer Strickwarenfabrik vorgeschlagen.
Ich vermag eine Unterstützung beider Projekte aus folgenden Gründen nicht anzuraten: es wurde absichtlich betont, daß beide Fabrikanten, die diese Vorschläge machten, als selbständige Unternehmer durch ungenügende Mittel ruiniert waren. Nicht der Unternehmungsgeist fehlt hier, sondern der Kredit.
Um also neue Industrien für die galizischen Juden zu schaffen, bedarf es nicht neuer Unternehmungen, sondern eines gut geregelten industriellen Kredits. Ein philanthropisches Institut kann aber nie die Regelung des industriellen Kredites übernehmen, die auf den kompliziertesten Bankoperationen beruht. Darum muß die Frage der Industrialisierung Galiziens der allgemeinen Entwicklung des Landes überlassen werden.
Die speziell für jüdische Frauen von der J. C. A. gegründeten industriellen Unternehmungen lassen viel zu wünschen übrig.
Sie vereinigen die Mängel des Kollektiv- und des Privatbetriebes.
Auf der einen Seite sind sie, wie alle Kollektivbetriebe, schwerfällig und in ihrer Administration kostspielig, auf der anderen Seite treten sie den Arbeitern gegenüber als größte Ausbeuter auf, da die kaufmännische Seite Mittelspersonen überlassen wird. Tatsächlich habe ich speziell in der Strumpfwirkerei der J. C. A. in Kolomea von den gemeinsten Fällen Menschenwuchers gehört.
Die Arbeiterinnen machen dort den Eindruck von ganz unterdrückten
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Zitationshilfe: | Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/74>, abgerufen am 29.07.2024. |