Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.Betrieb anzufangen mußten die Juden von gelegentlichen Verkäufen Gebrauch machen. Dazu gehörte dreierlei: Kapital, Verständnis für die Landwirtschaft und die Gewohnheit der physischen Arbeit. Dies alles war nur dem Kapitalisten zugänglich, der das Land nicht nur kaufen, sondern es auch durch Ökonomen und Arbeiter bewirtschaften, resp. bebauen zu lassen im stande war. Der arme Jude aber, der kein Kapital zum Landankauf besaß, der weder eine Ahnung von dem landwirtschaftlichen Betrieb hatte, noch an schwere körperliche Arbeit gewöhnt war, konnte unmöglich, ohne jede Hilfe von außen, zur Landwirtschaft. übergehen. Dennoch findet man hier und da in Galizien kleinere Ansiedelungen von jüdischen Bauern. Eine solche habe ich in Czerniejow bei Stanislau kennen gelernt, wo sich seinerzeit eine ganze jüdische Kolonie niedergelassen hat, über deren Entstehen ich leider nichts erfahren konnte. Es handelt sich dabei um Kleinbetriebe, an denen die ganze Familie, außer den kleinen Kindern und Greisen mitarbeitet. Der Betrieb entspricht sowohl der Größe als auch der Bewirtschaftung nach dem allgemeinen Niveau der anderen bäuerlichen Güter Galiziens. Es sind Parzellenbetriebe von 5 bis 6 Joch (21/2 bis 3 Hektar) mit ganz primitiver Wirtschaftsweise. Die Bevölkerung besteht zumeist aus Analphabeten. Die jüdische Jugend wächst ohne Schulbildung heran, da die allgemeine Czerniejower Dorfschule den religiösen Ansprüchen der Juden nicht genügt und daher nur von wenigen jüdischen Knaben besucht wird. Dieser Mangel an Schulbildung läßt sich natürlich auch an der Wirtschaftsweise erkennen. Abhilfe ließe sich schaffen durch Gründung einer, wenn auch nur einklassigen Volksschule durch die Baron Hirsch-Stiftung, die, wie viele andere Baron Hirsch-Schulen, mit Abendklassen für Erwachsene verbunden sein könnte. Die Leiter und Lehrer dieser Schulen müßten sich die elementaren landwirtschaftlichen Kenntnisse aneignen, die durch eine eigens dazu eingerichtete populär-landwirtschaftliche Schulbibliothek ergänzt werden könnten. Eine solche Bildungsgelegenheit würde den ganzen Stand der Czerniejower Bauern heben. Der Pflege der landwirtschaftlichen Nebenbetriebe wie Gartenbau, Milchwirtschaft, Vieh- und Geflügelzucht wäre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Betrieb anzufangen mußten die Juden von gelegentlichen Verkäufen Gebrauch machen. Dazu gehörte dreierlei: Kapital, Verständnis für die Landwirtschaft und die Gewohnheit der physischen Arbeit. Dies alles war nur dem Kapitalisten zugänglich, der das Land nicht nur kaufen, sondern es auch durch Ökonomen und Arbeiter bewirtschaften, resp. bebauen zu lassen im stande war. Der arme Jude aber, der kein Kapital zum Landankauf besaß, der weder eine Ahnung von dem landwirtschaftlichen Betrieb hatte, noch an schwere körperliche Arbeit gewöhnt war, konnte unmöglich, ohne jede Hilfe von außen, zur Landwirtschaft. übergehen. Dennoch findet man hier und da in Galizien kleinere Ansiedelungen von jüdischen Bauern. Eine solche habe ich in Czerniejow bei Stanislau kennen gelernt, wo sich seinerzeit eine ganze jüdische Kolonie niedergelassen hat, über deren Entstehen ich leider nichts erfahren konnte. Es handelt sich dabei um Kleinbetriebe, an denen die ganze Familie, außer den kleinen Kindern und Greisen mitarbeitet. Der Betrieb entspricht sowohl der Größe als auch der Bewirtschaftung nach dem allgemeinen Niveau der anderen bäuerlichen Güter Galiziens. Es sind Parzellenbetriebe von 5 bis 6 Joch (2½ bis 3 Hektar) mit ganz primitiver Wirtschaftsweise. Die Bevölkerung besteht zumeist aus Analphabeten. Die jüdische Jugend wächst ohne Schulbildung heran, da die allgemeine Czerniejower Dorfschule den religiösen Ansprüchen der Juden nicht genügt und daher nur von wenigen jüdischen Knaben besucht wird. Dieser Mangel an Schulbildung läßt sich natürlich auch an der Wirtschaftsweise erkennen. Abhilfe ließe sich schaffen durch Gründung einer, wenn auch nur einklassigen Volksschule durch die Baron Hirsch-Stiftung, die, wie viele andere Baron Hirsch-Schulen, mit Abendklassen für Erwachsene verbunden sein könnte. Die Leiter und Lehrer dieser Schulen müßten sich die elementaren landwirtschaftlichen Kenntnisse aneignen, die durch eine eigens dazu eingerichtete populär-landwirtschaftliche Schulbibliothek ergänzt werden könnten. Eine solche Bildungsgelegenheit würde den ganzen Stand der Czerniejower Bauern heben. Der Pflege der landwirtschaftlichen Nebenbetriebe wie Gartenbau, Milchwirtschaft, Vieh- und Geflügelzucht wäre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0068" n="68"/> Betrieb anzufangen mußten die Juden von gelegentlichen Verkäufen Gebrauch machen. Dazu gehörte dreierlei: Kapital, Verständnis für die Landwirtschaft und die Gewohnheit der physischen Arbeit. Dies alles war nur dem Kapitalisten zugänglich, der das Land nicht nur kaufen, sondern es auch durch Ökonomen und Arbeiter bewirtschaften, resp. bebauen zu lassen im stande war. Der arme Jude aber, der kein Kapital zum Landankauf besaß, der weder eine Ahnung von dem landwirtschaftlichen Betrieb hatte, noch an schwere körperliche Arbeit gewöhnt war, konnte unmöglich, ohne jede Hilfe von außen, zur Landwirtschaft. übergehen.</p> <p>Dennoch findet man hier und da in Galizien kleinere Ansiedelungen von jüdischen Bauern. Eine solche habe ich in Czerniejow bei Stanislau kennen gelernt, wo sich seinerzeit eine ganze jüdische Kolonie niedergelassen hat, über deren Entstehen ich leider nichts erfahren konnte.</p> <p>Es handelt sich dabei um Kleinbetriebe, an denen die ganze Familie, außer den kleinen Kindern und Greisen mitarbeitet. Der Betrieb entspricht sowohl der Größe als auch der Bewirtschaftung nach dem allgemeinen Niveau der anderen bäuerlichen Güter Galiziens. Es sind Parzellenbetriebe von 5 bis 6 Joch (2½ bis 3 Hektar) mit ganz primitiver Wirtschaftsweise.</p> <p>Die Bevölkerung besteht zumeist aus Analphabeten. Die jüdische Jugend wächst ohne Schulbildung heran, da die allgemeine Czerniejower Dorfschule den religiösen Ansprüchen der Juden nicht genügt und daher nur von wenigen jüdischen Knaben besucht wird. Dieser Mangel an Schulbildung läßt sich natürlich auch an der Wirtschaftsweise erkennen. Abhilfe ließe sich schaffen durch Gründung einer, wenn auch nur einklassigen Volksschule durch die Baron Hirsch-Stiftung, die, wie viele andere Baron Hirsch-Schulen, mit Abendklassen für Erwachsene verbunden sein könnte.</p> <p>Die Leiter und Lehrer dieser Schulen müßten sich die elementaren landwirtschaftlichen Kenntnisse aneignen, die durch eine eigens dazu eingerichtete populär-landwirtschaftliche Schulbibliothek ergänzt werden könnten. Eine solche Bildungsgelegenheit würde den ganzen Stand der Czerniejower Bauern heben.</p> <p>Der Pflege der landwirtschaftlichen Nebenbetriebe wie Gartenbau, Milchwirtschaft, Vieh- und Geflügelzucht wäre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.</p> </div> </body> </text> </TEI> [68/0068]
Betrieb anzufangen mußten die Juden von gelegentlichen Verkäufen Gebrauch machen. Dazu gehörte dreierlei: Kapital, Verständnis für die Landwirtschaft und die Gewohnheit der physischen Arbeit. Dies alles war nur dem Kapitalisten zugänglich, der das Land nicht nur kaufen, sondern es auch durch Ökonomen und Arbeiter bewirtschaften, resp. bebauen zu lassen im stande war. Der arme Jude aber, der kein Kapital zum Landankauf besaß, der weder eine Ahnung von dem landwirtschaftlichen Betrieb hatte, noch an schwere körperliche Arbeit gewöhnt war, konnte unmöglich, ohne jede Hilfe von außen, zur Landwirtschaft. übergehen.
Dennoch findet man hier und da in Galizien kleinere Ansiedelungen von jüdischen Bauern. Eine solche habe ich in Czerniejow bei Stanislau kennen gelernt, wo sich seinerzeit eine ganze jüdische Kolonie niedergelassen hat, über deren Entstehen ich leider nichts erfahren konnte.
Es handelt sich dabei um Kleinbetriebe, an denen die ganze Familie, außer den kleinen Kindern und Greisen mitarbeitet. Der Betrieb entspricht sowohl der Größe als auch der Bewirtschaftung nach dem allgemeinen Niveau der anderen bäuerlichen Güter Galiziens. Es sind Parzellenbetriebe von 5 bis 6 Joch (2½ bis 3 Hektar) mit ganz primitiver Wirtschaftsweise.
Die Bevölkerung besteht zumeist aus Analphabeten. Die jüdische Jugend wächst ohne Schulbildung heran, da die allgemeine Czerniejower Dorfschule den religiösen Ansprüchen der Juden nicht genügt und daher nur von wenigen jüdischen Knaben besucht wird. Dieser Mangel an Schulbildung läßt sich natürlich auch an der Wirtschaftsweise erkennen. Abhilfe ließe sich schaffen durch Gründung einer, wenn auch nur einklassigen Volksschule durch die Baron Hirsch-Stiftung, die, wie viele andere Baron Hirsch-Schulen, mit Abendklassen für Erwachsene verbunden sein könnte.
Die Leiter und Lehrer dieser Schulen müßten sich die elementaren landwirtschaftlichen Kenntnisse aneignen, die durch eine eigens dazu eingerichtete populär-landwirtschaftliche Schulbibliothek ergänzt werden könnten. Eine solche Bildungsgelegenheit würde den ganzen Stand der Czerniejower Bauern heben.
Der Pflege der landwirtschaftlichen Nebenbetriebe wie Gartenbau, Milchwirtschaft, Vieh- und Geflügelzucht wäre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
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Zitationshilfe: | Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/pappenheim_galizien_1904/68>, abgerufen am 16.02.2025. |