Pappenheim, Bertha u. a.: Zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Galizien. Reise-Eindrücke und Vorschläge zur Besserung der Verhältnisse. Frankfurt (Main), 1904.
bekannt geworden, an denen man sich von jüdischer Seite mit Mädchen-Erziehung beschäftigt, die drei Waisenhäuser in Krakau, Lemberg und Brody, und die drei Haushaltungsschulen in Tarnow, Stanislau und Kolomea. Die ersten nehmen nur je 20 Mädchen auf, die letzteren je 15, - also ungefähr 100 bis 120 Kinder, - aus einer Bevölkerung von 810000 Menschen, die durchschnittlich alle noch recht erziehungsbedürftig sind. Was nun die Anstalten selbst betrifft, so ist ihren Verwaltungen eines gemeinsam: alle klagen darüber, daß sie kein Geld haben, und alle Mängel, die nicht zu übersehen sind, sollen dem Fehlen der Mittel zugeschrieben werden. Das ist natürlich nicht richtig. Es gibt Aufgaben in der Erziehung, deren Lösung nur auf einem bestimmten, langsam erworbenen Kulturniveau der Erzieher und Anstaltsleiter angestrebt werden kann. In Krakau sowohl wie in Lemberg fehlt der Leitung das Verständnis dafür, daß eine Anstalt ihre Schuldigkeit nicht getan hat, wenn sie die Mädchen bis zum 15. Jahre behütet, ernährt und kleidet und sie dann unselbständiger, als es Familienkinder sind (Anstaltserziehung macht unselbständig) ins Leben, und schlecht vorbereitet, in den Broterwerb schickt. In der Krakauer Anstalt, die ihre Zöglinge in beängstigender Orthodoxie aufwachsen läßt, ist sogar trotz des guten Willens zweier Vorstandsdamen selbst die Aufgabe des "behütet, ernährt und gekleidet" nur sehr ungenügend erfüllt. Unser Besuch in der Anstalt war vorher gemeldet. Die rosa Schleifen im Haar der Zöglinge konnten mich über mangelnde Zimmer- und Wascheinrichtung nicht trösten und noch weniger darüber, daß ich mit eigenen Augen die Kinder sich aufsichtslos auf der Straße herumtreiben sah. Lemberg dagegen besitzt in einem Waisenpalast eine Einrichtung, wie sie leider in großen Städten sehr oft gefunden wird, wo Menschen das Bedürfnis und die Mittel haben, sich ein Monument zu setzen, und falsche Freunde ihnen nicht abraten, sich in mangelnder Kenntnis der realen Verhältnisse an einer großen Idee zu versündigen. Zu der fehlenden Selbständigkeit, zu der ungenügenden häuslichen wie beruflichen Ausbildung der Mädchen tritt in Lemberg noch die Verwöhnung durch den äußeren Rahmen des Hauses, bekannt geworden, an denen man sich von jüdischer Seite mit Mädchen-Erziehung beschäftigt, die drei Waisenhäuser in Krakau, Lemberg und Brody, und die drei Haushaltungsschulen in Tarnow, Stanislau und Kolomea. Die ersten nehmen nur je 20 Mädchen auf, die letzteren je 15, – also ungefähr 100 bis 120 Kinder, – aus einer Bevölkerung von 810000 Menschen, die durchschnittlich alle noch recht erziehungsbedürftig sind. Was nun die Anstalten selbst betrifft, so ist ihren Verwaltungen eines gemeinsam: alle klagen darüber, daß sie kein Geld haben, und alle Mängel, die nicht zu übersehen sind, sollen dem Fehlen der Mittel zugeschrieben werden. Das ist natürlich nicht richtig. Es gibt Aufgaben in der Erziehung, deren Lösung nur auf einem bestimmten, langsam erworbenen Kulturniveau der Erzieher und Anstaltsleiter angestrebt werden kann. In Krakau sowohl wie in Lemberg fehlt der Leitung das Verständnis dafür, daß eine Anstalt ihre Schuldigkeit nicht getan hat, wenn sie die Mädchen bis zum 15. Jahre behütet, ernährt und kleidet und sie dann unselbständiger, als es Familienkinder sind (Anstaltserziehung macht unselbständig) ins Leben, und schlecht vorbereitet, in den Broterwerb schickt. In der Krakauer Anstalt, die ihre Zöglinge in beängstigender Orthodoxie aufwachsen läßt, ist sogar trotz des guten Willens zweier Vorstandsdamen selbst die Aufgabe des „behütet, ernährt und gekleidet“ nur sehr ungenügend erfüllt. Unser Besuch in der Anstalt war vorher gemeldet. Die rosa Schleifen im Haar der Zöglinge konnten mich über mangelnde Zimmer- und Wascheinrichtung nicht trösten und noch weniger darüber, daß ich mit eigenen Augen die Kinder sich aufsichtslos auf der Straße herumtreiben sah. Lemberg dagegen besitzt in einem Waisenpalast eine Einrichtung, wie sie leider in großen Städten sehr oft gefunden wird, wo Menschen das Bedürfnis und die Mittel haben, sich ein Monument zu setzen, und falsche Freunde ihnen nicht abraten, sich in mangelnder Kenntnis der realen Verhältnisse an einer großen Idee zu versündigen. Zu der fehlenden Selbständigkeit, zu der ungenügenden häuslichen wie beruflichen Ausbildung der Mädchen tritt in Lemberg noch die Verwöhnung durch den äußeren Rahmen des Hauses, <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0016" n="16"/> bekannt geworden, an denen man sich von jüdischer Seite mit Mädchen-<hi rendition="#g">Erziehung</hi> beschäftigt, die drei Waisenhäuser in Krakau, Lemberg und Brody, und die drei Haushaltungsschulen in Tarnow, Stanislau und Kolomea.</p> <p>Die ersten nehmen nur je 20 Mädchen auf, die letzteren je 15, – also ungefähr 100 bis 120 Kinder, – aus einer Bevölkerung von 810000 Menschen, die durchschnittlich alle noch recht erziehungsbedürftig sind.</p> <p>Was nun die Anstalten selbst betrifft, so ist ihren Verwaltungen eines gemeinsam: alle klagen darüber, daß sie kein Geld haben, und alle Mängel, die nicht zu übersehen sind, sollen dem Fehlen der Mittel zugeschrieben werden. Das ist natürlich nicht richtig. Es gibt Aufgaben in der Erziehung, deren Lösung nur auf einem bestimmten, langsam erworbenen Kulturniveau der Erzieher und Anstaltsleiter angestrebt werden kann. In Krakau sowohl wie in Lemberg fehlt der Leitung das Verständnis dafür, daß eine Anstalt ihre Schuldigkeit nicht getan hat, wenn sie die Mädchen bis zum 15. Jahre behütet, ernährt und kleidet und sie dann unselbständiger, als es Familienkinder sind (Anstaltserziehung macht unselbständig) ins Leben, und schlecht vorbereitet, in den Broterwerb schickt.</p> <p>In der Krakauer Anstalt, die ihre Zöglinge in beängstigender Orthodoxie aufwachsen läßt, ist sogar trotz des guten Willens zweier Vorstandsdamen selbst die Aufgabe des „behütet, ernährt und gekleidet“ nur sehr ungenügend erfüllt. Unser Besuch in der Anstalt war vorher gemeldet. Die rosa Schleifen im Haar der Zöglinge konnten mich über mangelnde Zimmer- und Wascheinrichtung nicht trösten und noch weniger darüber, daß ich mit eigenen Augen die Kinder sich aufsichtslos auf der Straße herumtreiben sah.</p> <p>Lemberg dagegen besitzt in einem Waisenpalast eine Einrichtung, wie sie leider in großen Städten sehr oft gefunden wird, wo Menschen das Bedürfnis und die Mittel haben, sich ein Monument zu setzen, und falsche Freunde ihnen nicht abraten, sich in mangelnder Kenntnis der realen Verhältnisse an einer großen Idee zu versündigen.</p> <p>Zu der fehlenden Selbständigkeit, zu der ungenügenden häuslichen wie beruflichen Ausbildung der Mädchen tritt in Lemberg noch die Verwöhnung durch den äußeren Rahmen des Hauses, </p> </div> </body> </text> </TEI> [16/0016]
bekannt geworden, an denen man sich von jüdischer Seite mit Mädchen-Erziehung beschäftigt, die drei Waisenhäuser in Krakau, Lemberg und Brody, und die drei Haushaltungsschulen in Tarnow, Stanislau und Kolomea.
Die ersten nehmen nur je 20 Mädchen auf, die letzteren je 15, – also ungefähr 100 bis 120 Kinder, – aus einer Bevölkerung von 810000 Menschen, die durchschnittlich alle noch recht erziehungsbedürftig sind.
Was nun die Anstalten selbst betrifft, so ist ihren Verwaltungen eines gemeinsam: alle klagen darüber, daß sie kein Geld haben, und alle Mängel, die nicht zu übersehen sind, sollen dem Fehlen der Mittel zugeschrieben werden. Das ist natürlich nicht richtig. Es gibt Aufgaben in der Erziehung, deren Lösung nur auf einem bestimmten, langsam erworbenen Kulturniveau der Erzieher und Anstaltsleiter angestrebt werden kann. In Krakau sowohl wie in Lemberg fehlt der Leitung das Verständnis dafür, daß eine Anstalt ihre Schuldigkeit nicht getan hat, wenn sie die Mädchen bis zum 15. Jahre behütet, ernährt und kleidet und sie dann unselbständiger, als es Familienkinder sind (Anstaltserziehung macht unselbständig) ins Leben, und schlecht vorbereitet, in den Broterwerb schickt.
In der Krakauer Anstalt, die ihre Zöglinge in beängstigender Orthodoxie aufwachsen läßt, ist sogar trotz des guten Willens zweier Vorstandsdamen selbst die Aufgabe des „behütet, ernährt und gekleidet“ nur sehr ungenügend erfüllt. Unser Besuch in der Anstalt war vorher gemeldet. Die rosa Schleifen im Haar der Zöglinge konnten mich über mangelnde Zimmer- und Wascheinrichtung nicht trösten und noch weniger darüber, daß ich mit eigenen Augen die Kinder sich aufsichtslos auf der Straße herumtreiben sah.
Lemberg dagegen besitzt in einem Waisenpalast eine Einrichtung, wie sie leider in großen Städten sehr oft gefunden wird, wo Menschen das Bedürfnis und die Mittel haben, sich ein Monument zu setzen, und falsche Freunde ihnen nicht abraten, sich in mangelnder Kenntnis der realen Verhältnisse an einer großen Idee zu versündigen.
Zu der fehlenden Selbständigkeit, zu der ungenügenden häuslichen wie beruflichen Ausbildung der Mädchen tritt in Lemberg noch die Verwöhnung durch den äußeren Rahmen des Hauses,
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