Otto, Louise: Schloß und Fabrik, Bd. 2. Leipzig, 1846.Eine Schar blasser, in Lumpen gehüllter Kinder hatte sich müde auf einen sonnigen Platz gelegt, einzelne von ihnen kauten an harten Brotrinden, andere warfen auf diese neidische Blicke. Jaromir warf einen mitleidigen Blick auf diese armen Geschöpfe und sagte: "Diese Kleinen sehen sehr müde aus." "Ist wohl ein Wunder!" versetzte Wilhelm bitter. "Sie müssen den ganzen Tag beschwerliche Arbeiten verrichten so gut wie unsereiner, drum sind sie froh, wenn sie ein paar Minuten in der Sonne ausruhen können." "Den ganzen Tag? Gehen sie denn in keine Schule?" rief Jaromir verwundert. "Sonnabends nachmittags, wo wir um vier Uhr Feierabend haben" sagte August, "brauchen sie gar nicht zu arbeiten, da kommt ein Lehrer aus der Stadt heraus, ein abgedankter Unteroffizier, und prügelt sie, weil sie wieder vergessen haben, was er ihnen vor acht Tagen vorher gesagt -- das heißt, sie in die Schule schicken." Jaromir flüsterte für sich: "Mein Gott! Auch in Deutschland?" August fuhr fort: "Die Faktoren versichern uns, daß sie da genug lernen, denn was sie für's Leben brauchen, lernen sie ja eben bei der Fabrikarbeit. Zu lesen und zu schreiben braucht ein Mensch nicht, der es doch nie weiterbringen kann, als bis zu einem armen Fabrikarbeiter." Jaromir warf einige kleine Münzen unter die Kinder, welche mit tierischem Geschrei deraüber herfielen, die Geldstücke einander wieder gegenseitig wegzureißen suchten, sich darum prügelten und herumzerrten, es war ein trauriges Eine Schar blasser, in Lumpen gehüllter Kinder hatte sich müde auf einen sonnigen Platz gelegt, einzelne von ihnen kauten an harten Brotrinden, andere warfen auf diese neidische Blicke. Jaromir warf einen mitleidigen Blick auf diese armen Geschöpfe und sagte: „Diese Kleinen sehen sehr müde aus.“ „Ist wohl ein Wunder!“ versetzte Wilhelm bitter. „Sie müssen den ganzen Tag beschwerliche Arbeiten verrichten so gut wie unsereiner, drum sind sie froh, wenn sie ein paar Minuten in der Sonne ausruhen können.“ „Den ganzen Tag? Gehen sie denn in keine Schule?“ rief Jaromir verwundert. „Sonnabends nachmittags, wo wir um vier Uhr Feierabend haben“ sagte August, „brauchen sie gar nicht zu arbeiten, da kommt ein Lehrer aus der Stadt heraus, ein abgedankter Unteroffizier, und prügelt sie, weil sie wieder vergessen haben, was er ihnen vor acht Tagen vorher gesagt — das heißt, sie in die Schule schicken.“ Jaromir flüsterte für sich: „Mein Gott! Auch in Deutschland?“ August fuhr fort: „Die Faktoren versichern uns, daß sie da genug lernen, denn was sie für’s Leben brauchen, lernen sie ja eben bei der Fabrikarbeit. Zu lesen und zu schreiben braucht ein Mensch nicht, der es doch nie weiterbringen kann, als bis zu einem armen Fabrikarbeiter.“ Jaromir warf einige kleine Münzen unter die Kinder, welche mit tierischem Geschrei deraüber herfielen, die Geldstücke einander wieder gegenseitig wegzureißen suchten, sich darum prügelten und herumzerrten, es war ein trauriges <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0111" n="105"/> <p> Eine Schar blasser, in Lumpen gehüllter Kinder hatte sich müde auf einen sonnigen Platz gelegt, einzelne von ihnen kauten an harten Brotrinden, andere warfen auf diese neidische Blicke. Jaromir warf einen mitleidigen Blick auf diese armen Geschöpfe und sagte:</p> <p>„Diese Kleinen sehen sehr müde aus.“</p> <p>„Ist wohl ein Wunder!“ versetzte Wilhelm bitter. „Sie müssen den ganzen Tag beschwerliche Arbeiten verrichten so gut wie unsereiner, drum sind sie froh, wenn sie ein paar Minuten in der Sonne ausruhen können.“</p> <p>„Den ganzen Tag? Gehen sie denn in keine Schule?“ rief Jaromir verwundert.</p> <p>„Sonnabends nachmittags, wo wir um vier Uhr Feierabend haben“ sagte August, „brauchen sie gar nicht zu arbeiten, da kommt ein Lehrer aus der Stadt heraus, ein abgedankter Unteroffizier, und prügelt sie, weil sie wieder vergessen haben, was er ihnen vor acht Tagen vorher gesagt — das heißt, sie in die Schule schicken.“</p> <p>Jaromir flüsterte für sich: „Mein Gott! Auch in Deutschland?“</p> <p>August fuhr fort: „Die Faktoren versichern uns, daß sie da genug lernen, denn was sie für’s Leben brauchen, lernen sie ja eben bei der Fabrikarbeit. Zu lesen und zu schreiben braucht ein Mensch nicht, der es doch nie weiterbringen kann, als bis zu einem armen Fabrikarbeiter.“</p> <p>Jaromir warf einige kleine Münzen unter die Kinder, welche mit tierischem Geschrei deraüber herfielen, die Geldstücke einander wieder gegenseitig wegzureißen suchten, sich darum prügelten und herumzerrten, es war ein trauriges </p> </div> </body> </text> </TEI> [105/0111]
Eine Schar blasser, in Lumpen gehüllter Kinder hatte sich müde auf einen sonnigen Platz gelegt, einzelne von ihnen kauten an harten Brotrinden, andere warfen auf diese neidische Blicke. Jaromir warf einen mitleidigen Blick auf diese armen Geschöpfe und sagte:
„Diese Kleinen sehen sehr müde aus.“
„Ist wohl ein Wunder!“ versetzte Wilhelm bitter. „Sie müssen den ganzen Tag beschwerliche Arbeiten verrichten so gut wie unsereiner, drum sind sie froh, wenn sie ein paar Minuten in der Sonne ausruhen können.“
„Den ganzen Tag? Gehen sie denn in keine Schule?“ rief Jaromir verwundert.
„Sonnabends nachmittags, wo wir um vier Uhr Feierabend haben“ sagte August, „brauchen sie gar nicht zu arbeiten, da kommt ein Lehrer aus der Stadt heraus, ein abgedankter Unteroffizier, und prügelt sie, weil sie wieder vergessen haben, was er ihnen vor acht Tagen vorher gesagt — das heißt, sie in die Schule schicken.“
Jaromir flüsterte für sich: „Mein Gott! Auch in Deutschland?“
August fuhr fort: „Die Faktoren versichern uns, daß sie da genug lernen, denn was sie für’s Leben brauchen, lernen sie ja eben bei der Fabrikarbeit. Zu lesen und zu schreiben braucht ein Mensch nicht, der es doch nie weiterbringen kann, als bis zu einem armen Fabrikarbeiter.“
Jaromir warf einige kleine Münzen unter die Kinder, welche mit tierischem Geschrei deraüber herfielen, die Geldstücke einander wieder gegenseitig wegzureißen suchten, sich darum prügelten und herumzerrten, es war ein trauriges
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Zitationshilfe: | Otto, Louise: Schloß und Fabrik, Bd. 2. Leipzig, 1846, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/otto_schloss02_1846/111>, abgerufen am 16.02.2025. |