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Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802.

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aufwachsen dürfen ohne von euren Eltern
die mindeste Beschränkung zu leiden, denn
die meisten Menschen sind nur Überbleibsel
eines vollen Gastmals, daß Menschen von
verschiedenen Appetit und Geschmack geplün¬
dert haben.

Ich weiß selbst nicht, erwiederte Heinrich,
was Erziehung heißt, wenn es nicht das
Leben und die Sinnesweise meiner Eltern ist,
oder der Unterricht meines Lehrers, des Hof¬
kaplans. Mein Vater scheint mir, bei aller
seiner kühlen und durchaus festen Denkungs¬
art, die ihn alle Verhältnisse wie ein Stück
Metall und eine künstliche Arbeit ansehn
läßt, doch unwillkührlich und ohne es selbst
zu wissen, eine stille Ehrfurcht und Gottes¬
furcht vor allen unbegreiflichen und höhern
Erscheinungen zu haben, und daher das Auf¬
blühen eines Kindes mit demüthiger Selbst¬
verleugnung zu betrachten. Ein Geist ist

aufwachſen dürfen ohne von euren Eltern
die mindeſte Beſchränkung zu leiden, denn
die meiſten Menſchen ſind nur Überbleibſel
eines vollen Gaſtmals, daß Menſchen von
verſchiedenen Appetit und Geſchmack geplün¬
dert haben.

Ich weiß ſelbſt nicht, erwiederte Heinrich,
was Erziehung heißt, wenn es nicht das
Leben und die Sinnesweiſe meiner Eltern iſt,
oder der Unterricht meines Lehrers, des Hof¬
kaplans. Mein Vater ſcheint mir, bei aller
ſeiner kühlen und durchaus feſten Denkungs¬
art, die ihn alle Verhältniſſe wie ein Stück
Metall und eine künſtliche Arbeit anſehn
läßt, doch unwillkührlich und ohne es ſelbſt
zu wiſſen, eine ſtille Ehrfurcht und Gottes¬
furcht vor allen unbegreiflichen und höhern
Erſcheinungen zu haben, und daher das Auf¬
blühen eines Kindes mit demüthiger Selbſt¬
verleugnung zu betrachten. Ein Geiſt iſt

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[27/0373] aufwachſen dürfen ohne von euren Eltern die mindeſte Beſchränkung zu leiden, denn die meiſten Menſchen ſind nur Überbleibſel eines vollen Gaſtmals, daß Menſchen von verſchiedenen Appetit und Geſchmack geplün¬ dert haben. Ich weiß ſelbſt nicht, erwiederte Heinrich, was Erziehung heißt, wenn es nicht das Leben und die Sinnesweiſe meiner Eltern iſt, oder der Unterricht meines Lehrers, des Hof¬ kaplans. Mein Vater ſcheint mir, bei aller ſeiner kühlen und durchaus feſten Denkungs¬ art, die ihn alle Verhältniſſe wie ein Stück Metall und eine künſtliche Arbeit anſehn läßt, doch unwillkührlich und ohne es ſelbſt zu wiſſen, eine ſtille Ehrfurcht und Gottes¬ furcht vor allen unbegreiflichen und höhern Erſcheinungen zu haben, und daher das Auf¬ blühen eines Kindes mit demüthiger Selbſt¬ verleugnung zu betrachten. Ein Geiſt iſt

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Zitationshilfe: Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802/373>, abgerufen am 22.11.2024.