Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802.

Bild:
<< vorherige Seite

Heinrich hörte das Schluchzen eines Kin¬
des und eine tröstende Stimme. Er stieg tie¬
fer durch das Gebüsch hinab, und fand ein
bleiches, abgehärmtes Mädchen unter einer
alten Eiche sitzen. Ein schönes Kind hing wei¬
nend an ihrem Halse, auch ihre Thränen
flossen, und eine Laute lag neben ihr auf dem
Rasen. Sie erschrack ein wenig, als sie den
fremden Jüngling erblickte, der mit wehmü¬
thigem Gesicht sich ihr näherte.

Ihr habt wohl meinen Gesang gehört,
sagte sie freundlich. Euer Gesicht dünkt mir
bekannt, laßt mich besinnen -- Mein Ge¬
dächtniß ist schwach geworden, aber euer An¬
blick erweckt in mir eine sonderbare Erinne¬
rung aus frohen Zeiten. O! mir ist, als
glicht ihr einem meiner Brüder, der noch vor
unserm Unglück von uns schied, und nach Per¬
sien zu einem berühmten Dichter zog. Viel¬
leicht lebt er noch, und besingt traurig das

Heinrich hörte das Schluchzen eines Kin¬
des und eine tröſtende Stimme. Er ſtieg tie¬
fer durch das Gebüſch hinab, und fand ein
bleiches, abgehärmtes Mädchen unter einer
alten Eiche ſitzen. Ein ſchönes Kind hing wei¬
nend an ihrem Halſe, auch ihre Thränen
floſſen, und eine Laute lag neben ihr auf dem
Raſen. Sie erſchrack ein wenig, als ſie den
fremden Jüngling erblickte, der mit wehmü¬
thigem Geſicht ſich ihr näherte.

Ihr habt wohl meinen Geſang gehört,
ſagte ſie freundlich. Euer Geſicht dünkt mir
bekannt, laßt mich beſinnen — Mein Ge¬
dächtniß iſt ſchwach geworden, aber euer An¬
blick erweckt in mir eine ſonderbare Erinne¬
rung aus frohen Zeiten. O! mir iſt, als
glicht ihr einem meiner Brüder, der noch vor
unſerm Unglück von uns ſchied, und nach Per¬
ſien zu einem berühmten Dichter zog. Viel¬
leicht lebt er noch, und beſingt traurig das

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0127" n="119"/>
            <p>Heinrich hörte das Schluchzen eines Kin¬<lb/>
des und eine trö&#x017F;tende Stimme. Er &#x017F;tieg tie¬<lb/>
fer durch das Gebü&#x017F;ch hinab, und fand ein<lb/>
bleiches, abgehärmtes Mädchen unter einer<lb/>
alten Eiche &#x017F;itzen. Ein &#x017F;chönes Kind hing wei¬<lb/>
nend an ihrem Hal&#x017F;e, auch ihre Thränen<lb/>
flo&#x017F;&#x017F;en, und eine Laute lag neben ihr auf dem<lb/>
Ra&#x017F;en. Sie er&#x017F;chrack ein wenig, als &#x017F;ie den<lb/>
fremden Jüngling erblickte, der mit wehmü¬<lb/>
thigem Ge&#x017F;icht &#x017F;ich ihr näherte.</p><lb/>
            <p>Ihr habt wohl meinen Ge&#x017F;ang gehört,<lb/>
&#x017F;agte &#x017F;ie freundlich. Euer Ge&#x017F;icht dünkt mir<lb/>
bekannt, laßt mich be&#x017F;innen &#x2014; Mein Ge¬<lb/>
dächtniß i&#x017F;t &#x017F;chwach geworden, aber euer An¬<lb/>
blick erweckt in mir eine &#x017F;onderbare Erinne¬<lb/>
rung aus frohen Zeiten. O! mir i&#x017F;t, als<lb/>
glicht ihr einem meiner Brüder, der noch vor<lb/>
un&#x017F;erm Unglück von uns &#x017F;chied, und nach Per¬<lb/>
&#x017F;ien zu einem berühmten Dichter zog. Viel¬<lb/>
leicht lebt er noch, und be&#x017F;ingt traurig das<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119/0127] Heinrich hörte das Schluchzen eines Kin¬ des und eine tröſtende Stimme. Er ſtieg tie¬ fer durch das Gebüſch hinab, und fand ein bleiches, abgehärmtes Mädchen unter einer alten Eiche ſitzen. Ein ſchönes Kind hing wei¬ nend an ihrem Halſe, auch ihre Thränen floſſen, und eine Laute lag neben ihr auf dem Raſen. Sie erſchrack ein wenig, als ſie den fremden Jüngling erblickte, der mit wehmü¬ thigem Geſicht ſich ihr näherte. Ihr habt wohl meinen Geſang gehört, ſagte ſie freundlich. Euer Geſicht dünkt mir bekannt, laßt mich beſinnen — Mein Ge¬ dächtniß iſt ſchwach geworden, aber euer An¬ blick erweckt in mir eine ſonderbare Erinne¬ rung aus frohen Zeiten. O! mir iſt, als glicht ihr einem meiner Brüder, der noch vor unſerm Unglück von uns ſchied, und nach Per¬ ſien zu einem berühmten Dichter zog. Viel¬ leicht lebt er noch, und beſingt traurig das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802/127
Zitationshilfe: Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Berlin, 1802, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_ofterdingen_1802/127>, abgerufen am 25.11.2024.