Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.Selbstbewußtseyn das Heiligste und Schönste der Welt mit Erst durch genauere Kenntniß der Religion wird man jene Dieser Bruder ist der Herzschlag der neuen Zeit, wer ihn Selbſtbewußtſeyn das Heiligſte und Schoͤnſte der Welt mit Erſt durch genauere Kenntniß der Religion wird man jene Dieſer Bruder iſt der Herzſchlag der neuen Zeit, wer ihn <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0027" n="205"/> Selbſtbewußtſeyn das Heiligſte und Schoͤnſte der Welt mit<lb/> wunderbarer Verlaͤugnung, und waren die Erſten die wieder<lb/> die Heiligkeit der Natur, die Unendlichkeit der Kunſt, die Noth¬<lb/> wendigkeit des Wiſſens, die Achtung des Weltlichen, und die<lb/> Allgegenwart des wahrhaft Geſchichtlichen durch die That aner¬<lb/> kannten, und verkuͤndigten, und einer hoͤhern, allgemeinern und<lb/> furchtbarern Geſpenſterherrſchaft, als ſie ſelbſt glaubten, ein<lb/> Ende machten.</p><lb/> <p>Erſt durch genauere Kenntniß der Religion wird man jene<lb/> fuͤrchterlichen Erzeugniſſe eines Religionsſchlafs, jene Traͤume<lb/> und Deliria des heiligen Organs beſſer beurtheilen und dann<lb/> erſt die Wichtigkeit jenes Geſchenks recht einſehn lernen. Wo<lb/> keine Goͤtter ſind, walten Geſpenſter, und die eigentliche Ent¬<lb/> ſtehungszeit der europaͤiſchen Geſpenſter, die auch ihre Geſtalt<lb/> ziemlich vollſtaͤndig erklaͤrt, iſt die Periode des Uebergangs der<lb/> griechiſchen Goͤtterlehre in das Chriſtenthum. Alſo kommt<lb/> auch, ihr Philanthropen und Encyklopaͤdiſten, in die friedenſtif¬<lb/> tende Loge und empfangt den Bruderkuß, ſtreift das graue<lb/> Netz ab, und ſchaut mit junger Liebe die Wunderherrlichkeit<lb/> der Natur, der Geſchichte und der Menſchheit an. Zu einem<lb/> Bruder will ich euch fuͤhren, der ſoll mit euch reden, daß euch<lb/> die Herzen aufgehn, und ihr eure abgeſtorbene geliebte Ahn¬<lb/> dung mit neuem Leibe bekleidet, wieder umfaßt und erkennt,<lb/> was euch vorſchwebte, und was der ſchwerfaͤllige irdiſche Ver¬<lb/> ſtand freilich euch nicht haſchen konnte.</p><lb/> <p>Dieſer Bruder iſt der Herzſchlag der neuen Zeit, wer ihn<lb/> gefuͤhlt hat zweifelt nicht mehr an ihrem Kommen, und tritt<lb/> mit ſuͤßem Stolz auf ſeine Zeitgenoſſenſchaft auch aus dem<lb/> Haufen hervor zu der neuen Schaar der Juͤnger. Er hat ei¬<lb/> nen neuen Schleier fuͤr die Heilige gemacht, der ihren himmli¬<lb/> ſchen Gliederbau anſchmiegend verraͤth, und doch ſie zuͤchtiger,<lb/> als ein Andrer verhuͤllt. — Der Schleier iſt fuͤr die Jungfrau,<lb/> was der Geiſt fuͤr den Leib iſt, ihr unentbehrliches Organ deſ¬<lb/> ſen Falten die Buchſtaben ihrer ſuͤßen Verkuͤndigung ſind; das<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [205/0027]
Selbſtbewußtſeyn das Heiligſte und Schoͤnſte der Welt mit
wunderbarer Verlaͤugnung, und waren die Erſten die wieder
die Heiligkeit der Natur, die Unendlichkeit der Kunſt, die Noth¬
wendigkeit des Wiſſens, die Achtung des Weltlichen, und die
Allgegenwart des wahrhaft Geſchichtlichen durch die That aner¬
kannten, und verkuͤndigten, und einer hoͤhern, allgemeinern und
furchtbarern Geſpenſterherrſchaft, als ſie ſelbſt glaubten, ein
Ende machten.
Erſt durch genauere Kenntniß der Religion wird man jene
fuͤrchterlichen Erzeugniſſe eines Religionsſchlafs, jene Traͤume
und Deliria des heiligen Organs beſſer beurtheilen und dann
erſt die Wichtigkeit jenes Geſchenks recht einſehn lernen. Wo
keine Goͤtter ſind, walten Geſpenſter, und die eigentliche Ent¬
ſtehungszeit der europaͤiſchen Geſpenſter, die auch ihre Geſtalt
ziemlich vollſtaͤndig erklaͤrt, iſt die Periode des Uebergangs der
griechiſchen Goͤtterlehre in das Chriſtenthum. Alſo kommt
auch, ihr Philanthropen und Encyklopaͤdiſten, in die friedenſtif¬
tende Loge und empfangt den Bruderkuß, ſtreift das graue
Netz ab, und ſchaut mit junger Liebe die Wunderherrlichkeit
der Natur, der Geſchichte und der Menſchheit an. Zu einem
Bruder will ich euch fuͤhren, der ſoll mit euch reden, daß euch
die Herzen aufgehn, und ihr eure abgeſtorbene geliebte Ahn¬
dung mit neuem Leibe bekleidet, wieder umfaßt und erkennt,
was euch vorſchwebte, und was der ſchwerfaͤllige irdiſche Ver¬
ſtand freilich euch nicht haſchen konnte.
Dieſer Bruder iſt der Herzſchlag der neuen Zeit, wer ihn
gefuͤhlt hat zweifelt nicht mehr an ihrem Kommen, und tritt
mit ſuͤßem Stolz auf ſeine Zeitgenoſſenſchaft auch aus dem
Haufen hervor zu der neuen Schaar der Juͤnger. Er hat ei¬
nen neuen Schleier fuͤr die Heilige gemacht, der ihren himmli¬
ſchen Gliederbau anſchmiegend verraͤth, und doch ſie zuͤchtiger,
als ein Andrer verhuͤllt. — Der Schleier iſt fuͤr die Jungfrau,
was der Geiſt fuͤr den Leib iſt, ihr unentbehrliches Organ deſ¬
ſen Falten die Buchſtaben ihrer ſuͤßen Verkuͤndigung ſind; das
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Zitationshilfe: | Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208, hier S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_christenheit_1826/27>, abgerufen am 03.07.2024. |