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Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208.

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wenn euer Staat die Tendenz nach der Erde behält, aber
knüpft ihn durch eine höhere Sehnsucht an die Höhen des Him¬
mels, gebt ihm eine Beziehung auf das Weltall, dann habt
ihr eine nie ermüdende Feder in ihm, und werdet eure Bemü¬
hungen reichlich gelohnt sehn. An die Geschichte verweise ich
euch, forscht in ihrem belehrenden Zusammenhang, nach ähnli¬
chen Zeitpunkten, und lernt den Zauberstab der Analogie ge¬
brauchen.

Soll die Revolution die französische bleiben, wie die Re¬
formation die Lutherische war? Soll der Protestantismus aber¬
mals widernatürlicherweise, als revolutionaire Regierung fixirt
werden? Sollen Buchstaben Buchstaben Platz machen? Sucht
ihr den Keim des Verderbens auch in der alten Einrichtung,
dem alten Geiste? und glaubt euch auf eine bessere Einrich¬
tung, einen bessern Geist zu verstehn? O! daß der Geist der
Geister euch erfüllte, und ihr abließet von diesem thörichten Be¬
streben die Geschichte und die Menschheit zu modeln, und
eure Richtung ihr zu geben. Ist sie nicht selbständig, nicht
eigenmächtig, so gut wie unendlich liebenswerth und weissa¬
gend? Sie zu studiren, ihr nachzugehn, von ihr zu lernen, mit
ihr gleichen Schritt zu halten, gläubig ihren Verheißungen und
Winken zu folgen -- daran denkt keiner.

In Frankreich hat man viel für die Religion gethan, in¬
dem man ihr das Bürgerrecht genommen, und ihr bloß das
Recht der Hausgenossenschaft gelassen hat, und zwar nicht in
einer Person, sondern in allen ihren unzähligen individuellen
Gestalten. Als eine fremde unscheinbare Waise muß sie erst
die Herzen wiedergewinnen, und schon überall geliebt seyn, ehe
sie wieder öffentlich angebetet und in weltliche Dinge zur
freundschaftlichen Berathung und Stimmung der Gemüther
gemischt wird. Historisch merkwürdig bleibt der Versuch jener
großen eisernen Maske, die unter dem Namen Robespierre in
der Religion den Mittelpunkt und die Kraft der Republik
suchte; auch der Kaltsinn, womit die Theophilantropie dieser

wenn euer Staat die Tendenz nach der Erde behaͤlt, aber
knuͤpft ihn durch eine hoͤhere Sehnſucht an die Hoͤhen des Him¬
mels, gebt ihm eine Beziehung auf das Weltall, dann habt
ihr eine nie ermuͤdende Feder in ihm, und werdet eure Bemuͤ¬
hungen reichlich gelohnt ſehn. An die Geſchichte verweiſe ich
euch, forſcht in ihrem belehrenden Zuſammenhang, nach aͤhnli¬
chen Zeitpunkten, und lernt den Zauberſtab der Analogie ge¬
brauchen.

Soll die Revolution die franzoͤſiſche bleiben, wie die Re¬
formation die Lutheriſche war? Soll der Proteſtantismus aber¬
mals widernatuͤrlicherweiſe, als revolutionaire Regierung fixirt
werden? Sollen Buchſtaben Buchſtaben Platz machen? Sucht
ihr den Keim des Verderbens auch in der alten Einrichtung,
dem alten Geiſte? und glaubt euch auf eine beſſere Einrich¬
tung, einen beſſern Geiſt zu verſtehn? O! daß der Geiſt der
Geiſter euch erfuͤllte, und ihr abließet von dieſem thoͤrichten Be¬
ſtreben die Geſchichte und die Menſchheit zu modeln, und
eure Richtung ihr zu geben. Iſt ſie nicht ſelbſtaͤndig, nicht
eigenmaͤchtig, ſo gut wie unendlich liebenswerth und weisſa¬
gend? Sie zu ſtudiren, ihr nachzugehn, von ihr zu lernen, mit
ihr gleichen Schritt zu halten, glaͤubig ihren Verheißungen und
Winken zu folgen — daran denkt keiner.

In Frankreich hat man viel fuͤr die Religion gethan, in¬
dem man ihr das Buͤrgerrecht genommen, und ihr bloß das
Recht der Hausgenoſſenſchaft gelaſſen hat, und zwar nicht in
einer Perſon, ſondern in allen ihren unzaͤhligen individuellen
Geſtalten. Als eine fremde unſcheinbare Waiſe muß ſie erſt
die Herzen wiedergewinnen, und ſchon uͤberall geliebt ſeyn, ehe
ſie wieder oͤffentlich angebetet und in weltliche Dinge zur
freundſchaftlichen Berathung und Stimmung der Gemuͤther
gemiſcht wird. Hiſtoriſch merkwuͤrdig bleibt der Verſuch jener
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der Religion den Mittelpunkt und die Kraft der Republik
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[202/0024] wenn euer Staat die Tendenz nach der Erde behaͤlt, aber knuͤpft ihn durch eine hoͤhere Sehnſucht an die Hoͤhen des Him¬ mels, gebt ihm eine Beziehung auf das Weltall, dann habt ihr eine nie ermuͤdende Feder in ihm, und werdet eure Bemuͤ¬ hungen reichlich gelohnt ſehn. An die Geſchichte verweiſe ich euch, forſcht in ihrem belehrenden Zuſammenhang, nach aͤhnli¬ chen Zeitpunkten, und lernt den Zauberſtab der Analogie ge¬ brauchen. Soll die Revolution die franzoͤſiſche bleiben, wie die Re¬ formation die Lutheriſche war? Soll der Proteſtantismus aber¬ mals widernatuͤrlicherweiſe, als revolutionaire Regierung fixirt werden? Sollen Buchſtaben Buchſtaben Platz machen? Sucht ihr den Keim des Verderbens auch in der alten Einrichtung, dem alten Geiſte? und glaubt euch auf eine beſſere Einrich¬ tung, einen beſſern Geiſt zu verſtehn? O! daß der Geiſt der Geiſter euch erfuͤllte, und ihr abließet von dieſem thoͤrichten Be¬ ſtreben die Geſchichte und die Menſchheit zu modeln, und eure Richtung ihr zu geben. Iſt ſie nicht ſelbſtaͤndig, nicht eigenmaͤchtig, ſo gut wie unendlich liebenswerth und weisſa¬ gend? Sie zu ſtudiren, ihr nachzugehn, von ihr zu lernen, mit ihr gleichen Schritt zu halten, glaͤubig ihren Verheißungen und Winken zu folgen — daran denkt keiner. In Frankreich hat man viel fuͤr die Religion gethan, in¬ dem man ihr das Buͤrgerrecht genommen, und ihr bloß das Recht der Hausgenoſſenſchaft gelaſſen hat, und zwar nicht in einer Perſon, ſondern in allen ihren unzaͤhligen individuellen Geſtalten. Als eine fremde unſcheinbare Waiſe muß ſie erſt die Herzen wiedergewinnen, und ſchon uͤberall geliebt ſeyn, ehe ſie wieder oͤffentlich angebetet und in weltliche Dinge zur freundſchaftlichen Berathung und Stimmung der Gemuͤther gemiſcht wird. Hiſtoriſch merkwuͤrdig bleibt der Verſuch jener großen eiſernen Maske, die unter dem Namen Robespierre in der Religion den Mittelpunkt und die Kraft der Republik ſuchte; auch der Kaltſinn, womit die Theophilantropie dieſer

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Zitationshilfe: Novalis: Die Christenheit oder Europa. In: Tieck/Schlegel (Hg.): Novalis. Schriften. Bd. 1. Berlin, 1826, S. 187-208, hier S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/novalis_christenheit_1826/24>, abgerufen am 21.11.2024.