Hirschlein weidete im Waldesgrase Einen Tag nur, weh ward ihm am andern, Und am dritten stöhnt es Klag' und Seufzer. Fragt' es da des Waldgebirges Wila: "Hirschlein, sprach sie, Wild des grünen Bergwalds! Was für großes Leid hat Dich befallen? Weidest ja allhier im Waldesgrase Einen Tag nur, weh wird Dir am andern, Und am dritten stöhnst Du Klag' und Seufzer?" --
Drauf der Hirsch entgegnete der Wila: "Liebe Schwester, Wila dieses Bergwalds! Wohl hat mich gar großes Leid befallen. Hatt' ich eine gar geliebte Hindin, In den Wald gieng neulich sie nach Wasser, Gieng dahin, allein fie kam nicht wieder! Hat sie irrend wohl den Weg verloren? Hat der Jägersmann sie eingefangen? Oder hat sie gänzlich mich verlassen, Liebt ein andres Hirschlein, treuvergessen? Ach! wenn irrend sie den Weg verloren: Gebe Gott, daß sie ihn balde finde! Ach! hat sie der Jägersmann gefangen:
Der Hirsch und die Wila.
Hirschlein weidete im Waldesgrase Einen Tag nur, weh ward ihm am andern, Und am dritten stöhnt es Klag' und Seufzer. Fragt' es da des Waldgebirges Wila: „Hirschlein, sprach sie, Wild des grünen Bergwalds! Was für großes Leid hat Dich befallen? Weidest ja allhier im Waldesgrase Einen Tag nur, weh wird Dir am andern, Und am dritten stöhnst Du Klag' und Seufzer?“ —
Drauf der Hirsch entgegnete der Wila: „Liebe Schwester, Wila dieses Bergwalds! Wohl hat mich gar großes Leid befallen. Hatt' ich eine gar geliebte Hindin, In den Wald gieng neulich sie nach Wasser, Gieng dahin, allein fie kam nicht wieder! Hat sie irrend wohl den Weg verloren? Hat der Jägersmann sie eingefangen? Oder hat sie gänzlich mich verlassen, Liebt ein andres Hirschlein, treuvergessen? Ach! wenn irrend sie den Weg verloren: Gebe Gott, daß sie ihn balde finde! Ach! hat sie der Jägersmann gefangen:
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0078"n="12"/><divn="2"><head><hirendition="#c"><hirendition="#b"><hirendition="#g">Der Hirsch und die Wila</hi>.</hi></hi></head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><lgtype="poem"><lg><l><hirendition="#in">H</hi>irschlein weidete im Waldesgrase</l><lb/><l>Einen Tag nur, weh ward ihm am andern,</l><lb/><l>Und am dritten stöhnt es Klag' und Seufzer.</l><lb/><l>Fragt' es da des Waldgebirges Wila:</l><lb/><l>„Hirschlein, sprach sie, Wild des grünen Bergwalds!</l><lb/><l>Was für großes Leid hat Dich befallen?</l><lb/><l>Weidest ja allhier im Waldesgrase</l><lb/><l>Einen Tag nur, weh wird Dir am andern,</l><lb/><l>Und am dritten stöhnst Du Klag' und Seufzer?“—</l></lg><lb/><lg><l>Drauf der Hirsch entgegnete der Wila:</l><lb/><l>„Liebe Schwester, Wila dieses Bergwalds!</l><lb/><l>Wohl hat mich gar großes Leid befallen.</l><lb/><l>Hatt' ich eine gar geliebte Hindin,</l><lb/><l>In den Wald gieng neulich sie nach Wasser,</l><lb/><l>Gieng dahin, allein fie kam nicht wieder!</l><lb/><l>Hat sie irrend wohl den Weg verloren?</l><lb/><l>Hat der Jägersmann sie eingefangen?</l><lb/><l>Oder hat sie gänzlich mich verlassen,</l><lb/><l>Liebt ein andres Hirschlein, treuvergessen?</l><lb/><l>Ach! wenn irrend sie den Weg verloren:</l><lb/><l>Gebe Gott, daß sie ihn balde finde!</l><lb/><l>Ach! hat sie der Jägersmann gefangen:</l></lg><lb/></lg></div></div></body></text></TEI>
[12/0078]
Der Hirsch und die Wila.
Hirschlein weidete im Waldesgrase
Einen Tag nur, weh ward ihm am andern,
Und am dritten stöhnt es Klag' und Seufzer.
Fragt' es da des Waldgebirges Wila:
„Hirschlein, sprach sie, Wild des grünen Bergwalds!
Was für großes Leid hat Dich befallen?
Weidest ja allhier im Waldesgrase
Einen Tag nur, weh wird Dir am andern,
Und am dritten stöhnst Du Klag' und Seufzer?“ —
Drauf der Hirsch entgegnete der Wila:
„Liebe Schwester, Wila dieses Bergwalds!
Wohl hat mich gar großes Leid befallen.
Hatt' ich eine gar geliebte Hindin,
In den Wald gieng neulich sie nach Wasser,
Gieng dahin, allein fie kam nicht wieder!
Hat sie irrend wohl den Weg verloren?
Hat der Jägersmann sie eingefangen?
Oder hat sie gänzlich mich verlassen,
Liebt ein andres Hirschlein, treuvergessen?
Ach! wenn irrend sie den Weg verloren:
Gebe Gott, daß sie ihn balde finde!
Ach! hat sie der Jägersmann gefangen:
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Robert Charlier, AV GWB Berlin: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-05-30T17:55:01Z)
Weitere Informationen:
Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.
Bogensignaturen: gekennzeichnet;
Druckfehler: dokumentiert;
fremdsprachliches Material: gekennzeichnet;
Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe;
Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage;
i/j in Fraktur: keine Angabe;
I/J in Fraktur: keine Angabe;
Kolumnentitel: keine Angabe;
Kustoden: gekennzeichnet;
langes s (ſ): keine Angabe;
Normalisierungen: keine Angabe;
rundes r (ꝛ): keine Angabe;
Seitenumbrüche markiert: keine Angabe;
Silbentrennung: wie Vorlage;
u/v bzw. U/V: keine Angabe;
Vokale mit übergest. e: keine Angabe;
Vollständigkeit: vollständig erfasst;
Zeichensetzung: wie Vorlage;
Zeilenumbrüche markiert: keine Angabe;
Talvj, Volkslieder der Serben, 1825, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_volkslieder_1825/78>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.