Euler, Karl (Hrsg.): Jahrbücher der deutschen Turnkunst. Bd. 1. Danzig, 1843.wohl gar, indem man sie als bloße Leibesübungen Mit der Auffassung des Turnens als einer Sitte wohl gar, indem man ſie als bloße Leibesübungen Mit der Auffaſſung des Turnens als einer Sitte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0067" n="63"/> wohl gar, indem man ſie als bloße Leibesübungen<lb/> empfiehlt, jenen wichtiger erſcheinen zu laſſen als dieſen.<lb/> Jn jeder lebendigen Sitte iſt Körperliches und Geiſti-<lb/> ges als Leib und Seele aufs innigſte verbunden.<lb/> Dieſe Verbindung iſt überhaupt Bedingung und we-<lb/> ſentliches Merkmal alles wahrhaft menſchenthümlichen<lb/> Lebens. Die Turnſitte vereinigt in ſich die Geberde<lb/> der Männlichkeit mit dem männlichen Sinn. Sie wird<lb/> vermißt, wo beides fehlt. Sie kann aber eben ſo<lb/> wenig aufkommen, wenn das eine oder das andere<lb/> fehlt, — wenn entweder das äußere turneriſche Trei-<lb/> ben des belebenden Geiſtes entbehrt, oder der turneri-<lb/> ſche Sinn vergeblich nach einer entſprechenden Aeuße-<lb/> rung ringt.</p><lb/> <p>Mit der Auffaſſung des Turnens als einer Sitte<lb/> iſt ferner ſowohl der ſogenannte <hi rendition="#g">humaniſtiſche</hi> als<lb/> auch der <hi rendition="#g">nationale</hi> (patriotiſche) Standpunkt gegeben;<lb/> und zwar in der Art, daß der erſte dieſer Geſichts-<lb/> punkte dem zweiten eingeordnet erſcheint. Menſchen-<lb/> ſitte überhaupt iſt, wie die Sprache, die in ſinnlicher<lb/> Hülle lebendig gewordene Menſchenſeele; der Sprache<lb/> gegenüber das Geberde gewordene menſchliche Gemüth.<lb/> Durch Uebung der Sprache und Sitte wird der Menſch<lb/> erſt zum Menſchen, durchs Turnen, in welchem ſich der<lb/> männliche Muth geberdet, der Mann erſt zum Manne.<lb/> Wie nun das allen Menſchen gemeinſame Weſen zwar<lb/> gedacht werden kann, aber nirgends rein und nackt<lb/> zur Erſcheinung kommt; wie in der Wirklichkeit viel-<lb/> mehr das Menſchenthümliche ſich nur in einer unend-<lb/> lichen Mannigfaltigkeit von eigenthümlichen Erſchei-<lb/> nungen offenbart: ſo iſt alle Sitte, in welcher menſch-<lb/> liches Gemüth zur Welt kommt, immer eine eigenthüm-<lb/> liche, — eine Volksſitte, und in weiterer Sonderung<lb/> eine perſönliche. Es giebt gewiſſe Grundzüge, die ſich<lb/> in keiner beſonderen Sitte verlängern, aber es giebt kei-<lb/> ne allgemeine Sitte für allgemeine Menſchen. Der<lb/> einzelne Menſch hat jedoch das, was er als eigenes Sit-<lb/> tengebiet beſitzt, nicht als Einzelner ſelbſt geſchaffen,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [63/0067]
wohl gar, indem man ſie als bloße Leibesübungen
empfiehlt, jenen wichtiger erſcheinen zu laſſen als dieſen.
Jn jeder lebendigen Sitte iſt Körperliches und Geiſti-
ges als Leib und Seele aufs innigſte verbunden.
Dieſe Verbindung iſt überhaupt Bedingung und we-
ſentliches Merkmal alles wahrhaft menſchenthümlichen
Lebens. Die Turnſitte vereinigt in ſich die Geberde
der Männlichkeit mit dem männlichen Sinn. Sie wird
vermißt, wo beides fehlt. Sie kann aber eben ſo
wenig aufkommen, wenn das eine oder das andere
fehlt, — wenn entweder das äußere turneriſche Trei-
ben des belebenden Geiſtes entbehrt, oder der turneri-
ſche Sinn vergeblich nach einer entſprechenden Aeuße-
rung ringt.
Mit der Auffaſſung des Turnens als einer Sitte
iſt ferner ſowohl der ſogenannte humaniſtiſche als
auch der nationale (patriotiſche) Standpunkt gegeben;
und zwar in der Art, daß der erſte dieſer Geſichts-
punkte dem zweiten eingeordnet erſcheint. Menſchen-
ſitte überhaupt iſt, wie die Sprache, die in ſinnlicher
Hülle lebendig gewordene Menſchenſeele; der Sprache
gegenüber das Geberde gewordene menſchliche Gemüth.
Durch Uebung der Sprache und Sitte wird der Menſch
erſt zum Menſchen, durchs Turnen, in welchem ſich der
männliche Muth geberdet, der Mann erſt zum Manne.
Wie nun das allen Menſchen gemeinſame Weſen zwar
gedacht werden kann, aber nirgends rein und nackt
zur Erſcheinung kommt; wie in der Wirklichkeit viel-
mehr das Menſchenthümliche ſich nur in einer unend-
lichen Mannigfaltigkeit von eigenthümlichen Erſchei-
nungen offenbart: ſo iſt alle Sitte, in welcher menſch-
liches Gemüth zur Welt kommt, immer eine eigenthüm-
liche, — eine Volksſitte, und in weiterer Sonderung
eine perſönliche. Es giebt gewiſſe Grundzüge, die ſich
in keiner beſonderen Sitte verlängern, aber es giebt kei-
ne allgemeine Sitte für allgemeine Menſchen. Der
einzelne Menſch hat jedoch das, was er als eigenes Sit-
tengebiet beſitzt, nicht als Einzelner ſelbſt geſchaffen,
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