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Sonntags-Blatt. Nr. 25. Berlin, 21. Juni 1868.

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[Beginn Spaltensatz] die einem mit schwarzen Rindern bespannten Karren voraufritten.
Auf dem Karren war ein Weib festgebunden, welches mit einem
gelben Gewande bekleidet war und auf ihren fliegenden Haaren eine
hohe Papiermütze trug, auf der ihr Name stand und aufwärts
lodernde Flammen gemalt waren. Hinter diesem Karren ritten auf
weißen Maulthieren die drei Jnquisitoren, Spanier von Geburt und
Mitglieder des Dominikaner=Ordens. Diesem Zuge folgte unmittelbar
ein zweiter ähnlicher Zug, der einen Karren mit einem darauf fest-
gebundenen Manne geleitete. Jnmitten dieser Züge wandelten sechs-
undzwanzig Leidensgestalten, Gefangene des heiligen Offiziums, die
verurtheilt waren, dem heutigen Schauspiel als gezwungene Zuschauer
zu ihrer Besserung beizuwohnen. Als die Züge auf dem Platz an-
gekommen, übergab man die beiden Delinquenten -- denn das waren sie,
-- Mitgliedern des Dominikaner=Ordens, indeß sich die Jnquisitoren
auf die für sie errichtete Tribüne verfügten. Hierauf wurden mit lauter
Stimme die Verbrechen und die Richtersprüche der Verurtheilten ver-
lesen. Das Weib war eine Benediktiner=Nonne, Schwester Gertrud,
die beschuldigt war, ausgesagt zu haben, daß sie mit Gott geistigen
und leiblichen Umgang pflege, dabei rein und heilig sei und von der
Jungfrau Maria selbst gehört habe, daß es keine Sünde sei, sich mit
seinem Beichtvater fleischlich zu vermischen. Der Mann war ein Laien-
bruder des Augustiner=Ordens Namens Remouald, angeklagt wegen
Ketzerei, weil er behauptet, er bekomme direkte Botschaften von Gott
durch die Engel, spreche mit ihnen und sei ein Prophet, der nicht
irren könne. Beide Verurtheilte waren offenbar irrsinnig; denn sie
konnten selbst durch jahrelange Kerker= und Folterqualen, Geißelung,
Hunger und Durst nicht von ihrem Wahn geheilt werden und wur-
den deßhalb zum Feuertode verurtheilt. Das von dem geistlichen
Gericht gesprochene Verdammungsurtheil war von dem Bischof von
Albarracia und dem spanischen Groß=Jnquisitor bestätigt worden, und
der deutsche Kaiser Karl VI. hatte in seinem frommen Eifer befohlen,
daß dasselbe mit aller Feierlichkeit eines großen Glaubensaktes voll-
streckt werden sollte. Jn beiden Urtheilssprüchen wurden die Scho-
nung, Güte und Freundlichkeit, mit der die heiligen Glaubensrichter
ihr schweres Amt verwaltet, besonders gerühmt, und die Hartnäckig-
keit, Bosheit und der Unglaube der beiden Verbrecher, so wie die
Nothwendigkeit, dem Aergerniß ein Ende zu machen und dem Abscheu
und Unwillen der guten Christen Rechnung zu tragen, hervorgehoben.
Als die beifällig aufgenommene Verlesung und die leere Förmlichkeit
nutzloser Bekehrungsversuche an den armen Geschöpfen, denen der Tod
offenbar eine Wohlthat war, vorüber, mußte jeder der Verurtheilten
unter Assistenz von Mönchen und Henkersknechten eines der Gerüste,
der Mönch das zur rechten, die Nonne das zur linken Seite des
Kreuzes errichtete besteigen.

Schwester Gertrud, die zum ersten Opfer ausersehen war, wurde
von Mönchen, die bei ihr den Henkersdienst verrichteten, an den über
die Bühne emporragenden Pfahl gebunden, nachdem man ihr Haar
mit Harz eingerieben und ihr Gewand mit Theer getränkt hatte.
Kleid und Haar zündeten dann die Mönche an und verließen darauf
das Gerüst, unter dem indeß der bereitete Scheiterhaufe in Brand
gesteckt wurde, in dessen Flammen das laut winselnde Weib versank,
während der daraus aufsteigende Rauch das Symbol des also ge-
schändeten Erlösers verhüllte. Eben so starb der Bruder Remouald,
der zuvor den Martertod seiner Leidensgefährtin anschauen gemußt.
Der die Tribüne und Schaugerüste in dichte Wolken einhüllende
Dampf und der Brandgeruch der Opser hinderten den lauten Beifall
nicht, den falsche Frömmigkeit und gottvergessener Aberglaube diesem
heiligen Glaubensakt zollten, und die sechsundzwanzig gezwungenen
Zuschauer waren vielleicht die Einzigen, die über dieses entsetzliche
Schauspiel Thränen vergossen.

2.
Aus dem Hofleben einer Kaiserin.

An dem Hof der Kaiserin Anna von Rußland, der jüngeren
Tochter des älteren Bruders Peters des Großen, herrschte ein wirklich
höchst eigenthümliches Leben und Treiben. Der Kaiserin war nur ein
sehr bescheidenes Maß von Bildung zugetheilt, und dies, verbunden
mit einigen Charaktereigenthümlichkeiten, geben die Haupterklärung
für die vielen absonderlichen Erscheinungen, die bei ihr an das
Licht traten.

Drei Deutsche theilten sich unter Anna's Regierung in die Ge-
walt, und zwar mit Talent und Geschick: Biron, der vom Sohn
eines kurländischen Stallmeisters zum Herzog avancirte, Ostermann,
der Sohn eines lutherischen Pastors aus Bochum in Westphalen,
und Münnich, der Sohn eines oldenburgischen Offiziers. Diesen drei
Männern hat Rußland unstreitig Vieles zu verdanken, wenn sie es
auch waren, die die vielen Palastrevolutionen förderten und leiteten
und dabei selbst die schicksalvollsten Erlebnisse erfuhren. Die größte
[Spaltenumbruch] Pracht, verbunden mit der absurdesten Geschmacklosigkeit, waren in
den Hofkreisen vorherrschende Elemente -- Schmutz mit Gold verbrämt.
Die Großen ruinirten sich, um einen unsinnigen Luxus entfalten zu
können, bei dem die seltsamsten Kontraste zur Erscheinung kamen.
Für Putz= und Modehändler war damals Rußland, und vorzugs-
weise Petersburg, ein wahres Goldland. Die Kaiserin Anna spielte
gern Billard, um sich Bewegung zu verschaffen. Sie liebte Schau-
spiele und Musik, besonders aber fanden die Komödien ihren Beifall,
die mit einer tüchtigen Prügelei endigten. Da sie den Anblick eines
Betrunkenen nicht ertragen konnte, so war ein Verbot auf das Trin-
ken gelegt, nur ihr Oberstallmeister Fürst Kurakin durfte so viel
trinken, als er wollte. Damit aber die Nation die liebe Gewohnheit
des Trinkens nicht ganz einbüße, hatte Anna den Tag ihrer Thron-
besteigung, den 20. Januar alten Stils, dem Bachus geweiht. An
diesem Tage konnte sich Jedermann nach Kräften gütlich thun, und
die Herren aus der Umgebung der Kaiserin waren gehalten, vor ihr
knieend ein großes Glas Ungarwein auszutrinken. Der in Rußland
herrschenden Sitte gemäß, Hofnarren zu halten, leistete auch Anna
Folge; sie hatte deren sechs, die stets bereit sein mußten, ihren Wün-
schen und Befehlen zu gehorchen: La Costa, Pedrillo, Galitzyn,
Wolkonsky, Apraxin und Balakrew. Drei davon gehörten den älte-
sten Adelsgeschlechtern Rußlands an, darunter zwei Fürsten, Galitzyn
und Wolkonsky; La Costa war ein portugiesischer Jude, der bereits
bei Peter dem Großen die Stelle eines Hofnarren bekleidet hatte und
von diesem zum König der Samojeden ernannt worden war. Pedrillo,
ein Jtaliener, war von der Stelle eines Baßgeigers der Oper zum
Hofnarren avancirt und hatte es wohl verstanden, seine Stellung zu
seinem Vortheil auszunützen. Die russische Sitte, wenn man eine
Wöchnerin besucht, ihr ein Geschenk zu machen, wofür man zum Dank
von derselben einen Kuß erhält, brachte auch Pedrillo Gewinn. Biron
beschuldigte scherzweise Pedrillo, daß er eine Ziege zur Frau hätte.
Der schlaue Jtaliener ging sofort darauf ein, sagte, es sei in Wahr-
heit so, seine Frau würde sogar nächstens entbunden werden, und er
lade im Voraus Jhro Majestät sammt dem ganzen Hofstaat zum
Wochenbesuch ein, in der Hoffnung, ein Geschenk zu erzielen, davon
er seinen Kindern eine gute Erziehung geben lassen könne. Der
Spaß glückte ihm. Auf einem eigens dazu erwählten Schauplatz
legte er sich mit einer Ziege zu Bett und wurde so von der Kaiserin
und ihrem Gefolge besucht. Dieser Besuch trug ihm eine Summe
von 10,000 Rubeln ein. Jnnerhalb neun Jahren hatte sich Pedrillo
20,000 Rubel erspart und war klug genug, sich mit seinen Ersparnissen
aus Rußland fortzumachen. Pedrillo und La Costa zu Ehren stiftete
Anna den St. Benedetto=Orden, mit dem sie Beide bekleidete. Wol-
konsky hatte die Aufsicht über das Windspiel der Kaiserin. Fürst
Galitzyn war gezwungen oder vielmehr zur Strafe Hofnarr, weil er
auf einer Reise im Ausland von der griechischen zur römischen Kirche
übergetreten war. Mit diesen Leuten belustigte sich die Kaiserin, und
oft genug höchst seltsam. So z. B. mußten sich alle Sechs in einer
Reihe an die Wand des Zimmers stellen und Einer dem Andern ein
Bein unterschlagen, daß sie hinstürzten. Oder sie mußten sich bei den
Haaren raufen und blutrünstig schlagen, worüber sich Anna sehr zu
ergötzen pflegte. Wer sich dies zu thun weigerte, wurde streng be-
straft, wie einst der arme Balakrew erfuhr, der, weil er sich einmal
nicht niederwerfen wollte, die Knute bekam. Galitzyn hatte seine
entwürdigende Stellung zu jener Selbstverachtung gebracht, für die
es nichts Heiliges mehr giebt. Er war bereits ein Mann von vierzig
Jahren, als ihn das unglückliche Loos traf, und hatte einen Sohn,
der schon als Offizier in der russischen Armee diente. Als seine Ge-
mahlin gestorben war, forderte ihn die Kaiserin auf, eine zweite Frau
zu nehmen, und versprach ihm, seine Hochzeit auf das Glänzendste
auszurichten. Galitzyn ging auf den Vorschlag ein, suchte sich ein
Mädchen aus niederem Stande aus und mahnte die Kaiserin an ihr
gegebenes Versprechen. Diese Hochzeit sollte den Höhepunkt kaiser-
licher Lustbarkeiten bilden. Anna wollte dabei einmal einen Ueber-
blick über die verschiedenen Völkerschaften haben, die ihrem Scepter
gehorchen mußten; deßhalb waren die Statthalter sämmtlicher Pro-
vinzen angewiesen worden, je einige Personen beiderlei Geschlechts
auszusuchen und nach Petersburg zu senden, wo sie auf Kosten des
Hofes neue Landestrachten erhielten. Den Kabinetsminister von Wol-
konski hatte die Kaiserin mit der Ausrichtung der Hochzeit beauftragt,
der natürlich nur den gegebenen Vorschriften zu gehorchen hatte.
Der Winter war als die passendste Jahreszeit zu der Feier ausersehen
worden, und um ihr das Gepräge des Außerordentlichen aufzudrücken,
ließ die Kaiserin ein Haus aus Eis formen, welches zwei Zimmer
enthielt. Jn diesem Hause war bis auf die Brautbettstellen Alles
aus Eis gefertigt. Vor demselben waren sechs Geschütze aufgepflanzt,
ebenfalls aus Eis, aus denen man sogar schoß, ohne daß sie zer-
sprangen. Die zu dem feierlichen Hochzeitszug designirten Personen
versammelten sich bei Wolkonski, der die Arrangements traf. Einen
ähnlichen Zug hatte Petersburg noch nie gesehen. Derselbe bestand
aus einer Reihe von Schlitten, in denen je ein Paar Hochzeitsgäste
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] die einem mit schwarzen Rindern bespannten Karren voraufritten.
Auf dem Karren war ein Weib festgebunden, welches mit einem
gelben Gewande bekleidet war und auf ihren fliegenden Haaren eine
hohe Papiermütze trug, auf der ihr Name stand und aufwärts
lodernde Flammen gemalt waren. Hinter diesem Karren ritten auf
weißen Maulthieren die drei Jnquisitoren, Spanier von Geburt und
Mitglieder des Dominikaner=Ordens. Diesem Zuge folgte unmittelbar
ein zweiter ähnlicher Zug, der einen Karren mit einem darauf fest-
gebundenen Manne geleitete. Jnmitten dieser Züge wandelten sechs-
undzwanzig Leidensgestalten, Gefangene des heiligen Offiziums, die
verurtheilt waren, dem heutigen Schauspiel als gezwungene Zuschauer
zu ihrer Besserung beizuwohnen. Als die Züge auf dem Platz an-
gekommen, übergab man die beiden Delinquenten — denn das waren sie,
— Mitgliedern des Dominikaner=Ordens, indeß sich die Jnquisitoren
auf die für sie errichtete Tribüne verfügten. Hierauf wurden mit lauter
Stimme die Verbrechen und die Richtersprüche der Verurtheilten ver-
lesen. Das Weib war eine Benediktiner=Nonne, Schwester Gertrud,
die beschuldigt war, ausgesagt zu haben, daß sie mit Gott geistigen
und leiblichen Umgang pflege, dabei rein und heilig sei und von der
Jungfrau Maria selbst gehört habe, daß es keine Sünde sei, sich mit
seinem Beichtvater fleischlich zu vermischen. Der Mann war ein Laien-
bruder des Augustiner=Ordens Namens Remouald, angeklagt wegen
Ketzerei, weil er behauptet, er bekomme direkte Botschaften von Gott
durch die Engel, spreche mit ihnen und sei ein Prophet, der nicht
irren könne. Beide Verurtheilte waren offenbar irrsinnig; denn sie
konnten selbst durch jahrelange Kerker= und Folterqualen, Geißelung,
Hunger und Durst nicht von ihrem Wahn geheilt werden und wur-
den deßhalb zum Feuertode verurtheilt. Das von dem geistlichen
Gericht gesprochene Verdammungsurtheil war von dem Bischof von
Albarracia und dem spanischen Groß=Jnquisitor bestätigt worden, und
der deutsche Kaiser Karl VI. hatte in seinem frommen Eifer befohlen,
daß dasselbe mit aller Feierlichkeit eines großen Glaubensaktes voll-
streckt werden sollte. Jn beiden Urtheilssprüchen wurden die Scho-
nung, Güte und Freundlichkeit, mit der die heiligen Glaubensrichter
ihr schweres Amt verwaltet, besonders gerühmt, und die Hartnäckig-
keit, Bosheit und der Unglaube der beiden Verbrecher, so wie die
Nothwendigkeit, dem Aergerniß ein Ende zu machen und dem Abscheu
und Unwillen der guten Christen Rechnung zu tragen, hervorgehoben.
Als die beifällig aufgenommene Verlesung und die leere Förmlichkeit
nutzloser Bekehrungsversuche an den armen Geschöpfen, denen der Tod
offenbar eine Wohlthat war, vorüber, mußte jeder der Verurtheilten
unter Assistenz von Mönchen und Henkersknechten eines der Gerüste,
der Mönch das zur rechten, die Nonne das zur linken Seite des
Kreuzes errichtete besteigen.

Schwester Gertrud, die zum ersten Opfer ausersehen war, wurde
von Mönchen, die bei ihr den Henkersdienst verrichteten, an den über
die Bühne emporragenden Pfahl gebunden, nachdem man ihr Haar
mit Harz eingerieben und ihr Gewand mit Theer getränkt hatte.
Kleid und Haar zündeten dann die Mönche an und verließen darauf
das Gerüst, unter dem indeß der bereitete Scheiterhaufe in Brand
gesteckt wurde, in dessen Flammen das laut winselnde Weib versank,
während der daraus aufsteigende Rauch das Symbol des also ge-
schändeten Erlösers verhüllte. Eben so starb der Bruder Remouald,
der zuvor den Martertod seiner Leidensgefährtin anschauen gemußt.
Der die Tribüne und Schaugerüste in dichte Wolken einhüllende
Dampf und der Brandgeruch der Opser hinderten den lauten Beifall
nicht, den falsche Frömmigkeit und gottvergessener Aberglaube diesem
heiligen Glaubensakt zollten, und die sechsundzwanzig gezwungenen
Zuschauer waren vielleicht die Einzigen, die über dieses entsetzliche
Schauspiel Thränen vergossen.

2.
Aus dem Hofleben einer Kaiserin.

An dem Hof der Kaiserin Anna von Rußland, der jüngeren
Tochter des älteren Bruders Peters des Großen, herrschte ein wirklich
höchst eigenthümliches Leben und Treiben. Der Kaiserin war nur ein
sehr bescheidenes Maß von Bildung zugetheilt, und dies, verbunden
mit einigen Charaktereigenthümlichkeiten, geben die Haupterklärung
für die vielen absonderlichen Erscheinungen, die bei ihr an das
Licht traten.

Drei Deutsche theilten sich unter Anna's Regierung in die Ge-
walt, und zwar mit Talent und Geschick: Biron, der vom Sohn
eines kurländischen Stallmeisters zum Herzog avancirte, Ostermann,
der Sohn eines lutherischen Pastors aus Bochum in Westphalen,
und Münnich, der Sohn eines oldenburgischen Offiziers. Diesen drei
Männern hat Rußland unstreitig Vieles zu verdanken, wenn sie es
auch waren, die die vielen Palastrevolutionen förderten und leiteten
und dabei selbst die schicksalvollsten Erlebnisse erfuhren. Die größte
[Spaltenumbruch] Pracht, verbunden mit der absurdesten Geschmacklosigkeit, waren in
den Hofkreisen vorherrschende Elemente — Schmutz mit Gold verbrämt.
Die Großen ruinirten sich, um einen unsinnigen Luxus entfalten zu
können, bei dem die seltsamsten Kontraste zur Erscheinung kamen.
Für Putz= und Modehändler war damals Rußland, und vorzugs-
weise Petersburg, ein wahres Goldland. Die Kaiserin Anna spielte
gern Billard, um sich Bewegung zu verschaffen. Sie liebte Schau-
spiele und Musik, besonders aber fanden die Komödien ihren Beifall,
die mit einer tüchtigen Prügelei endigten. Da sie den Anblick eines
Betrunkenen nicht ertragen konnte, so war ein Verbot auf das Trin-
ken gelegt, nur ihr Oberstallmeister Fürst Kurakin durfte so viel
trinken, als er wollte. Damit aber die Nation die liebe Gewohnheit
des Trinkens nicht ganz einbüße, hatte Anna den Tag ihrer Thron-
besteigung, den 20. Januar alten Stils, dem Bachus geweiht. An
diesem Tage konnte sich Jedermann nach Kräften gütlich thun, und
die Herren aus der Umgebung der Kaiserin waren gehalten, vor ihr
knieend ein großes Glas Ungarwein auszutrinken. Der in Rußland
herrschenden Sitte gemäß, Hofnarren zu halten, leistete auch Anna
Folge; sie hatte deren sechs, die stets bereit sein mußten, ihren Wün-
schen und Befehlen zu gehorchen: La Costa, Pedrillo, Galitzyn,
Wolkonsky, Apraxin und Balakrew. Drei davon gehörten den älte-
sten Adelsgeschlechtern Rußlands an, darunter zwei Fürsten, Galitzyn
und Wolkonsky; La Costa war ein portugiesischer Jude, der bereits
bei Peter dem Großen die Stelle eines Hofnarren bekleidet hatte und
von diesem zum König der Samojeden ernannt worden war. Pedrillo,
ein Jtaliener, war von der Stelle eines Baßgeigers der Oper zum
Hofnarren avancirt und hatte es wohl verstanden, seine Stellung zu
seinem Vortheil auszunützen. Die russische Sitte, wenn man eine
Wöchnerin besucht, ihr ein Geschenk zu machen, wofür man zum Dank
von derselben einen Kuß erhält, brachte auch Pedrillo Gewinn. Biron
beschuldigte scherzweise Pedrillo, daß er eine Ziege zur Frau hätte.
Der schlaue Jtaliener ging sofort darauf ein, sagte, es sei in Wahr-
heit so, seine Frau würde sogar nächstens entbunden werden, und er
lade im Voraus Jhro Majestät sammt dem ganzen Hofstaat zum
Wochenbesuch ein, in der Hoffnung, ein Geschenk zu erzielen, davon
er seinen Kindern eine gute Erziehung geben lassen könne. Der
Spaß glückte ihm. Auf einem eigens dazu erwählten Schauplatz
legte er sich mit einer Ziege zu Bett und wurde so von der Kaiserin
und ihrem Gefolge besucht. Dieser Besuch trug ihm eine Summe
von 10,000 Rubeln ein. Jnnerhalb neun Jahren hatte sich Pedrillo
20,000 Rubel erspart und war klug genug, sich mit seinen Ersparnissen
aus Rußland fortzumachen. Pedrillo und La Costa zu Ehren stiftete
Anna den St. Benedetto=Orden, mit dem sie Beide bekleidete. Wol-
konsky hatte die Aufsicht über das Windspiel der Kaiserin. Fürst
Galitzyn war gezwungen oder vielmehr zur Strafe Hofnarr, weil er
auf einer Reise im Ausland von der griechischen zur römischen Kirche
übergetreten war. Mit diesen Leuten belustigte sich die Kaiserin, und
oft genug höchst seltsam. So z. B. mußten sich alle Sechs in einer
Reihe an die Wand des Zimmers stellen und Einer dem Andern ein
Bein unterschlagen, daß sie hinstürzten. Oder sie mußten sich bei den
Haaren raufen und blutrünstig schlagen, worüber sich Anna sehr zu
ergötzen pflegte. Wer sich dies zu thun weigerte, wurde streng be-
straft, wie einst der arme Balakrew erfuhr, der, weil er sich einmal
nicht niederwerfen wollte, die Knute bekam. Galitzyn hatte seine
entwürdigende Stellung zu jener Selbstverachtung gebracht, für die
es nichts Heiliges mehr giebt. Er war bereits ein Mann von vierzig
Jahren, als ihn das unglückliche Loos traf, und hatte einen Sohn,
der schon als Offizier in der russischen Armee diente. Als seine Ge-
mahlin gestorben war, forderte ihn die Kaiserin auf, eine zweite Frau
zu nehmen, und versprach ihm, seine Hochzeit auf das Glänzendste
auszurichten. Galitzyn ging auf den Vorschlag ein, suchte sich ein
Mädchen aus niederem Stande aus und mahnte die Kaiserin an ihr
gegebenes Versprechen. Diese Hochzeit sollte den Höhepunkt kaiser-
licher Lustbarkeiten bilden. Anna wollte dabei einmal einen Ueber-
blick über die verschiedenen Völkerschaften haben, die ihrem Scepter
gehorchen mußten; deßhalb waren die Statthalter sämmtlicher Pro-
vinzen angewiesen worden, je einige Personen beiderlei Geschlechts
auszusuchen und nach Petersburg zu senden, wo sie auf Kosten des
Hofes neue Landestrachten erhielten. Den Kabinetsminister von Wol-
konski hatte die Kaiserin mit der Ausrichtung der Hochzeit beauftragt,
der natürlich nur den gegebenen Vorschriften zu gehorchen hatte.
Der Winter war als die passendste Jahreszeit zu der Feier ausersehen
worden, und um ihr das Gepräge des Außerordentlichen aufzudrücken,
ließ die Kaiserin ein Haus aus Eis formen, welches zwei Zimmer
enthielt. Jn diesem Hause war bis auf die Brautbettstellen Alles
aus Eis gefertigt. Vor demselben waren sechs Geschütze aufgepflanzt,
ebenfalls aus Eis, aus denen man sogar schoß, ohne daß sie zer-
sprangen. Die zu dem feierlichen Hochzeitszug designirten Personen
versammelten sich bei Wolkonski, der die Arrangements traf. Einen
ähnlichen Zug hatte Petersburg noch nie gesehen. Derselbe bestand
aus einer Reihe von Schlitten, in denen je ein Paar Hochzeitsgäste
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[199/0007] 199 die einem mit schwarzen Rindern bespannten Karren voraufritten. Auf dem Karren war ein Weib festgebunden, welches mit einem gelben Gewande bekleidet war und auf ihren fliegenden Haaren eine hohe Papiermütze trug, auf der ihr Name stand und aufwärts lodernde Flammen gemalt waren. Hinter diesem Karren ritten auf weißen Maulthieren die drei Jnquisitoren, Spanier von Geburt und Mitglieder des Dominikaner=Ordens. Diesem Zuge folgte unmittelbar ein zweiter ähnlicher Zug, der einen Karren mit einem darauf fest- gebundenen Manne geleitete. Jnmitten dieser Züge wandelten sechs- undzwanzig Leidensgestalten, Gefangene des heiligen Offiziums, die verurtheilt waren, dem heutigen Schauspiel als gezwungene Zuschauer zu ihrer Besserung beizuwohnen. Als die Züge auf dem Platz an- gekommen, übergab man die beiden Delinquenten — denn das waren sie, — Mitgliedern des Dominikaner=Ordens, indeß sich die Jnquisitoren auf die für sie errichtete Tribüne verfügten. Hierauf wurden mit lauter Stimme die Verbrechen und die Richtersprüche der Verurtheilten ver- lesen. Das Weib war eine Benediktiner=Nonne, Schwester Gertrud, die beschuldigt war, ausgesagt zu haben, daß sie mit Gott geistigen und leiblichen Umgang pflege, dabei rein und heilig sei und von der Jungfrau Maria selbst gehört habe, daß es keine Sünde sei, sich mit seinem Beichtvater fleischlich zu vermischen. Der Mann war ein Laien- bruder des Augustiner=Ordens Namens Remouald, angeklagt wegen Ketzerei, weil er behauptet, er bekomme direkte Botschaften von Gott durch die Engel, spreche mit ihnen und sei ein Prophet, der nicht irren könne. Beide Verurtheilte waren offenbar irrsinnig; denn sie konnten selbst durch jahrelange Kerker= und Folterqualen, Geißelung, Hunger und Durst nicht von ihrem Wahn geheilt werden und wur- den deßhalb zum Feuertode verurtheilt. Das von dem geistlichen Gericht gesprochene Verdammungsurtheil war von dem Bischof von Albarracia und dem spanischen Groß=Jnquisitor bestätigt worden, und der deutsche Kaiser Karl VI. hatte in seinem frommen Eifer befohlen, daß dasselbe mit aller Feierlichkeit eines großen Glaubensaktes voll- streckt werden sollte. Jn beiden Urtheilssprüchen wurden die Scho- nung, Güte und Freundlichkeit, mit der die heiligen Glaubensrichter ihr schweres Amt verwaltet, besonders gerühmt, und die Hartnäckig- keit, Bosheit und der Unglaube der beiden Verbrecher, so wie die Nothwendigkeit, dem Aergerniß ein Ende zu machen und dem Abscheu und Unwillen der guten Christen Rechnung zu tragen, hervorgehoben. Als die beifällig aufgenommene Verlesung und die leere Förmlichkeit nutzloser Bekehrungsversuche an den armen Geschöpfen, denen der Tod offenbar eine Wohlthat war, vorüber, mußte jeder der Verurtheilten unter Assistenz von Mönchen und Henkersknechten eines der Gerüste, der Mönch das zur rechten, die Nonne das zur linken Seite des Kreuzes errichtete besteigen. Schwester Gertrud, die zum ersten Opfer ausersehen war, wurde von Mönchen, die bei ihr den Henkersdienst verrichteten, an den über die Bühne emporragenden Pfahl gebunden, nachdem man ihr Haar mit Harz eingerieben und ihr Gewand mit Theer getränkt hatte. Kleid und Haar zündeten dann die Mönche an und verließen darauf das Gerüst, unter dem indeß der bereitete Scheiterhaufe in Brand gesteckt wurde, in dessen Flammen das laut winselnde Weib versank, während der daraus aufsteigende Rauch das Symbol des also ge- schändeten Erlösers verhüllte. Eben so starb der Bruder Remouald, der zuvor den Martertod seiner Leidensgefährtin anschauen gemußt. Der die Tribüne und Schaugerüste in dichte Wolken einhüllende Dampf und der Brandgeruch der Opser hinderten den lauten Beifall nicht, den falsche Frömmigkeit und gottvergessener Aberglaube diesem heiligen Glaubensakt zollten, und die sechsundzwanzig gezwungenen Zuschauer waren vielleicht die Einzigen, die über dieses entsetzliche Schauspiel Thränen vergossen. 2. Aus dem Hofleben einer Kaiserin. An dem Hof der Kaiserin Anna von Rußland, der jüngeren Tochter des älteren Bruders Peters des Großen, herrschte ein wirklich höchst eigenthümliches Leben und Treiben. Der Kaiserin war nur ein sehr bescheidenes Maß von Bildung zugetheilt, und dies, verbunden mit einigen Charaktereigenthümlichkeiten, geben die Haupterklärung für die vielen absonderlichen Erscheinungen, die bei ihr an das Licht traten. Drei Deutsche theilten sich unter Anna's Regierung in die Ge- walt, und zwar mit Talent und Geschick: Biron, der vom Sohn eines kurländischen Stallmeisters zum Herzog avancirte, Ostermann, der Sohn eines lutherischen Pastors aus Bochum in Westphalen, und Münnich, der Sohn eines oldenburgischen Offiziers. Diesen drei Männern hat Rußland unstreitig Vieles zu verdanken, wenn sie es auch waren, die die vielen Palastrevolutionen förderten und leiteten und dabei selbst die schicksalvollsten Erlebnisse erfuhren. Die größte Pracht, verbunden mit der absurdesten Geschmacklosigkeit, waren in den Hofkreisen vorherrschende Elemente — Schmutz mit Gold verbrämt. Die Großen ruinirten sich, um einen unsinnigen Luxus entfalten zu können, bei dem die seltsamsten Kontraste zur Erscheinung kamen. Für Putz= und Modehändler war damals Rußland, und vorzugs- weise Petersburg, ein wahres Goldland. Die Kaiserin Anna spielte gern Billard, um sich Bewegung zu verschaffen. Sie liebte Schau- spiele und Musik, besonders aber fanden die Komödien ihren Beifall, die mit einer tüchtigen Prügelei endigten. Da sie den Anblick eines Betrunkenen nicht ertragen konnte, so war ein Verbot auf das Trin- ken gelegt, nur ihr Oberstallmeister Fürst Kurakin durfte so viel trinken, als er wollte. Damit aber die Nation die liebe Gewohnheit des Trinkens nicht ganz einbüße, hatte Anna den Tag ihrer Thron- besteigung, den 20. Januar alten Stils, dem Bachus geweiht. An diesem Tage konnte sich Jedermann nach Kräften gütlich thun, und die Herren aus der Umgebung der Kaiserin waren gehalten, vor ihr knieend ein großes Glas Ungarwein auszutrinken. Der in Rußland herrschenden Sitte gemäß, Hofnarren zu halten, leistete auch Anna Folge; sie hatte deren sechs, die stets bereit sein mußten, ihren Wün- schen und Befehlen zu gehorchen: La Costa, Pedrillo, Galitzyn, Wolkonsky, Apraxin und Balakrew. Drei davon gehörten den älte- sten Adelsgeschlechtern Rußlands an, darunter zwei Fürsten, Galitzyn und Wolkonsky; La Costa war ein portugiesischer Jude, der bereits bei Peter dem Großen die Stelle eines Hofnarren bekleidet hatte und von diesem zum König der Samojeden ernannt worden war. Pedrillo, ein Jtaliener, war von der Stelle eines Baßgeigers der Oper zum Hofnarren avancirt und hatte es wohl verstanden, seine Stellung zu seinem Vortheil auszunützen. Die russische Sitte, wenn man eine Wöchnerin besucht, ihr ein Geschenk zu machen, wofür man zum Dank von derselben einen Kuß erhält, brachte auch Pedrillo Gewinn. Biron beschuldigte scherzweise Pedrillo, daß er eine Ziege zur Frau hätte. Der schlaue Jtaliener ging sofort darauf ein, sagte, es sei in Wahr- heit so, seine Frau würde sogar nächstens entbunden werden, und er lade im Voraus Jhro Majestät sammt dem ganzen Hofstaat zum Wochenbesuch ein, in der Hoffnung, ein Geschenk zu erzielen, davon er seinen Kindern eine gute Erziehung geben lassen könne. Der Spaß glückte ihm. Auf einem eigens dazu erwählten Schauplatz legte er sich mit einer Ziege zu Bett und wurde so von der Kaiserin und ihrem Gefolge besucht. Dieser Besuch trug ihm eine Summe von 10,000 Rubeln ein. Jnnerhalb neun Jahren hatte sich Pedrillo 20,000 Rubel erspart und war klug genug, sich mit seinen Ersparnissen aus Rußland fortzumachen. Pedrillo und La Costa zu Ehren stiftete Anna den St. Benedetto=Orden, mit dem sie Beide bekleidete. Wol- konsky hatte die Aufsicht über das Windspiel der Kaiserin. Fürst Galitzyn war gezwungen oder vielmehr zur Strafe Hofnarr, weil er auf einer Reise im Ausland von der griechischen zur römischen Kirche übergetreten war. Mit diesen Leuten belustigte sich die Kaiserin, und oft genug höchst seltsam. So z. B. mußten sich alle Sechs in einer Reihe an die Wand des Zimmers stellen und Einer dem Andern ein Bein unterschlagen, daß sie hinstürzten. Oder sie mußten sich bei den Haaren raufen und blutrünstig schlagen, worüber sich Anna sehr zu ergötzen pflegte. Wer sich dies zu thun weigerte, wurde streng be- straft, wie einst der arme Balakrew erfuhr, der, weil er sich einmal nicht niederwerfen wollte, die Knute bekam. Galitzyn hatte seine entwürdigende Stellung zu jener Selbstverachtung gebracht, für die es nichts Heiliges mehr giebt. Er war bereits ein Mann von vierzig Jahren, als ihn das unglückliche Loos traf, und hatte einen Sohn, der schon als Offizier in der russischen Armee diente. Als seine Ge- mahlin gestorben war, forderte ihn die Kaiserin auf, eine zweite Frau zu nehmen, und versprach ihm, seine Hochzeit auf das Glänzendste auszurichten. Galitzyn ging auf den Vorschlag ein, suchte sich ein Mädchen aus niederem Stande aus und mahnte die Kaiserin an ihr gegebenes Versprechen. Diese Hochzeit sollte den Höhepunkt kaiser- licher Lustbarkeiten bilden. Anna wollte dabei einmal einen Ueber- blick über die verschiedenen Völkerschaften haben, die ihrem Scepter gehorchen mußten; deßhalb waren die Statthalter sämmtlicher Pro- vinzen angewiesen worden, je einige Personen beiderlei Geschlechts auszusuchen und nach Petersburg zu senden, wo sie auf Kosten des Hofes neue Landestrachten erhielten. Den Kabinetsminister von Wol- konski hatte die Kaiserin mit der Ausrichtung der Hochzeit beauftragt, der natürlich nur den gegebenen Vorschriften zu gehorchen hatte. Der Winter war als die passendste Jahreszeit zu der Feier ausersehen worden, und um ihr das Gepräge des Außerordentlichen aufzudrücken, ließ die Kaiserin ein Haus aus Eis formen, welches zwei Zimmer enthielt. Jn diesem Hause war bis auf die Brautbettstellen Alles aus Eis gefertigt. Vor demselben waren sechs Geschütze aufgepflanzt, ebenfalls aus Eis, aus denen man sogar schoß, ohne daß sie zer- sprangen. Die zu dem feierlichen Hochzeitszug designirten Personen versammelten sich bei Wolkonski, der die Arrangements traf. Einen ähnlichen Zug hatte Petersburg noch nie gesehen. Derselbe bestand aus einer Reihe von Schlitten, in denen je ein Paar Hochzeitsgäste

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 25. Berlin, 21. Juni 1868, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt25_1868/7>, abgerufen am 01.07.2024.