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Sonntags-Blatt. Nr. 25. Berlin, 21. Juni 1868.

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[Beginn Spaltensatz]

"Meine alte Tochter", sprach er, "soll ihre Rechte neben der
jüngeren nicht verlieren. Für Euch Beide soll, so weit ich es ver-
mag, mehr Freude im Leben blühen, als mir bestimmt war."

XI.

Mehr als ein Jahr war nach jenen Ereignissen vergangen. An
einem milden Sommerabend hatte sich in dem Garten des Banquiers
eine kleine Gesellschaft zusammengefunden.

Der Assessor und seine Frau waren von einer längeren Hochzeits-
reise zurückgekehrt und hatten den Abend benutzt, ihren Freunden
einen Besuch zu machen und ihre gegenseitigen Erlebnisse mit-
zutheilen.

Helene stand aufrecht am Tisch und goß den Thee in die Tassen.
Sie erschien etwas voller und noch reizender als früher. Mit ihrer
feinen Hand stellte sie dem Assessor die eine Tasse hin; der Banquier,
welcher an ihrer Seite saß, reichte ihr eine andere zu. Marie unter-
hielt sich lebhaft mit der Frau des Assessors; sie wandte sich plötzlich
um und deutete auf einen jungen Mann, welcher mit Ludwig im Ge-
spräch auf und ab ging.

"Er ist ein Cousin Ludwigs", sagte sie. "Vor drei Monaten
kam er hierher, ihn zu besuchen und Abschied zu nehmen. Er wollte
eine Stelle in einem Bankgeschäft in England antreten; aber weil
der Vater gerade einen Geschäftsführer nöthig hatte, überredete er
ihn, jene Stelle aufzugeben und bei ihm einzutreten. Seitdem ist er
sehr oft bei uns gewesen, und -- ich glaube, er macht mir den Hof",
flüsterte sie.

"Hat Dein Vater nichts dagegen einzuwenden?" meinte die kluge
Frau des Assessors.

"O, er kümmert sich nicht darum; aber er sagte mir neulich,
daß Wilhelm, so heißt er", fügte sie erröthend hinzu, "ein sehr brauch-
barer, zuverlässiger Mensch sei, und daß er Lust habe, ihn zum Ge-
schäftstheilhaber zu nehmen. Er ist von sehr guter Familie und be-
sitzt ein nicht unbedeutendes Vermögen."

"Dann ist es ja eine sehr gute Partie für Dich", versicherte die
Frau Assessorin, und Dein Vater wird jedenfalls sehr zufrieden sein --"

"So weit sind wir noch nicht", unterbrach Marie. "Wir kennen
uns noch sehr wenig."

"Aber er mißfällt nicht dem kleinen Herzen?"

"Jch will erst genau untersuchen. Wenn man so böse Erfahrun-
gen gemacht hat, wie ich --"

"Du bleibst so in der Familie, wenn er, wie Du sagst, der Cousin
des Doktors ist."

"Sie sehen sich einander ähnlich, nicht wahr?"

Die Assessorin prüfte.

"Nun, es ist manche Verschiedenheit zwischen Beiden; aber dar-
über kann man hinwegsehen. Hat er sich Dir schon erklärt?"

"Was denkst Du! Wir haben noch nie ein längeres Gespräch
zusammen geführt, ohne daß Andere dabei gewesen wären."

"Jch werde ihn etwas ausforschen; ich verstehe das, wie Du
weißt."

Die Assessorin hatte ihre frühere Neigung noch nicht aufgegeben.

"Nein, ich gebe es nicht zu", sprach Marie eifrig. "Wenn er
will, wird er schon sprechen; er ist nicht blöde. Solche Vermittlung
taugt nichts, ich habe es empfunden."

"Nun gut, liebe Marie, dann sieh Du zu, wie Du allein fertig
wirst". Die Assessorin war etwas pikirt.

"Nimm es mir nicht übel", sagte die gutmüthige Marie, "aber --
ich kenne jetzt doch mehr vom Leben und kann schon besser beurthei-
len; deßhalb will ich nun ohne Hülfe in meinen Angelegenheiten mich
zurecht finden."

Die Assessorin warf einen lächelnden Blick auf Marie, welcher
einige Zweifel auszudrücken schien.

Hohenfeld unterredete sich währenddessen mit dem Assessor und
Helene. Jetzt kam auch Ludwig mit seinem Cousin herzu. Ludwig
nahm an der Seite seiner Frau Platz. Helene hatte nachgegeben.
Die neue Lage, in welcher sie sich, als die Tochter des Banquiers,
befand, hatte ihre frühere Abweisung zu nichte gemacht; der Banquier
selbst hatte auf eine Verbindung der Beiden hingewirkt. Sie wohnten
in dem Hause Hohenfelds, welcher seine Tochter nicht von sich lassen
wollte. Selbst ihre Hochzeitsreise mußten sie verkürzen, weil der
Vater seine Sehnsucht nach Helene nicht verbergen konnte und in
seinen Briefen nur von seiner Trauer und Einsamkeit zu berichten
wußte.

Hohenfeld benahm sich Helene gegenüber fast wie ein Liebhaber;
seine Augen folgten ihr, wenn sie durch das Zimmer ging; er
wählte stets seinen Platz an ihrer Seite; er errieth jeden ihrer Wünsche
und pflegte, so oft er nach Hause zurückkehrte, immer diese oder jene
Kleinigkeit für sie mitzubringen. Jenes Bild, welches er einst vor-
gezeigt hatte, hing jetzt ohne Umhüllung über seinem Schreibtisch.

[Spaltenumbruch]

Dennoch hatte Helene darauf gedrungen, ihre eigene Haushal-
tung zu haben. Während Hohenfeld mit Marie wie in früherer
Zeit lebte, war der eine Theil des geräumigen Hauses für das junge
Ehepaar hergerichtet worden. Nur zu gewissen Zeiten kam man zu-
sammen; den Abend, wenn der Arzt von seinen ermüdenden Gängen
zurückkam, pflegte man stets gemeinschaftlich zuzubringen. Der Assessor
erzählte viel von der Reise, welche er, seiner Neigung nach, sehr bequem
gemacht hatte; er sprach mit vieler Genugthuung von seinem ein-
gehenden Studium der Kunstwerke Jtaliens, wobei er hier und da
seine Kenntniß italienischer Ausdrücke zum Vorschein brachte; mit
vielem Eifer sprach er auch über seine Beobachtungen der verschiedenen
Typen der Bevölkerung, wobei er dem weiblichen Theil einen ent-
schiedenen Vorzug eingeräumt zu haben schien. Seine junge Frau
lachte dazu.

Margarethe kam aus dem Hause und meldete, daß das Abend-
essen bereit sei. Die frühere Haushälterin Willings war jetzt wieder
im Dienste des Banquiers. Als am nächsten Morgen des bedeut-
samen Tages der Doktor in die Wohnung Willings eintreten wollte,
erfuhr er, daß dieser bereits abgereist sei, ohne irgend welche Auskunft
über das Ziel seiner Reise zu hinterlassen. Der Banquier nahm
darauf die Haushälterin zu sich; es war ihm angenehm, mit ihr von
jener früheren glücklichen Zeit reden zu können. Jhr Aussehen hatte
sich seit der zeit etwas gebessert; sie schielte zwar wie früher, aber sie
war korpulenter geworden und schlich nicht mehr scheu dahin, wie zu
der Zeit, als Jener immerwährend seine drohende Hand über sie hielt.

Helene war noch mit dem Abräumen des Tisches im Garten be-
schäftigt, während die Anderen bereits auf das Haus zugingen. Mar-
garethe näherte sich plötzlich mit einer gewissen Angst im Gesicht und
flüsterte leise:

"Dort, auf dem Wege, steht Jemand, der immer in den Garten
zu sehen sucht. Gestern ist er schon hier bis in die Nacht hinein
umhergeschlichen."

Helene ging ruhig auf die Gartenthür zu, die Haushälterin schlich
an dem Zaun entlang.

Als Helene an die Pforte kam, bemerkte sie einen alten gebückten
Mann, welcher, an einen Baum gelehnt, aufmerksam den Eingang
in das Haus im Auge hatte. Sie sah von dem Gesicht des Man-
nes, der jenseit der Straße stand, nur wenig, aber sie fühlte sich
betroffen und öffnete die Thür. Als der Greis, durch dieses Ge-
räusch aufgeschreckt, sein Auge ihr zuwandte, stieß er einen Schrei
aus und suchte fortzueilen. Aber Helene war über die Straße
hinweggeeilt, und mit dem Ausruf "Mein Vater!" umschlang sie ihn.
Noch ein heiserer Schrei, und er lag ohnmächtig in ihren Armen.

Ludwig, welcher wieder umgekehrt war und eilig herzukam, trug
ihn in das Haus.

Nach einiger Zeit erholte er sich und sah furchtsam um sich. Nur
Helene und Ludwig waren bei ihm, die Anderen hatten sich entfernt.

Eine furchtbare Wirkung hatte das verflossene Jahr bei ihm her-
vorgebracht. Ein armer, hülfloser Greis, lag er da, abgezehrt, mit
fahlem Gesicht; das leuchtende Auge war halb gebrochen, die Kraft
des Körpers wie des Geistes war dahin. Wie einen Krater hatte
seine innere Wuth ihn ausgehöhlt. Er war hinaus geeilt in die
Welt; aber einsam, seinen schrecklichen Gedanken immer überlassen,
war endlich der Kampf in diesem Menschen zu Ende gegangen
und hatte ihn vernichtet. Nun endlich, da er nicht mehr zu hassen
vermochte, schlich er nach dem einzigen Platz zurück, wo er noch einige
Liebe für sich hoffen konnte; und doch wagte er nicht, da einzutreten,
wo er einst hatte freveln wollen.

Scheu sah er sich um; ein heftiges Zittern überkam ihn, als
Helene seine Hand innig drückte und ihn ihren Vater nannte.

"Jch bin nicht Dein Vater", sagte er schwach, "Du weißt es.
Nenne mich nicht mehr so, es thut mir weh. Bist Du mit diesem
verheirathet?" fuhr er nach einer Pause fort.

"Jch bin der Gatte Helenens geworden", sagte Ludwig und
näherte sich ihm.

"So möget Jhr Beide glücklich sein! Mein Vermögen fällt Dir
zu; mein Testament habe ich bereits gemacht. Jch bin hierher ge-
kommen, um Dich vor meinem Tode noch einmal zu sehen; und nun,
da ich weiß, daß Du zufrieden lebst, will ich wieder fort."

Er versuchte aufzustehen, das junge Ehepaar hielt ihn zurück;
aber indem er immer ängstlich um sich sah, machte er gewaltsam
einige Schritte. Helene umschlang ihn und bat ihn heiß, noch zu
bleiben. Er wandte sich langsam nach dem Arzt um.

"Jhr wißt, in jener Nacht", stieß er mühsam hervor; "was ist
aus ihm geworden?"

"Der Banquier war nicht verletzt", antwortete Ludwig freundlich,
"nur der Assessor hatte einen ganz leichten Streifschuß."

"Nicht verletzt?" Er holte tief Athem; dann ging er, von Helene
unterstützt, wieder auf das Sopha zu und ließ sich nieder. Es
währte nicht lange, so fielen ihm die Augen zu, und er schlief ein.

Ludwig hatte mit seinem Schwiegervater eine längere Unter-
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz]

„Meine alte Tochter“, sprach er, „soll ihre Rechte neben der
jüngeren nicht verlieren. Für Euch Beide soll, so weit ich es ver-
mag, mehr Freude im Leben blühen, als mir bestimmt war.“

XI.

Mehr als ein Jahr war nach jenen Ereignissen vergangen. An
einem milden Sommerabend hatte sich in dem Garten des Banquiers
eine kleine Gesellschaft zusammengefunden.

Der Assessor und seine Frau waren von einer längeren Hochzeits-
reise zurückgekehrt und hatten den Abend benutzt, ihren Freunden
einen Besuch zu machen und ihre gegenseitigen Erlebnisse mit-
zutheilen.

Helene stand aufrecht am Tisch und goß den Thee in die Tassen.
Sie erschien etwas voller und noch reizender als früher. Mit ihrer
feinen Hand stellte sie dem Assessor die eine Tasse hin; der Banquier,
welcher an ihrer Seite saß, reichte ihr eine andere zu. Marie unter-
hielt sich lebhaft mit der Frau des Assessors; sie wandte sich plötzlich
um und deutete auf einen jungen Mann, welcher mit Ludwig im Ge-
spräch auf und ab ging.

„Er ist ein Cousin Ludwigs“, sagte sie. „Vor drei Monaten
kam er hierher, ihn zu besuchen und Abschied zu nehmen. Er wollte
eine Stelle in einem Bankgeschäft in England antreten; aber weil
der Vater gerade einen Geschäftsführer nöthig hatte, überredete er
ihn, jene Stelle aufzugeben und bei ihm einzutreten. Seitdem ist er
sehr oft bei uns gewesen, und — ich glaube, er macht mir den Hof“,
flüsterte sie.

„Hat Dein Vater nichts dagegen einzuwenden?“ meinte die kluge
Frau des Assessors.

„O, er kümmert sich nicht darum; aber er sagte mir neulich,
daß Wilhelm, so heißt er“, fügte sie erröthend hinzu, „ein sehr brauch-
barer, zuverlässiger Mensch sei, und daß er Lust habe, ihn zum Ge-
schäftstheilhaber zu nehmen. Er ist von sehr guter Familie und be-
sitzt ein nicht unbedeutendes Vermögen.“

„Dann ist es ja eine sehr gute Partie für Dich“, versicherte die
Frau Assessorin, und Dein Vater wird jedenfalls sehr zufrieden sein —“

„So weit sind wir noch nicht“, unterbrach Marie. „Wir kennen
uns noch sehr wenig.“

„Aber er mißfällt nicht dem kleinen Herzen?“

„Jch will erst genau untersuchen. Wenn man so böse Erfahrun-
gen gemacht hat, wie ich —“

„Du bleibst so in der Familie, wenn er, wie Du sagst, der Cousin
des Doktors ist.“

„Sie sehen sich einander ähnlich, nicht wahr?“

Die Assessorin prüfte.

„Nun, es ist manche Verschiedenheit zwischen Beiden; aber dar-
über kann man hinwegsehen. Hat er sich Dir schon erklärt?“

„Was denkst Du! Wir haben noch nie ein längeres Gespräch
zusammen geführt, ohne daß Andere dabei gewesen wären.“

„Jch werde ihn etwas ausforschen; ich verstehe das, wie Du
weißt.“

Die Assessorin hatte ihre frühere Neigung noch nicht aufgegeben.

„Nein, ich gebe es nicht zu“, sprach Marie eifrig. „Wenn er
will, wird er schon sprechen; er ist nicht blöde. Solche Vermittlung
taugt nichts, ich habe es empfunden.“

„Nun gut, liebe Marie, dann sieh Du zu, wie Du allein fertig
wirst“. Die Assessorin war etwas pikirt.

„Nimm es mir nicht übel“, sagte die gutmüthige Marie, „aber —
ich kenne jetzt doch mehr vom Leben und kann schon besser beurthei-
len; deßhalb will ich nun ohne Hülfe in meinen Angelegenheiten mich
zurecht finden.“

Die Assessorin warf einen lächelnden Blick auf Marie, welcher
einige Zweifel auszudrücken schien.

Hohenfeld unterredete sich währenddessen mit dem Assessor und
Helene. Jetzt kam auch Ludwig mit seinem Cousin herzu. Ludwig
nahm an der Seite seiner Frau Platz. Helene hatte nachgegeben.
Die neue Lage, in welcher sie sich, als die Tochter des Banquiers,
befand, hatte ihre frühere Abweisung zu nichte gemacht; der Banquier
selbst hatte auf eine Verbindung der Beiden hingewirkt. Sie wohnten
in dem Hause Hohenfelds, welcher seine Tochter nicht von sich lassen
wollte. Selbst ihre Hochzeitsreise mußten sie verkürzen, weil der
Vater seine Sehnsucht nach Helene nicht verbergen konnte und in
seinen Briefen nur von seiner Trauer und Einsamkeit zu berichten
wußte.

Hohenfeld benahm sich Helene gegenüber fast wie ein Liebhaber;
seine Augen folgten ihr, wenn sie durch das Zimmer ging; er
wählte stets seinen Platz an ihrer Seite; er errieth jeden ihrer Wünsche
und pflegte, so oft er nach Hause zurückkehrte, immer diese oder jene
Kleinigkeit für sie mitzubringen. Jenes Bild, welches er einst vor-
gezeigt hatte, hing jetzt ohne Umhüllung über seinem Schreibtisch.

[Spaltenumbruch]

Dennoch hatte Helene darauf gedrungen, ihre eigene Haushal-
tung zu haben. Während Hohenfeld mit Marie wie in früherer
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Ehepaar hergerichtet worden. Nur zu gewissen Zeiten kam man zu-
sammen; den Abend, wenn der Arzt von seinen ermüdenden Gängen
zurückkam, pflegte man stets gemeinschaftlich zuzubringen. Der Assessor
erzählte viel von der Reise, welche er, seiner Neigung nach, sehr bequem
gemacht hatte; er sprach mit vieler Genugthuung von seinem ein-
gehenden Studium der Kunstwerke Jtaliens, wobei er hier und da
seine Kenntniß italienischer Ausdrücke zum Vorschein brachte; mit
vielem Eifer sprach er auch über seine Beobachtungen der verschiedenen
Typen der Bevölkerung, wobei er dem weiblichen Theil einen ent-
schiedenen Vorzug eingeräumt zu haben schien. Seine junge Frau
lachte dazu.

Margarethe kam aus dem Hause und meldete, daß das Abend-
essen bereit sei. Die frühere Haushälterin Willings war jetzt wieder
im Dienste des Banquiers. Als am nächsten Morgen des bedeut-
samen Tages der Doktor in die Wohnung Willings eintreten wollte,
erfuhr er, daß dieser bereits abgereist sei, ohne irgend welche Auskunft
über das Ziel seiner Reise zu hinterlassen. Der Banquier nahm
darauf die Haushälterin zu sich; es war ihm angenehm, mit ihr von
jener früheren glücklichen Zeit reden zu können. Jhr Aussehen hatte
sich seit der zeit etwas gebessert; sie schielte zwar wie früher, aber sie
war korpulenter geworden und schlich nicht mehr scheu dahin, wie zu
der Zeit, als Jener immerwährend seine drohende Hand über sie hielt.

Helene war noch mit dem Abräumen des Tisches im Garten be-
schäftigt, während die Anderen bereits auf das Haus zugingen. Mar-
garethe näherte sich plötzlich mit einer gewissen Angst im Gesicht und
flüsterte leise:

„Dort, auf dem Wege, steht Jemand, der immer in den Garten
zu sehen sucht. Gestern ist er schon hier bis in die Nacht hinein
umhergeschlichen.“

Helene ging ruhig auf die Gartenthür zu, die Haushälterin schlich
an dem Zaun entlang.

Als Helene an die Pforte kam, bemerkte sie einen alten gebückten
Mann, welcher, an einen Baum gelehnt, aufmerksam den Eingang
in das Haus im Auge hatte. Sie sah von dem Gesicht des Man-
nes, der jenseit der Straße stand, nur wenig, aber sie fühlte sich
betroffen und öffnete die Thür. Als der Greis, durch dieses Ge-
räusch aufgeschreckt, sein Auge ihr zuwandte, stieß er einen Schrei
aus und suchte fortzueilen. Aber Helene war über die Straße
hinweggeeilt, und mit dem Ausruf „Mein Vater!“ umschlang sie ihn.
Noch ein heiserer Schrei, und er lag ohnmächtig in ihren Armen.

Ludwig, welcher wieder umgekehrt war und eilig herzukam, trug
ihn in das Haus.

Nach einiger Zeit erholte er sich und sah furchtsam um sich. Nur
Helene und Ludwig waren bei ihm, die Anderen hatten sich entfernt.

Eine furchtbare Wirkung hatte das verflossene Jahr bei ihm her-
vorgebracht. Ein armer, hülfloser Greis, lag er da, abgezehrt, mit
fahlem Gesicht; das leuchtende Auge war halb gebrochen, die Kraft
des Körpers wie des Geistes war dahin. Wie einen Krater hatte
seine innere Wuth ihn ausgehöhlt. Er war hinaus geeilt in die
Welt; aber einsam, seinen schrecklichen Gedanken immer überlassen,
war endlich der Kampf in diesem Menschen zu Ende gegangen
und hatte ihn vernichtet. Nun endlich, da er nicht mehr zu hassen
vermochte, schlich er nach dem einzigen Platz zurück, wo er noch einige
Liebe für sich hoffen konnte; und doch wagte er nicht, da einzutreten,
wo er einst hatte freveln wollen.

Scheu sah er sich um; ein heftiges Zittern überkam ihn, als
Helene seine Hand innig drückte und ihn ihren Vater nannte.

„Jch bin nicht Dein Vater“, sagte er schwach, „Du weißt es.
Nenne mich nicht mehr so, es thut mir weh. Bist Du mit diesem
verheirathet?“ fuhr er nach einer Pause fort.

„Jch bin der Gatte Helenens geworden“, sagte Ludwig und
näherte sich ihm.

„So möget Jhr Beide glücklich sein! Mein Vermögen fällt Dir
zu; mein Testament habe ich bereits gemacht. Jch bin hierher ge-
kommen, um Dich vor meinem Tode noch einmal zu sehen; und nun,
da ich weiß, daß Du zufrieden lebst, will ich wieder fort.“

Er versuchte aufzustehen, das junge Ehepaar hielt ihn zurück;
aber indem er immer ängstlich um sich sah, machte er gewaltsam
einige Schritte. Helene umschlang ihn und bat ihn heiß, noch zu
bleiben. Er wandte sich langsam nach dem Arzt um.

„Jhr wißt, in jener Nacht“, stieß er mühsam hervor; „was ist
aus ihm geworden?“

„Der Banquier war nicht verletzt“, antwortete Ludwig freundlich,
„nur der Assessor hatte einen ganz leichten Streifschuß.“

„Nicht verletzt?“ Er holte tief Athem; dann ging er, von Helene
unterstützt, wieder auf das Sopha zu und ließ sich nieder. Es
währte nicht lange, so fielen ihm die Augen zu, und er schlief ein.

Ludwig hatte mit seinem Schwiegervater eine längere Unter-
[Ende Spaltensatz]

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[194/0002] 194 „Meine alte Tochter“, sprach er, „soll ihre Rechte neben der jüngeren nicht verlieren. Für Euch Beide soll, so weit ich es ver- mag, mehr Freude im Leben blühen, als mir bestimmt war.“ XI. Mehr als ein Jahr war nach jenen Ereignissen vergangen. An einem milden Sommerabend hatte sich in dem Garten des Banquiers eine kleine Gesellschaft zusammengefunden. Der Assessor und seine Frau waren von einer längeren Hochzeits- reise zurückgekehrt und hatten den Abend benutzt, ihren Freunden einen Besuch zu machen und ihre gegenseitigen Erlebnisse mit- zutheilen. Helene stand aufrecht am Tisch und goß den Thee in die Tassen. Sie erschien etwas voller und noch reizender als früher. Mit ihrer feinen Hand stellte sie dem Assessor die eine Tasse hin; der Banquier, welcher an ihrer Seite saß, reichte ihr eine andere zu. Marie unter- hielt sich lebhaft mit der Frau des Assessors; sie wandte sich plötzlich um und deutete auf einen jungen Mann, welcher mit Ludwig im Ge- spräch auf und ab ging. „Er ist ein Cousin Ludwigs“, sagte sie. „Vor drei Monaten kam er hierher, ihn zu besuchen und Abschied zu nehmen. Er wollte eine Stelle in einem Bankgeschäft in England antreten; aber weil der Vater gerade einen Geschäftsführer nöthig hatte, überredete er ihn, jene Stelle aufzugeben und bei ihm einzutreten. Seitdem ist er sehr oft bei uns gewesen, und — ich glaube, er macht mir den Hof“, flüsterte sie. „Hat Dein Vater nichts dagegen einzuwenden?“ meinte die kluge Frau des Assessors. „O, er kümmert sich nicht darum; aber er sagte mir neulich, daß Wilhelm, so heißt er“, fügte sie erröthend hinzu, „ein sehr brauch- barer, zuverlässiger Mensch sei, und daß er Lust habe, ihn zum Ge- schäftstheilhaber zu nehmen. Er ist von sehr guter Familie und be- sitzt ein nicht unbedeutendes Vermögen.“ „Dann ist es ja eine sehr gute Partie für Dich“, versicherte die Frau Assessorin, und Dein Vater wird jedenfalls sehr zufrieden sein —“ „So weit sind wir noch nicht“, unterbrach Marie. „Wir kennen uns noch sehr wenig.“ „Aber er mißfällt nicht dem kleinen Herzen?“ „Jch will erst genau untersuchen. Wenn man so böse Erfahrun- gen gemacht hat, wie ich —“ „Du bleibst so in der Familie, wenn er, wie Du sagst, der Cousin des Doktors ist.“ „Sie sehen sich einander ähnlich, nicht wahr?“ Die Assessorin prüfte. „Nun, es ist manche Verschiedenheit zwischen Beiden; aber dar- über kann man hinwegsehen. Hat er sich Dir schon erklärt?“ „Was denkst Du! Wir haben noch nie ein längeres Gespräch zusammen geführt, ohne daß Andere dabei gewesen wären.“ „Jch werde ihn etwas ausforschen; ich verstehe das, wie Du weißt.“ Die Assessorin hatte ihre frühere Neigung noch nicht aufgegeben. „Nein, ich gebe es nicht zu“, sprach Marie eifrig. „Wenn er will, wird er schon sprechen; er ist nicht blöde. Solche Vermittlung taugt nichts, ich habe es empfunden.“ „Nun gut, liebe Marie, dann sieh Du zu, wie Du allein fertig wirst“. Die Assessorin war etwas pikirt. „Nimm es mir nicht übel“, sagte die gutmüthige Marie, „aber — ich kenne jetzt doch mehr vom Leben und kann schon besser beurthei- len; deßhalb will ich nun ohne Hülfe in meinen Angelegenheiten mich zurecht finden.“ Die Assessorin warf einen lächelnden Blick auf Marie, welcher einige Zweifel auszudrücken schien. Hohenfeld unterredete sich währenddessen mit dem Assessor und Helene. Jetzt kam auch Ludwig mit seinem Cousin herzu. Ludwig nahm an der Seite seiner Frau Platz. Helene hatte nachgegeben. Die neue Lage, in welcher sie sich, als die Tochter des Banquiers, befand, hatte ihre frühere Abweisung zu nichte gemacht; der Banquier selbst hatte auf eine Verbindung der Beiden hingewirkt. Sie wohnten in dem Hause Hohenfelds, welcher seine Tochter nicht von sich lassen wollte. Selbst ihre Hochzeitsreise mußten sie verkürzen, weil der Vater seine Sehnsucht nach Helene nicht verbergen konnte und in seinen Briefen nur von seiner Trauer und Einsamkeit zu berichten wußte. Hohenfeld benahm sich Helene gegenüber fast wie ein Liebhaber; seine Augen folgten ihr, wenn sie durch das Zimmer ging; er wählte stets seinen Platz an ihrer Seite; er errieth jeden ihrer Wünsche und pflegte, so oft er nach Hause zurückkehrte, immer diese oder jene Kleinigkeit für sie mitzubringen. Jenes Bild, welches er einst vor- gezeigt hatte, hing jetzt ohne Umhüllung über seinem Schreibtisch. Dennoch hatte Helene darauf gedrungen, ihre eigene Haushal- tung zu haben. Während Hohenfeld mit Marie wie in früherer Zeit lebte, war der eine Theil des geräumigen Hauses für das junge Ehepaar hergerichtet worden. Nur zu gewissen Zeiten kam man zu- sammen; den Abend, wenn der Arzt von seinen ermüdenden Gängen zurückkam, pflegte man stets gemeinschaftlich zuzubringen. Der Assessor erzählte viel von der Reise, welche er, seiner Neigung nach, sehr bequem gemacht hatte; er sprach mit vieler Genugthuung von seinem ein- gehenden Studium der Kunstwerke Jtaliens, wobei er hier und da seine Kenntniß italienischer Ausdrücke zum Vorschein brachte; mit vielem Eifer sprach er auch über seine Beobachtungen der verschiedenen Typen der Bevölkerung, wobei er dem weiblichen Theil einen ent- schiedenen Vorzug eingeräumt zu haben schien. Seine junge Frau lachte dazu. Margarethe kam aus dem Hause und meldete, daß das Abend- essen bereit sei. Die frühere Haushälterin Willings war jetzt wieder im Dienste des Banquiers. Als am nächsten Morgen des bedeut- samen Tages der Doktor in die Wohnung Willings eintreten wollte, erfuhr er, daß dieser bereits abgereist sei, ohne irgend welche Auskunft über das Ziel seiner Reise zu hinterlassen. Der Banquier nahm darauf die Haushälterin zu sich; es war ihm angenehm, mit ihr von jener früheren glücklichen Zeit reden zu können. Jhr Aussehen hatte sich seit der zeit etwas gebessert; sie schielte zwar wie früher, aber sie war korpulenter geworden und schlich nicht mehr scheu dahin, wie zu der Zeit, als Jener immerwährend seine drohende Hand über sie hielt. Helene war noch mit dem Abräumen des Tisches im Garten be- schäftigt, während die Anderen bereits auf das Haus zugingen. Mar- garethe näherte sich plötzlich mit einer gewissen Angst im Gesicht und flüsterte leise: „Dort, auf dem Wege, steht Jemand, der immer in den Garten zu sehen sucht. Gestern ist er schon hier bis in die Nacht hinein umhergeschlichen.“ Helene ging ruhig auf die Gartenthür zu, die Haushälterin schlich an dem Zaun entlang. Als Helene an die Pforte kam, bemerkte sie einen alten gebückten Mann, welcher, an einen Baum gelehnt, aufmerksam den Eingang in das Haus im Auge hatte. Sie sah von dem Gesicht des Man- nes, der jenseit der Straße stand, nur wenig, aber sie fühlte sich betroffen und öffnete die Thür. Als der Greis, durch dieses Ge- räusch aufgeschreckt, sein Auge ihr zuwandte, stieß er einen Schrei aus und suchte fortzueilen. Aber Helene war über die Straße hinweggeeilt, und mit dem Ausruf „Mein Vater!“ umschlang sie ihn. Noch ein heiserer Schrei, und er lag ohnmächtig in ihren Armen. Ludwig, welcher wieder umgekehrt war und eilig herzukam, trug ihn in das Haus. Nach einiger Zeit erholte er sich und sah furchtsam um sich. Nur Helene und Ludwig waren bei ihm, die Anderen hatten sich entfernt. Eine furchtbare Wirkung hatte das verflossene Jahr bei ihm her- vorgebracht. Ein armer, hülfloser Greis, lag er da, abgezehrt, mit fahlem Gesicht; das leuchtende Auge war halb gebrochen, die Kraft des Körpers wie des Geistes war dahin. Wie einen Krater hatte seine innere Wuth ihn ausgehöhlt. Er war hinaus geeilt in die Welt; aber einsam, seinen schrecklichen Gedanken immer überlassen, war endlich der Kampf in diesem Menschen zu Ende gegangen und hatte ihn vernichtet. Nun endlich, da er nicht mehr zu hassen vermochte, schlich er nach dem einzigen Platz zurück, wo er noch einige Liebe für sich hoffen konnte; und doch wagte er nicht, da einzutreten, wo er einst hatte freveln wollen. Scheu sah er sich um; ein heftiges Zittern überkam ihn, als Helene seine Hand innig drückte und ihn ihren Vater nannte. „Jch bin nicht Dein Vater“, sagte er schwach, „Du weißt es. Nenne mich nicht mehr so, es thut mir weh. Bist Du mit diesem verheirathet?“ fuhr er nach einer Pause fort. „Jch bin der Gatte Helenens geworden“, sagte Ludwig und näherte sich ihm. „So möget Jhr Beide glücklich sein! Mein Vermögen fällt Dir zu; mein Testament habe ich bereits gemacht. Jch bin hierher ge- kommen, um Dich vor meinem Tode noch einmal zu sehen; und nun, da ich weiß, daß Du zufrieden lebst, will ich wieder fort.“ Er versuchte aufzustehen, das junge Ehepaar hielt ihn zurück; aber indem er immer ängstlich um sich sah, machte er gewaltsam einige Schritte. Helene umschlang ihn und bat ihn heiß, noch zu bleiben. Er wandte sich langsam nach dem Arzt um. „Jhr wißt, in jener Nacht“, stieß er mühsam hervor; „was ist aus ihm geworden?“ „Der Banquier war nicht verletzt“, antwortete Ludwig freundlich, „nur der Assessor hatte einen ganz leichten Streifschuß.“ „Nicht verletzt?“ Er holte tief Athem; dann ging er, von Helene unterstützt, wieder auf das Sopha zu und ließ sich nieder. Es währte nicht lange, so fielen ihm die Augen zu, und er schlief ein. Ludwig hatte mit seinem Schwiegervater eine längere Unter-

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Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
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Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 25. Berlin, 21. Juni 1868, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt25_1868/2>, abgerufen am 18.06.2024.