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Sonntags-Blatt. Nr. 24. Berlin, 14. Juni 1868.

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[Beginn Spaltensatz] jetzt will ich zufrieden sein, wenn Helene mit mir kommt. Von Dir",
er wandte sich an den Banquier, "fordere ich später Rechenschaft.
Jch weiß jetzt endlich, wo ich Dich zu suchen habe!"

Marie hatte sich Helene genähert; die beiden Mädchen standen,
Hand in Hand, abseits und betrachteten erschreckt das seltsame Schau-
spiel.

Noch eine andere Person hatte sich ins Zimmer geschlichen und
stand zitternd im Winkel, mit starren Augen den Bewegungen des
Alten folgend -- die Haushälterin desselben.

"Jch bin zu jeder Rechenschaft bereit!" rief der Banquier. "Doch
auch Du sollst sie mir geben. Du hast sie getödtet, und diese", er
wies auf Helene, "hast Du elend und unglücklich machen wollen.
Deine Herrschaft über sie ist zu Ende. Niemals wieder --"

"Verfluchter Räuber!" schrie Willing und seine Hand fuhr in den
Mantel. "Bedenke Dich! Meine Tochter --"

"Du lügst! Sie ist nicht Deine Tochter!" rief dieser.

Ohne Antwort zu geben, eilte Jener auf Helene zu. Die Mädchen
wichen furchtsam zurück.

Da, in der heftigsten Wuth, näherte er sich wieder dem Banquier.

"Alles hast Du mir entrissen! Mein Leben hast Du vergiftet!
Doch freuen sollst Du Dich nicht -- dafür sorge ich! Stirb, Du
Schuft!" klang es heiser, und einen Moment darauf fiel ein Schuß.

Er hatte mit der einen Hand eine Pistol, welches im Mantel ver-
borgen war, rasch hervorgezogen. Aber der Arzt war jeder seiner
Bewegungen gefolgt und hatte noch Zeit gehabt, den Arm, der die
Waffe festhielt, niederzuschlagen in demselben Augenblick, als Jener
losdrückte.

Der Assessor machte entsetzt einen Sprung in die Luft und sank
dann auf den vor ihm stehenden Stuhl nieder.

Der alte Willing warf die Pistole weg und schaute einen Augen-
blick nach dem Banquier, welcher zu Boden gesunken war; dann, in-
dem er ausrief:

"So wollte ich's. Helene! Zu mir zurück!" stürzte er aus dem
Zimmer.

Ludwig dachte nicht daran, ihn festzuhalten, sondern sprang zu
dem Assessor hin, welchem die Kugel das Bein gestreift hatte. Er
fand bald, daß die Wunde unbedeutend sei. Marie beeilte sich, Lein-
wand herbei zu holen, und der Doktor machte sich sogleich daran,
einen Verband anzulegen.

Helene lag ohnmächtig in den Armen der Haushälterin. Der
Banquier wurde von den Dienern, welche herbeigeeilt waren, auf sein
Zimmer getragen, wohin ihm Marie weinend folgte. Er war voll-
ständig bewußtlos.

X.

Die Thätigkeit des Arztes wurde von allen Seiten in Anspruch
genommen. Kaum hatte er den Assessor etwas beruhigt, der über
das Schicksal, welches ihn herbeigeführt hatte, nicht eben freundliche
Bemerkungen machte und jämmerlich den Mund verzog, so bemerkte
er die Haushälterin, welche unbeweglich dastand und seufzte, und die
ohnmächtige Helene in ihren Armen hielt. Er nahm diese ihr ab
und trug sie auf das Sopha, wo einige stärkende Mittel sie bald
wieder ins Leben zurück brachten.

Schwerer ward es beim Banquier; der Arzt mußte einen Aderlaß
anwenden, um ihn wieder wach zu rufen. Nur sehr allmälig
erinnerte er sich des Vergangenen wieder, und dazwischen kamen ihm
Bilder aus früheren Zeiten vor die Sinne, so daß seine Worte
sehr verworren klangen. Der Arzt schärfte vollständige Ruhe ein und
bat Marie, ihren Vater zu bewachen. Es war ein eigenthümlicher
Zufall, daß die Beiden hier am Krankenbett zusammen standen und
einander hülfreiche Hand leisteten. Marie war viel zu verständig und
gut, als daß sie sich hätte sträuben wollen, an seiner Seite zu sein,
und manches Wort, in freundlichem Ton gesprochen, flüsterten sie ein-
ander zu; der eben erlebte Sturm hatte den früheren Zwist für jetzt
in Vergessenheit gebracht.

So vergingen einige Stunden der Nacht. Jm Wohnzimmer
herrschte dumpfe Ruhe; Helene lag auf dem Sopha, zu ihren Füßen
auf einer Bank saß die Haushälterin in sich zusammengekrümmt, das
Gesicht in den Händen verborgen. Der Assessor hatte sich ein Lager
auf einem Divan bereiten lassen, rauchte eine Cigarre und trank
ein Glas Grog, um seine Lebensgeister wieder zu beleben. Der
Arzt saß am Fenster auf dem Lieblingsplatz Helenens und sah hinaus
in die sternenhelle Nacht.

Marie trat ins Zimmer und bat Ludwig, zu ihrem Vater zu
kommen, der nach ihm verlange; er fühle sich wieder ziemlich wohl,
fügte sie hinzu. Ludwig beeilte sich, zum Banquier hinüber zu gehen;
die Haushälterin schlich ihm nach.

"Wenn er wieder etwas gekräftigt ist", sprach sie, "möchte ich gern
mit dem Herrn Banquier reden. Jch will ihm Einiges anvertrauen --
er weiß schon, worüber."

[Spaltenumbruch]

Der Arzt hieß sie vor der Thür warten und trat in das hell
erleuchtete Zimmer ein. Hohenfeld reichte ihm die Hand, erkun-
digte sich nach dem Befinden des Assessors und dankte ihm in herz-
lichen Worten für die Rettung seines Lebens. Er ließ mit Er-
laubniß des Arztes eine Flasche Burgunder herbeiholen und trank
mit ihm ein Glas -- zur Versöhnung, wie er lächelnd sagte.

Den delikaten Punkt, meinte er, wollten sie für jetzt unberührt
lassen, nichtsdestoweniger sollte er sich immer als Freund seines Hauses
betrachten.

Ludwig seinerseits gestand offen sein Unrecht ein und bat ihn,
seine ungeziemende Voreiligkeit zu vergeben. Der Banquier brach
davon ab und verlangte seine Dienste, um eine Verständigung mit
seinem Gegner herbeizuführen, woran ihm viel liege. Jetzt erinnerte
sich Ludwig der Haushälterin; er ging an die Thür und hieß sie
eintreten.

Sie näherte sich schüchtern.

"Sie erkennen mich nicht mehr", sagte sie leise, als sie bemerkte,
daß der Banquier sie mit erstauntem Blick betrachtete. "Ja, es ist
Vieles anders geworden, seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben!"
Sie begann zu schluchzen.

"Hm", sprach er, "ich erinnere mich dieser Stimme."

"Margareth heiße ich; ich war drüben bei Jhnen --"

"Margareth!" rief er und hob sich empor. "Mein Gott! Endlich,
endlich werde ich Aufklärung erhalten! Woher kommen Sie? Setzen
Sie sich."

"Jch war seitdem die Haushälterin bei ihm", sprach sie mit einem
gewissen Schauder. "Sie wissen, daß sie todt ist?"

Der Banquier bedeckte die Augen mit der Hand.

Ludwig fühlte, daß er die Beiden allein lassen müsse; er zog
sich still zurück und ging wieder hinüber in das Wohnzimmer,
wo der Assessor den beiden Mädchen eine Belehrung über die tiefe
Wahrheit einiger philosophischer Sätze zu Theil werden ließ. Als
Ludwig herein kam, wollte sich Marie entfernen, doch Helene hielt
sie zurück.

"Für heut wollen wir alle Gedanken an frühere Begebenheiten
fern lassen", sprach Helene, zugleich zum Doktor gewendet.

Marie nickte stumm. Ludwig dankte, indem er ihr die Hand
reichte. Es lag, wie es schien, Allen daran, jene Uneinigkeit vergessen
zu machen.

Auf den Vorschlag Ludwigs versammelte man sich um das Lager
des Assessors. Marie rückte sich einen Stuhl herbei, für Helene
schob Ludwig einen Sessel hinzu, und er selbst setzte sich zu Füßen des
Verwundeten. Marie mischte dem Assessor ein neues Glas Grog und
reichte ihm eine frische Cigarre.

"Die Nacht endet besser, als sie angefangen hat", meinte der
Assessor. "Abgesehen von der Schmarre, welche ich Unschuldiger
davongetragen habe, wird Keiner eine schlimme Erinnerung daran
bewahren."

"Nur mein Vater", seufzte Helene, "wird mit Qual daran denken.
Er weiß nicht einmal, ob er nicht einen Mord begangen hat."

"Warten wir es ab, bis der Morgen gekommen ist", sagte
Ludwig, "dann wird er der Verständigung zugänglicher sein."

Helene schüttelte den Kopf:

"Er ist unversöhnlich."

"Was mag zwischen ihm und dem Banquier früher vorgefallen
sein?" fragte der Assessor.

"Wir werden es bald erfahren, meine ich", sprach Ludwig. "Der
Banquier spricht eben mit Jhrer Haushälterin, Helene."

Er sah ihr in das Auge; sie erröthete und blickte zur Erde.

Die Morgendämmerung brach an, während sie noch beisammen
saßen und über die erlebten Ereignisse sich ruhig unterhielten.

Ein Diener kam herüber und forderte sie auf, zum Banquier zu
kommen. Selbst der Assessor war neugierig genug, um sein Lager
aufzugeben und sich vom Doktor hinüberführen zu lassen.

Der Banquier stützte seinen Kopf gedankenvoll auf die Hand,
die Haushälterin saß an der Erde gekauert und weinte.

"Jch habe Euch Alle herbeirufen lassen", sagte er mit leisem
Ton, "um euch meine Lebensgeschichte mitzutheilen, welche jetzt erst in
allen ihren Einzelnheiten mir klar geworden ist. Jch halte es für
meine Pflicht, dies zu thun, damit Jhr wißt, was Jhr von allen den
Vorgängen zu urtheilen habt. Jch selbst habe schwere Schuld auf
mich geladen, ich mag es nicht leugnen; aber ich habe seitdem lange
genug büßen müssen -- und auch Jener ist nicht schuldlos". Er rief
Helene zu sich hin und küßte sie auf die Stirn. "Du bist meine
geliebte Tochter", sprach er. "Von jetzt ab habe ich ein Recht,
Dich bei mir zu behalten. Du bist im Vaterhause, und hier soll
Deine Heimath bleiben bis zum Ende meines Lebens."

Helene setzte sich zu seinen Füßen nieder und sah ihm verwundert
ins Gesicht, die Anderen nahmen ebenfalls Platz.

"Laßt mich den ganzen Hergang erzählen", fuhr er fort, "seit
meiner Jugendzeit. Mein ganzes Leben bewegte sich um diese
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] jetzt will ich zufrieden sein, wenn Helene mit mir kommt. Von Dir“,
er wandte sich an den Banquier, „fordere ich später Rechenschaft.
Jch weiß jetzt endlich, wo ich Dich zu suchen habe!“

Marie hatte sich Helene genähert; die beiden Mädchen standen,
Hand in Hand, abseits und betrachteten erschreckt das seltsame Schau-
spiel.

Noch eine andere Person hatte sich ins Zimmer geschlichen und
stand zitternd im Winkel, mit starren Augen den Bewegungen des
Alten folgend — die Haushälterin desselben.

„Jch bin zu jeder Rechenschaft bereit!“ rief der Banquier. „Doch
auch Du sollst sie mir geben. Du hast sie getödtet, und diese“, er
wies auf Helene, „hast Du elend und unglücklich machen wollen.
Deine Herrschaft über sie ist zu Ende. Niemals wieder —“

„Verfluchter Räuber!“ schrie Willing und seine Hand fuhr in den
Mantel. „Bedenke Dich! Meine Tochter —“

„Du lügst! Sie ist nicht Deine Tochter!“ rief dieser.

Ohne Antwort zu geben, eilte Jener auf Helene zu. Die Mädchen
wichen furchtsam zurück.

Da, in der heftigsten Wuth, näherte er sich wieder dem Banquier.

„Alles hast Du mir entrissen! Mein Leben hast Du vergiftet!
Doch freuen sollst Du Dich nicht — dafür sorge ich! Stirb, Du
Schuft!“ klang es heiser, und einen Moment darauf fiel ein Schuß.

Er hatte mit der einen Hand eine Pistol, welches im Mantel ver-
borgen war, rasch hervorgezogen. Aber der Arzt war jeder seiner
Bewegungen gefolgt und hatte noch Zeit gehabt, den Arm, der die
Waffe festhielt, niederzuschlagen in demselben Augenblick, als Jener
losdrückte.

Der Assessor machte entsetzt einen Sprung in die Luft und sank
dann auf den vor ihm stehenden Stuhl nieder.

Der alte Willing warf die Pistole weg und schaute einen Augen-
blick nach dem Banquier, welcher zu Boden gesunken war; dann, in-
dem er ausrief:

„So wollte ich's. Helene! Zu mir zurück!“ stürzte er aus dem
Zimmer.

Ludwig dachte nicht daran, ihn festzuhalten, sondern sprang zu
dem Assessor hin, welchem die Kugel das Bein gestreift hatte. Er
fand bald, daß die Wunde unbedeutend sei. Marie beeilte sich, Lein-
wand herbei zu holen, und der Doktor machte sich sogleich daran,
einen Verband anzulegen.

Helene lag ohnmächtig in den Armen der Haushälterin. Der
Banquier wurde von den Dienern, welche herbeigeeilt waren, auf sein
Zimmer getragen, wohin ihm Marie weinend folgte. Er war voll-
ständig bewußtlos.

X.

Die Thätigkeit des Arztes wurde von allen Seiten in Anspruch
genommen. Kaum hatte er den Assessor etwas beruhigt, der über
das Schicksal, welches ihn herbeigeführt hatte, nicht eben freundliche
Bemerkungen machte und jämmerlich den Mund verzog, so bemerkte
er die Haushälterin, welche unbeweglich dastand und seufzte, und die
ohnmächtige Helene in ihren Armen hielt. Er nahm diese ihr ab
und trug sie auf das Sopha, wo einige stärkende Mittel sie bald
wieder ins Leben zurück brachten.

Schwerer ward es beim Banquier; der Arzt mußte einen Aderlaß
anwenden, um ihn wieder wach zu rufen. Nur sehr allmälig
erinnerte er sich des Vergangenen wieder, und dazwischen kamen ihm
Bilder aus früheren Zeiten vor die Sinne, so daß seine Worte
sehr verworren klangen. Der Arzt schärfte vollständige Ruhe ein und
bat Marie, ihren Vater zu bewachen. Es war ein eigenthümlicher
Zufall, daß die Beiden hier am Krankenbett zusammen standen und
einander hülfreiche Hand leisteten. Marie war viel zu verständig und
gut, als daß sie sich hätte sträuben wollen, an seiner Seite zu sein,
und manches Wort, in freundlichem Ton gesprochen, flüsterten sie ein-
ander zu; der eben erlebte Sturm hatte den früheren Zwist für jetzt
in Vergessenheit gebracht.

So vergingen einige Stunden der Nacht. Jm Wohnzimmer
herrschte dumpfe Ruhe; Helene lag auf dem Sopha, zu ihren Füßen
auf einer Bank saß die Haushälterin in sich zusammengekrümmt, das
Gesicht in den Händen verborgen. Der Assessor hatte sich ein Lager
auf einem Divan bereiten lassen, rauchte eine Cigarre und trank
ein Glas Grog, um seine Lebensgeister wieder zu beleben. Der
Arzt saß am Fenster auf dem Lieblingsplatz Helenens und sah hinaus
in die sternenhelle Nacht.

Marie trat ins Zimmer und bat Ludwig, zu ihrem Vater zu
kommen, der nach ihm verlange; er fühle sich wieder ziemlich wohl,
fügte sie hinzu. Ludwig beeilte sich, zum Banquier hinüber zu gehen;
die Haushälterin schlich ihm nach.

„Wenn er wieder etwas gekräftigt ist“, sprach sie, „möchte ich gern
mit dem Herrn Banquier reden. Jch will ihm Einiges anvertrauen —
er weiß schon, worüber.“

[Spaltenumbruch]

Der Arzt hieß sie vor der Thür warten und trat in das hell
erleuchtete Zimmer ein. Hohenfeld reichte ihm die Hand, erkun-
digte sich nach dem Befinden des Assessors und dankte ihm in herz-
lichen Worten für die Rettung seines Lebens. Er ließ mit Er-
laubniß des Arztes eine Flasche Burgunder herbeiholen und trank
mit ihm ein Glas — zur Versöhnung, wie er lächelnd sagte.

Den delikaten Punkt, meinte er, wollten sie für jetzt unberührt
lassen, nichtsdestoweniger sollte er sich immer als Freund seines Hauses
betrachten.

Ludwig seinerseits gestand offen sein Unrecht ein und bat ihn,
seine ungeziemende Voreiligkeit zu vergeben. Der Banquier brach
davon ab und verlangte seine Dienste, um eine Verständigung mit
seinem Gegner herbeizuführen, woran ihm viel liege. Jetzt erinnerte
sich Ludwig der Haushälterin; er ging an die Thür und hieß sie
eintreten.

Sie näherte sich schüchtern.

„Sie erkennen mich nicht mehr“, sagte sie leise, als sie bemerkte,
daß der Banquier sie mit erstauntem Blick betrachtete. „Ja, es ist
Vieles anders geworden, seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben!“
Sie begann zu schluchzen.

„Hm“, sprach er, „ich erinnere mich dieser Stimme.“

„Margareth heiße ich; ich war drüben bei Jhnen —“

„Margareth!“ rief er und hob sich empor. „Mein Gott! Endlich,
endlich werde ich Aufklärung erhalten! Woher kommen Sie? Setzen
Sie sich.“

„Jch war seitdem die Haushälterin bei ihm“, sprach sie mit einem
gewissen Schauder. „Sie wissen, daß sie todt ist?“

Der Banquier bedeckte die Augen mit der Hand.

Ludwig fühlte, daß er die Beiden allein lassen müsse; er zog
sich still zurück und ging wieder hinüber in das Wohnzimmer,
wo der Assessor den beiden Mädchen eine Belehrung über die tiefe
Wahrheit einiger philosophischer Sätze zu Theil werden ließ. Als
Ludwig herein kam, wollte sich Marie entfernen, doch Helene hielt
sie zurück.

„Für heut wollen wir alle Gedanken an frühere Begebenheiten
fern lassen“, sprach Helene, zugleich zum Doktor gewendet.

Marie nickte stumm. Ludwig dankte, indem er ihr die Hand
reichte. Es lag, wie es schien, Allen daran, jene Uneinigkeit vergessen
zu machen.

Auf den Vorschlag Ludwigs versammelte man sich um das Lager
des Assessors. Marie rückte sich einen Stuhl herbei, für Helene
schob Ludwig einen Sessel hinzu, und er selbst setzte sich zu Füßen des
Verwundeten. Marie mischte dem Assessor ein neues Glas Grog und
reichte ihm eine frische Cigarre.

„Die Nacht endet besser, als sie angefangen hat“, meinte der
Assessor. „Abgesehen von der Schmarre, welche ich Unschuldiger
davongetragen habe, wird Keiner eine schlimme Erinnerung daran
bewahren.“

„Nur mein Vater“, seufzte Helene, „wird mit Qual daran denken.
Er weiß nicht einmal, ob er nicht einen Mord begangen hat.“

„Warten wir es ab, bis der Morgen gekommen ist“, sagte
Ludwig, „dann wird er der Verständigung zugänglicher sein.“

Helene schüttelte den Kopf:

„Er ist unversöhnlich.“

„Was mag zwischen ihm und dem Banquier früher vorgefallen
sein?“ fragte der Assessor.

„Wir werden es bald erfahren, meine ich“, sprach Ludwig. „Der
Banquier spricht eben mit Jhrer Haushälterin, Helene.“

Er sah ihr in das Auge; sie erröthete und blickte zur Erde.

Die Morgendämmerung brach an, während sie noch beisammen
saßen und über die erlebten Ereignisse sich ruhig unterhielten.

Ein Diener kam herüber und forderte sie auf, zum Banquier zu
kommen. Selbst der Assessor war neugierig genug, um sein Lager
aufzugeben und sich vom Doktor hinüberführen zu lassen.

Der Banquier stützte seinen Kopf gedankenvoll auf die Hand,
die Haushälterin saß an der Erde gekauert und weinte.

„Jch habe Euch Alle herbeirufen lassen“, sagte er mit leisem
Ton, „um euch meine Lebensgeschichte mitzutheilen, welche jetzt erst in
allen ihren Einzelnheiten mir klar geworden ist. Jch halte es für
meine Pflicht, dies zu thun, damit Jhr wißt, was Jhr von allen den
Vorgängen zu urtheilen habt. Jch selbst habe schwere Schuld auf
mich geladen, ich mag es nicht leugnen; aber ich habe seitdem lange
genug büßen müssen — und auch Jener ist nicht schuldlos“. Er rief
Helene zu sich hin und küßte sie auf die Stirn. „Du bist meine
geliebte Tochter“, sprach er. „Von jetzt ab habe ich ein Recht,
Dich bei mir zu behalten. Du bist im Vaterhause, und hier soll
Deine Heimath bleiben bis zum Ende meines Lebens.“

Helene setzte sich zu seinen Füßen nieder und sah ihm verwundert
ins Gesicht, die Anderen nahmen ebenfalls Platz.

„Laßt mich den ganzen Hergang erzählen“, fuhr er fort, „seit
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[186/0002] 186 jetzt will ich zufrieden sein, wenn Helene mit mir kommt. Von Dir“, er wandte sich an den Banquier, „fordere ich später Rechenschaft. Jch weiß jetzt endlich, wo ich Dich zu suchen habe!“ Marie hatte sich Helene genähert; die beiden Mädchen standen, Hand in Hand, abseits und betrachteten erschreckt das seltsame Schau- spiel. Noch eine andere Person hatte sich ins Zimmer geschlichen und stand zitternd im Winkel, mit starren Augen den Bewegungen des Alten folgend — die Haushälterin desselben. „Jch bin zu jeder Rechenschaft bereit!“ rief der Banquier. „Doch auch Du sollst sie mir geben. Du hast sie getödtet, und diese“, er wies auf Helene, „hast Du elend und unglücklich machen wollen. Deine Herrschaft über sie ist zu Ende. Niemals wieder —“ „Verfluchter Räuber!“ schrie Willing und seine Hand fuhr in den Mantel. „Bedenke Dich! Meine Tochter —“ „Du lügst! Sie ist nicht Deine Tochter!“ rief dieser. Ohne Antwort zu geben, eilte Jener auf Helene zu. Die Mädchen wichen furchtsam zurück. Da, in der heftigsten Wuth, näherte er sich wieder dem Banquier. „Alles hast Du mir entrissen! Mein Leben hast Du vergiftet! Doch freuen sollst Du Dich nicht — dafür sorge ich! Stirb, Du Schuft!“ klang es heiser, und einen Moment darauf fiel ein Schuß. Er hatte mit der einen Hand eine Pistol, welches im Mantel ver- borgen war, rasch hervorgezogen. Aber der Arzt war jeder seiner Bewegungen gefolgt und hatte noch Zeit gehabt, den Arm, der die Waffe festhielt, niederzuschlagen in demselben Augenblick, als Jener losdrückte. Der Assessor machte entsetzt einen Sprung in die Luft und sank dann auf den vor ihm stehenden Stuhl nieder. Der alte Willing warf die Pistole weg und schaute einen Augen- blick nach dem Banquier, welcher zu Boden gesunken war; dann, in- dem er ausrief: „So wollte ich's. Helene! Zu mir zurück!“ stürzte er aus dem Zimmer. Ludwig dachte nicht daran, ihn festzuhalten, sondern sprang zu dem Assessor hin, welchem die Kugel das Bein gestreift hatte. Er fand bald, daß die Wunde unbedeutend sei. Marie beeilte sich, Lein- wand herbei zu holen, und der Doktor machte sich sogleich daran, einen Verband anzulegen. Helene lag ohnmächtig in den Armen der Haushälterin. Der Banquier wurde von den Dienern, welche herbeigeeilt waren, auf sein Zimmer getragen, wohin ihm Marie weinend folgte. Er war voll- ständig bewußtlos. X. Die Thätigkeit des Arztes wurde von allen Seiten in Anspruch genommen. Kaum hatte er den Assessor etwas beruhigt, der über das Schicksal, welches ihn herbeigeführt hatte, nicht eben freundliche Bemerkungen machte und jämmerlich den Mund verzog, so bemerkte er die Haushälterin, welche unbeweglich dastand und seufzte, und die ohnmächtige Helene in ihren Armen hielt. Er nahm diese ihr ab und trug sie auf das Sopha, wo einige stärkende Mittel sie bald wieder ins Leben zurück brachten. Schwerer ward es beim Banquier; der Arzt mußte einen Aderlaß anwenden, um ihn wieder wach zu rufen. Nur sehr allmälig erinnerte er sich des Vergangenen wieder, und dazwischen kamen ihm Bilder aus früheren Zeiten vor die Sinne, so daß seine Worte sehr verworren klangen. Der Arzt schärfte vollständige Ruhe ein und bat Marie, ihren Vater zu bewachen. Es war ein eigenthümlicher Zufall, daß die Beiden hier am Krankenbett zusammen standen und einander hülfreiche Hand leisteten. Marie war viel zu verständig und gut, als daß sie sich hätte sträuben wollen, an seiner Seite zu sein, und manches Wort, in freundlichem Ton gesprochen, flüsterten sie ein- ander zu; der eben erlebte Sturm hatte den früheren Zwist für jetzt in Vergessenheit gebracht. So vergingen einige Stunden der Nacht. Jm Wohnzimmer herrschte dumpfe Ruhe; Helene lag auf dem Sopha, zu ihren Füßen auf einer Bank saß die Haushälterin in sich zusammengekrümmt, das Gesicht in den Händen verborgen. Der Assessor hatte sich ein Lager auf einem Divan bereiten lassen, rauchte eine Cigarre und trank ein Glas Grog, um seine Lebensgeister wieder zu beleben. Der Arzt saß am Fenster auf dem Lieblingsplatz Helenens und sah hinaus in die sternenhelle Nacht. Marie trat ins Zimmer und bat Ludwig, zu ihrem Vater zu kommen, der nach ihm verlange; er fühle sich wieder ziemlich wohl, fügte sie hinzu. Ludwig beeilte sich, zum Banquier hinüber zu gehen; die Haushälterin schlich ihm nach. „Wenn er wieder etwas gekräftigt ist“, sprach sie, „möchte ich gern mit dem Herrn Banquier reden. Jch will ihm Einiges anvertrauen — er weiß schon, worüber.“ Der Arzt hieß sie vor der Thür warten und trat in das hell erleuchtete Zimmer ein. Hohenfeld reichte ihm die Hand, erkun- digte sich nach dem Befinden des Assessors und dankte ihm in herz- lichen Worten für die Rettung seines Lebens. Er ließ mit Er- laubniß des Arztes eine Flasche Burgunder herbeiholen und trank mit ihm ein Glas — zur Versöhnung, wie er lächelnd sagte. Den delikaten Punkt, meinte er, wollten sie für jetzt unberührt lassen, nichtsdestoweniger sollte er sich immer als Freund seines Hauses betrachten. Ludwig seinerseits gestand offen sein Unrecht ein und bat ihn, seine ungeziemende Voreiligkeit zu vergeben. Der Banquier brach davon ab und verlangte seine Dienste, um eine Verständigung mit seinem Gegner herbeizuführen, woran ihm viel liege. Jetzt erinnerte sich Ludwig der Haushälterin; er ging an die Thür und hieß sie eintreten. Sie näherte sich schüchtern. „Sie erkennen mich nicht mehr“, sagte sie leise, als sie bemerkte, daß der Banquier sie mit erstauntem Blick betrachtete. „Ja, es ist Vieles anders geworden, seitdem wir uns nicht mehr gesehen haben!“ Sie begann zu schluchzen. „Hm“, sprach er, „ich erinnere mich dieser Stimme.“ „Margareth heiße ich; ich war drüben bei Jhnen —“ „Margareth!“ rief er und hob sich empor. „Mein Gott! Endlich, endlich werde ich Aufklärung erhalten! Woher kommen Sie? Setzen Sie sich.“ „Jch war seitdem die Haushälterin bei ihm“, sprach sie mit einem gewissen Schauder. „Sie wissen, daß sie todt ist?“ Der Banquier bedeckte die Augen mit der Hand. Ludwig fühlte, daß er die Beiden allein lassen müsse; er zog sich still zurück und ging wieder hinüber in das Wohnzimmer, wo der Assessor den beiden Mädchen eine Belehrung über die tiefe Wahrheit einiger philosophischer Sätze zu Theil werden ließ. Als Ludwig herein kam, wollte sich Marie entfernen, doch Helene hielt sie zurück. „Für heut wollen wir alle Gedanken an frühere Begebenheiten fern lassen“, sprach Helene, zugleich zum Doktor gewendet. Marie nickte stumm. Ludwig dankte, indem er ihr die Hand reichte. Es lag, wie es schien, Allen daran, jene Uneinigkeit vergessen zu machen. Auf den Vorschlag Ludwigs versammelte man sich um das Lager des Assessors. Marie rückte sich einen Stuhl herbei, für Helene schob Ludwig einen Sessel hinzu, und er selbst setzte sich zu Füßen des Verwundeten. Marie mischte dem Assessor ein neues Glas Grog und reichte ihm eine frische Cigarre. „Die Nacht endet besser, als sie angefangen hat“, meinte der Assessor. „Abgesehen von der Schmarre, welche ich Unschuldiger davongetragen habe, wird Keiner eine schlimme Erinnerung daran bewahren.“ „Nur mein Vater“, seufzte Helene, „wird mit Qual daran denken. Er weiß nicht einmal, ob er nicht einen Mord begangen hat.“ „Warten wir es ab, bis der Morgen gekommen ist“, sagte Ludwig, „dann wird er der Verständigung zugänglicher sein.“ Helene schüttelte den Kopf: „Er ist unversöhnlich.“ „Was mag zwischen ihm und dem Banquier früher vorgefallen sein?“ fragte der Assessor. „Wir werden es bald erfahren, meine ich“, sprach Ludwig. „Der Banquier spricht eben mit Jhrer Haushälterin, Helene.“ Er sah ihr in das Auge; sie erröthete und blickte zur Erde. Die Morgendämmerung brach an, während sie noch beisammen saßen und über die erlebten Ereignisse sich ruhig unterhielten. Ein Diener kam herüber und forderte sie auf, zum Banquier zu kommen. Selbst der Assessor war neugierig genug, um sein Lager aufzugeben und sich vom Doktor hinüberführen zu lassen. Der Banquier stützte seinen Kopf gedankenvoll auf die Hand, die Haushälterin saß an der Erde gekauert und weinte. „Jch habe Euch Alle herbeirufen lassen“, sagte er mit leisem Ton, „um euch meine Lebensgeschichte mitzutheilen, welche jetzt erst in allen ihren Einzelnheiten mir klar geworden ist. Jch halte es für meine Pflicht, dies zu thun, damit Jhr wißt, was Jhr von allen den Vorgängen zu urtheilen habt. Jch selbst habe schwere Schuld auf mich geladen, ich mag es nicht leugnen; aber ich habe seitdem lange genug büßen müssen — und auch Jener ist nicht schuldlos“. Er rief Helene zu sich hin und küßte sie auf die Stirn. „Du bist meine geliebte Tochter“, sprach er. „Von jetzt ab habe ich ein Recht, Dich bei mir zu behalten. Du bist im Vaterhause, und hier soll Deine Heimath bleiben bis zum Ende meines Lebens.“ Helene setzte sich zu seinen Füßen nieder und sah ihm verwundert ins Gesicht, die Anderen nahmen ebenfalls Platz. „Laßt mich den ganzen Hergang erzählen“, fuhr er fort, „seit meiner Jugendzeit. Mein ganzes Leben bewegte sich um diese

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 24. Berlin, 14. Juni 1868, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt24_1868/2>, abgerufen am 01.06.2024.