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Sonntags-Blatt. Nr. 23. Berlin, 7. Juni 1868.

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[Beginn Spaltensatz] hellen lichten Tage und bei dieser vollkommenen Windstille in der Natur
mit diesem Nachtkostüm auf dem Kopf --" Er vollendete nicht, machte aber
Miene, die Bedeckung mit beiden Händen abzuziehen.

"Nein, nein!" rief Lene herrisch. "Das dulden wir nicht! Die Luft ist
kalt, und die Mütze bleibt, wo sie ist! Jch bitte Dich, lieber Bruder, be-
denke nur, welchen Gefahren Du Dich aussetzest, wenn Du Dich unvor-
sichtigerweise erkälten solltest. Du leidest so genug an Rheumatismen und
bist eben in dem Alter, wo man sich gegen jedes Lüftchen verwahren muß."
Jmmer noch sträubte sich Jacobi, aber Schwester Lene behauptete den
Sieg, und beschämt, tief beschämt stand Bettina und mochte gar nicht
wieder aufwärts sehen; das Haupt des Philosophen, das ihr eben noch so
schön und edel erschienen war, mochte sie in dieser verunzierenden und
entwürdigenden Bedeckung nicht betrachten; die Poesie des eben Erlebten
war durch die nüchterne hausbackene Prosa Lenens entweiht worden, und
ärgerlich stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden und warf der ihrer
kleinen Rache sich freuenden Schwester einen schmollenden Blick zu.

"Das ist eine gerechte Strafe für Jhre Koketterie, meine liebe Bettina",
sagte Lene, dem Blick ruhig begegnend. "Lassen Sie doch meinen Bruder
in Ruhe, und machen Sie ihn nicht so perplex mit Jhrem Liebesgeflüster.
Das ist ein Schmeicheln und Kosen hin und her, als ob es auf eine Ver-
lobung hinausginge. Was sind Sie doch für ein sonderbares über-
schwängliches Kind! Nichts als lächerliche kindische Possen! Selbst das
Alter verschonen Sie nicht; Jhre Koketterie umspinnt Alles, was unter
Jhre Hände kommt."

"Aber das verstehen Sie ja gar nicht, Helene!" rief Bettina auf-
springend und mit blitzenden Augen die Tadlerin messend. "Was wissen
Sie denn von dem Genius, der sich zu einem Andern hingezogen fühlt
und ihm huldigt?"

"Ei was, Genius!" eiferte Lene dagegen. "Jch sage, daß Sie kokett
sind, und damit basta!"

Ein Blitz des Zorns fuhr über Bettina's Gesicht. Mit einem Sprung
war sie in die Höhe und trappelte so, daß der Kahn heftig schwankte.
"Um Gotteswillen, wir fallen!" schrie Alles.

"Ja, ja", rief Bettina, "wenn Sie noch ein Wort weiter sagen über
Dinge, die Sie nicht verstehen!" und schwankte weiter.

"Halten Sie Ruhe!" ermahnte Lene. "Mir wird ganz schwindlig!"

Auch Westerhold kam jetzt von seinem Platz und wollte die Uebermüthige
anrühren. Aber in diesem Augenblick schwankte der Kahn so heftig, daß
er nicht herüber zu kommen wagte, und der Schiffer lachte und half mit,
so daß Alle den Umsturz des Fahrzeuges fürchteten. So weit kam es
indeß nicht. Bettina hatte sie nur Alle in der Gewalt haben wollen, um
ihren Willen durchzusetzen. Plötzlich, mit einem Sprung, war sie bei
Jacobi, hatte die Mütze ihm vom Kopf gezogen und sie weit hinaus in
die Wellen geschleudert.

"Da hat der Wind die Mütze weggeweht", sagte sie und drückte ihm
den gemachten Kranz auf den Kopf. "Der steht Jhrem Kopf schön, und
Niemand soll sich an ihm vergreifen!"

"Aber Bettina!" wendete Lene ärgerlich ein, "wollen Sie denn meinen
Bruder mit Gewalt krank machen? Die frischen Blätter können ihm
wirklich schaden!"

"Laß mir ihn doch!" bat Jacobi.

Er sah in der That schön in diesem Schmuck aus, und Bettina legte
die Hand über den Kranz und sagte:

"Jacobi, Jhre feinen Züge leuchten im gebrochenen Licht dieser schönen
Blätter, wie die des verklärten Plato. Sie sind schön, und es bedarf nur
eines Kranzes, den Sie so wohl verdienen, um Sie würdig der Unsterb-
lichkeit darzustellen."

Dann setzte sie sich neben ihn und hielt seine Hand, die er ihr auch
ließ. Keiner sagte etwas; sie wendeten sich Alle ab, um die Aussicht zu
betrachten, und sprachen unter sich. So kamen sie ans Ufer; da nahm
ihm Bettina den Kranz ab und reichte ihm den Hut.

Jn das Haus zurückgekehrt, begann die alte gewohnte Lebensweise.
Lotte und Lene schalteten und walteten, und Jacobi saß über tiefsinnigen
Problemen. Niemand von Allen aber vergaß den erlebten Reisetag, Lotte
und Lene nicht, deren Würde so schwer von Bettina beleidigt war, und
Jacobi nicht, dem Bettina's Huldigung so wohlgethan hatte. Die Rose,
obwohl verwelkt, blühte für ihn als süßes Angedenken fort, und ihr Bild
flatterte zauberhaft über seinem Denken und Sinnen.



Der Glanzpunkt der Harzpartie.
( Schluß. )

Dies ist die eine Seite des Bildes. Vom Gasthause auf der Roß-
trappe hat man einen Blick ganz entgegengesetzter Natur. Weit hinaus
schaut man in die lachende Ebene, über Thale, Quedlinburg und Halber-
stadt hin. Es ist so ein Stück Herrlichkeit der Welt, wie sie der Ver-
sucher dem Heiland gezeigt haben mag. Für mich besteht die höchste
Landschaftswonne in einem solchen Fernblick, und aus diesem Grunde ziehe
ich die Aussicht von dem Wirthshause Eckardshöhe dem Tiefblick in das
wildromantische Bodethal vor. Der Mensch, auf eine enge Behausung
beschränkt, sehnt sich nach einem weiten Horizont, und mit dem physischen
Gesichtskreis weitet sich auch der geistige. Der drückenden Last des Da-
seins glaubt man entrückt zu sein an jenem unbekannten Ort, den man
dort in weiter, weiter Ferne vermuthet, und empfindet wenigstens auf
kurze Zeit jenes halb sehnsüchtige, halb befriedigte Behagen voll stiller,
stummer Betrachtung, worin die indischen Weisen höchsten Beruf und
tiefste Befriedigung fanden.

Jener Fernblick in die Ebene, wie ihn die Roßtrappe und der Hexen-
[Spaltenumbruch] tanzplatz bieten, wiederholt sich auf allen bedeutenden Höhen des Harz-
gebirges; an den beiden genannten Orten hat man außerdem nach der an-
dern Seite den Blick in eine Felsschlucht von schauerlich reizendem
Charakter. Deßhalb sind denn auch die Roßtrappe und der Hexen-
tanzplatz
die beiden Glanzpunkte des Harzes, die zugleich eine An-
schauung von der gesammten Physiognomie des kleinen Gebirgslandes ge-
während. Aus diesem Grunde pflegen Viele in Thale ihren Wohnsitz auf-
zuschlagen und sich auf den Besuch jener beiden Herrlichkeiten und auf
einige Ausflüge, vielleicht nach Treseburg und Blankenburg, zu beschränken.
Ein solcher Beschluß ist der Empfehlung werth für Jeden, der von einer
kleinen Reise wirkliche Erholung und Stärkung erwartet. Nichts ist un-
verständiger, als wenn ein versessener Bücher= und Schreibemensch die Sitz-
fleischsünden eines ganzen Jahrs durch eine zehntägige Wanderstrapaze ab-
büßen und sich dadurch erfrischen will, daß er dem geschwächten, ruhe-
bedürftigen Körper ganz ungewohnte Anstrengungen zumuthet. Anstatt
ein beträchtliches Landgebiet in kurzer Zeit nach allen Richtungen zu durch-
streifen, wähle ein Erholungsreisender lieber einen freundlich gelegenen
Centralpunkt, von welchem sich einige Haupt= und Charakterpunkte der
Gegend in kleinen Touren erreichen lassen. Ein solcher Centralpunkt ist
für die sächsische Schweiz Schandau, für das schlesische Gebirge Herms-
dorf, für den Harz Thale.

Von dem Gasthause der Roßtrappe führt ein kürzerer, anmuthiger
Bergsteig gerades Weges nach Thale zurück.

Es soll eine beschwerliche Fahrt sein nach dem der Roßtrappe gegen-
überliegenden Hexentanzplatz, auf dem andern Ufer, mittelst der elfhundert
Stufen vom Waldkater aus zu gelangen; diese Beschwerde ist überdies
unnöthig, da man vom Steinbachthal bei Thale auf der andern Seite der
Höhe einen kurzen und wenig mühsamen Weg dorthin einschlagen kann.

Als ich mit meinem kleinen Begleiter diesen Weg wählte, holten uns
Gymnasiasten aus einer nahegelegenen Stadt ein, vorauf Trommeln und
Pfeifen und eine wehende Fahne. Sie waren erhitzt von dem zurückgelegten
Weg und liefen unordentlich und hastig. Mir scheint, es wäre keine üble
Aufgabe, die Jugend vielmehr zu einer verständigen Verwendung der
Kräfte und zu behaglichen Wanderfahrten als zu übermüdenden An-
strengungen anzuhalten.

Als wir das Wirthshaus auf dem Hexentanzplatz erreichten, saßen die
Gymnasiasten schon geraume Zeit beim Bier, die Wenigsten aber durch
einen Ueberrock gegen den frischen Wind geschützt, der auf der freien Höhe
spielte. Darauf wurde angetreten und unter Trommelwirbel und Pfeifen-
klang in einem geordneten Geschwindmarsch nach dem braunschweigischen
Dorfe Treseburg aufgebrochen. Da ich glaubte, ihnen folgen zu können,
so nahm ich keinen Führer, der sonst zu dieser Partie sehr nöthig ist.
Die jungen Recken eilten aber so hastig an der lachenden Waldespracht
vorüber, daß ein Schriftsteller, der seine Turnfahrten schon seit zwei De-
cennien hinter sich hat, und ein zehnjähriger Knabe unmöglich Schritt mit
ihnen halten konnten. Wir verloren sie bald aus den Augen, und damit
auch wahrscheinlich den nächsten Weg; denn erst nach drei Stunden
erreichten wir Treseburg. Der Umweg aber wurde durch einen um so
längeren und abwechselnderen Genuß der Naturpracht vergütet. Die Zu-
sammenwirkung anmuthiger Höhenbildung und kräftiger Laubholzvegetation
bildet hier den eigentlichen Charakter der Landschaft, von dem das im
Thal gelegene Treseburg eine reizende Anschauung gewährt.

Die Turn=Gymnasiasten fanden wir bei unserer Ankunft bereits ge-
speist und auch -- leider im Uebermaß -- getränkt. Die Aufsicht zweier
Lehrer hatte natürlicher Weise nicht verhindern können, daß sich einige
der jungen Leute ein wenig "ansäuselten" und in die Wälder " ver-
krümelten ". Auf den Generalmarsch, den der dickbäuchige, höchst gemüthlich
angesäuselte Tambourmajor=Primaner bis zur Erschöpfung schlagen läßt,
sammeln sich allmälig die Zerstreuten, die militärische Ordnung wird
wieder hergestellt und der Marsch nach der Roßtrappe angetreten. Wir
wünschten, daß keiner der berauschten Knaben einen Fehltritt thue und die
heitere Partie nicht mit einem entsetzlichen Unglück ende.

Das Soldatenwesen mag denn doch wohl in der Menschennatur be-
gründet liegen; es wirken hier der brutale Kampfsinn, Eitelkeit und
Putzsucht gemeinschaftlich. Daß die Regierenden es von jeher begünstigt
haben, ist kein Wunder; aber auch die Völker selber, sobald sie die leben-
digen Werkzeuge der Regierer einmal auf kurze Zeit außer Wirkung ge-
setzt, hatten stets nichts Eiligeres zu thun, als noch mehr Soldaten unter
dem Namen "Nationalgarden", "Bürgerwehr" u. s. w. zu errichten, und
in der neuesten Zeit haben die Liberalen noch die "Jugendwehr" erfunden.
Jn einem Militärstaat wird die Soldaterei vollends durch Beispiel und
Anleitung anerzogen und geht wahrhaft in Fleisch und Blut der Menschen
über. An unseren reisenden Gymnasiasten sahen wir überdies ein voll-
kommenes Muster von der Erziehung unserer Jugend aus den höheren
Ständen. Zur Erholung von der Beschäftigung mit todten Sprachformen
dient die Soldaterei, und statt einer einfachen, naturgemäßen Gymnastik
eine Dressur, die für Affenkäfichtproduktionen berechnet scheinen, eine kleine
Pennalbekneipung als Vorbereitung zu größerer Studentenkneiperei; dies
Alles bildet die Vorstufen zu einem guten Beamten und soliden Staats-
bürger und gewährt nebenbei noch die jugendfreudige Erinnerung an
"Schulen und Universitäten."

Den Rückweg von Treseburg nach Thale legt man auf einer herrlichen
braunschweigischen Chaussee zurück, deren Verlängerung auf preußischem
Gebiet, da, wo der Nebenweg nach der Roßtrappe abzweigt, in einen
Schluchtweg verläuft.

Lohnend ist noch ein Ausflug nach Blankenburg. Das Schloß auf
hohem Kalksteinfelsen, die alte Bartholomäuskirche mit den Grabmälern
der mächtigen Grafen, deren Gebein nun zu Staub eingesunken ist, das
trauliche Bergstädtchen, welches der durchfahrende hannöversche Postillon
mit dem Schall seines Horns erfüllt, das Alles sticht [unleserliches Material - 2 Zeichen fehlen]so sehr gegen den
Berliner Habitus ab, daß man sich alsbald in eine Novelle versetzt glaubt,
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] hellen lichten Tage und bei dieser vollkommenen Windstille in der Natur
mit diesem Nachtkostüm auf dem Kopf —“ Er vollendete nicht, machte aber
Miene, die Bedeckung mit beiden Händen abzuziehen.

„Nein, nein!“ rief Lene herrisch. „Das dulden wir nicht! Die Luft ist
kalt, und die Mütze bleibt, wo sie ist! Jch bitte Dich, lieber Bruder, be-
denke nur, welchen Gefahren Du Dich aussetzest, wenn Du Dich unvor-
sichtigerweise erkälten solltest. Du leidest so genug an Rheumatismen und
bist eben in dem Alter, wo man sich gegen jedes Lüftchen verwahren muß.“
Jmmer noch sträubte sich Jacobi, aber Schwester Lene behauptete den
Sieg, und beschämt, tief beschämt stand Bettina und mochte gar nicht
wieder aufwärts sehen; das Haupt des Philosophen, das ihr eben noch so
schön und edel erschienen war, mochte sie in dieser verunzierenden und
entwürdigenden Bedeckung nicht betrachten; die Poesie des eben Erlebten
war durch die nüchterne hausbackene Prosa Lenens entweiht worden, und
ärgerlich stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden und warf der ihrer
kleinen Rache sich freuenden Schwester einen schmollenden Blick zu.

„Das ist eine gerechte Strafe für Jhre Koketterie, meine liebe Bettina“,
sagte Lene, dem Blick ruhig begegnend. „Lassen Sie doch meinen Bruder
in Ruhe, und machen Sie ihn nicht so perplex mit Jhrem Liebesgeflüster.
Das ist ein Schmeicheln und Kosen hin und her, als ob es auf eine Ver-
lobung hinausginge. Was sind Sie doch für ein sonderbares über-
schwängliches Kind! Nichts als lächerliche kindische Possen! Selbst das
Alter verschonen Sie nicht; Jhre Koketterie umspinnt Alles, was unter
Jhre Hände kommt.“

„Aber das verstehen Sie ja gar nicht, Helene!“ rief Bettina auf-
springend und mit blitzenden Augen die Tadlerin messend. „Was wissen
Sie denn von dem Genius, der sich zu einem Andern hingezogen fühlt
und ihm huldigt?“

„Ei was, Genius!“ eiferte Lene dagegen. „Jch sage, daß Sie kokett
sind, und damit basta!“

Ein Blitz des Zorns fuhr über Bettina's Gesicht. Mit einem Sprung
war sie in die Höhe und trappelte so, daß der Kahn heftig schwankte.
„Um Gotteswillen, wir fallen!“ schrie Alles.

„Ja, ja“, rief Bettina, „wenn Sie noch ein Wort weiter sagen über
Dinge, die Sie nicht verstehen!“ und schwankte weiter.

„Halten Sie Ruhe!“ ermahnte Lene. „Mir wird ganz schwindlig!“

Auch Westerhold kam jetzt von seinem Platz und wollte die Uebermüthige
anrühren. Aber in diesem Augenblick schwankte der Kahn so heftig, daß
er nicht herüber zu kommen wagte, und der Schiffer lachte und half mit,
so daß Alle den Umsturz des Fahrzeuges fürchteten. So weit kam es
indeß nicht. Bettina hatte sie nur Alle in der Gewalt haben wollen, um
ihren Willen durchzusetzen. Plötzlich, mit einem Sprung, war sie bei
Jacobi, hatte die Mütze ihm vom Kopf gezogen und sie weit hinaus in
die Wellen geschleudert.

„Da hat der Wind die Mütze weggeweht“, sagte sie und drückte ihm
den gemachten Kranz auf den Kopf. „Der steht Jhrem Kopf schön, und
Niemand soll sich an ihm vergreifen!“

„Aber Bettina!“ wendete Lene ärgerlich ein, „wollen Sie denn meinen
Bruder mit Gewalt krank machen? Die frischen Blätter können ihm
wirklich schaden!“

„Laß mir ihn doch!“ bat Jacobi.

Er sah in der That schön in diesem Schmuck aus, und Bettina legte
die Hand über den Kranz und sagte:

„Jacobi, Jhre feinen Züge leuchten im gebrochenen Licht dieser schönen
Blätter, wie die des verklärten Plato. Sie sind schön, und es bedarf nur
eines Kranzes, den Sie so wohl verdienen, um Sie würdig der Unsterb-
lichkeit darzustellen.“

Dann setzte sie sich neben ihn und hielt seine Hand, die er ihr auch
ließ. Keiner sagte etwas; sie wendeten sich Alle ab, um die Aussicht zu
betrachten, und sprachen unter sich. So kamen sie ans Ufer; da nahm
ihm Bettina den Kranz ab und reichte ihm den Hut.

Jn das Haus zurückgekehrt, begann die alte gewohnte Lebensweise.
Lotte und Lene schalteten und walteten, und Jacobi saß über tiefsinnigen
Problemen. Niemand von Allen aber vergaß den erlebten Reisetag, Lotte
und Lene nicht, deren Würde so schwer von Bettina beleidigt war, und
Jacobi nicht, dem Bettina's Huldigung so wohlgethan hatte. Die Rose,
obwohl verwelkt, blühte für ihn als süßes Angedenken fort, und ihr Bild
flatterte zauberhaft über seinem Denken und Sinnen.



Der Glanzpunkt der Harzpartie.
( Schluß. )

Dies ist die eine Seite des Bildes. Vom Gasthause auf der Roß-
trappe hat man einen Blick ganz entgegengesetzter Natur. Weit hinaus
schaut man in die lachende Ebene, über Thale, Quedlinburg und Halber-
stadt hin. Es ist so ein Stück Herrlichkeit der Welt, wie sie der Ver-
sucher dem Heiland gezeigt haben mag. Für mich besteht die höchste
Landschaftswonne in einem solchen Fernblick, und aus diesem Grunde ziehe
ich die Aussicht von dem Wirthshause Eckardshöhe dem Tiefblick in das
wildromantische Bodethal vor. Der Mensch, auf eine enge Behausung
beschränkt, sehnt sich nach einem weiten Horizont, und mit dem physischen
Gesichtskreis weitet sich auch der geistige. Der drückenden Last des Da-
seins glaubt man entrückt zu sein an jenem unbekannten Ort, den man
dort in weiter, weiter Ferne vermuthet, und empfindet wenigstens auf
kurze Zeit jenes halb sehnsüchtige, halb befriedigte Behagen voll stiller,
stummer Betrachtung, worin die indischen Weisen höchsten Beruf und
tiefste Befriedigung fanden.

Jener Fernblick in die Ebene, wie ihn die Roßtrappe und der Hexen-
[Spaltenumbruch] tanzplatz bieten, wiederholt sich auf allen bedeutenden Höhen des Harz-
gebirges; an den beiden genannten Orten hat man außerdem nach der an-
dern Seite den Blick in eine Felsschlucht von schauerlich reizendem
Charakter. Deßhalb sind denn auch die Roßtrappe und der Hexen-
tanzplatz
die beiden Glanzpunkte des Harzes, die zugleich eine An-
schauung von der gesammten Physiognomie des kleinen Gebirgslandes ge-
während. Aus diesem Grunde pflegen Viele in Thale ihren Wohnsitz auf-
zuschlagen und sich auf den Besuch jener beiden Herrlichkeiten und auf
einige Ausflüge, vielleicht nach Treseburg und Blankenburg, zu beschränken.
Ein solcher Beschluß ist der Empfehlung werth für Jeden, der von einer
kleinen Reise wirkliche Erholung und Stärkung erwartet. Nichts ist un-
verständiger, als wenn ein versessener Bücher= und Schreibemensch die Sitz-
fleischsünden eines ganzen Jahrs durch eine zehntägige Wanderstrapaze ab-
büßen und sich dadurch erfrischen will, daß er dem geschwächten, ruhe-
bedürftigen Körper ganz ungewohnte Anstrengungen zumuthet. Anstatt
ein beträchtliches Landgebiet in kurzer Zeit nach allen Richtungen zu durch-
streifen, wähle ein Erholungsreisender lieber einen freundlich gelegenen
Centralpunkt, von welchem sich einige Haupt= und Charakterpunkte der
Gegend in kleinen Touren erreichen lassen. Ein solcher Centralpunkt ist
für die sächsische Schweiz Schandau, für das schlesische Gebirge Herms-
dorf, für den Harz Thale.

Von dem Gasthause der Roßtrappe führt ein kürzerer, anmuthiger
Bergsteig gerades Weges nach Thale zurück.

Es soll eine beschwerliche Fahrt sein nach dem der Roßtrappe gegen-
überliegenden Hexentanzplatz, auf dem andern Ufer, mittelst der elfhundert
Stufen vom Waldkater aus zu gelangen; diese Beschwerde ist überdies
unnöthig, da man vom Steinbachthal bei Thale auf der andern Seite der
Höhe einen kurzen und wenig mühsamen Weg dorthin einschlagen kann.

Als ich mit meinem kleinen Begleiter diesen Weg wählte, holten uns
Gymnasiasten aus einer nahegelegenen Stadt ein, vorauf Trommeln und
Pfeifen und eine wehende Fahne. Sie waren erhitzt von dem zurückgelegten
Weg und liefen unordentlich und hastig. Mir scheint, es wäre keine üble
Aufgabe, die Jugend vielmehr zu einer verständigen Verwendung der
Kräfte und zu behaglichen Wanderfahrten als zu übermüdenden An-
strengungen anzuhalten.

Als wir das Wirthshaus auf dem Hexentanzplatz erreichten, saßen die
Gymnasiasten schon geraume Zeit beim Bier, die Wenigsten aber durch
einen Ueberrock gegen den frischen Wind geschützt, der auf der freien Höhe
spielte. Darauf wurde angetreten und unter Trommelwirbel und Pfeifen-
klang in einem geordneten Geschwindmarsch nach dem braunschweigischen
Dorfe Treseburg aufgebrochen. Da ich glaubte, ihnen folgen zu können,
so nahm ich keinen Führer, der sonst zu dieser Partie sehr nöthig ist.
Die jungen Recken eilten aber so hastig an der lachenden Waldespracht
vorüber, daß ein Schriftsteller, der seine Turnfahrten schon seit zwei De-
cennien hinter sich hat, und ein zehnjähriger Knabe unmöglich Schritt mit
ihnen halten konnten. Wir verloren sie bald aus den Augen, und damit
auch wahrscheinlich den nächsten Weg; denn erst nach drei Stunden
erreichten wir Treseburg. Der Umweg aber wurde durch einen um so
längeren und abwechselnderen Genuß der Naturpracht vergütet. Die Zu-
sammenwirkung anmuthiger Höhenbildung und kräftiger Laubholzvegetation
bildet hier den eigentlichen Charakter der Landschaft, von dem das im
Thal gelegene Treseburg eine reizende Anschauung gewährt.

Die Turn=Gymnasiasten fanden wir bei unserer Ankunft bereits ge-
speist und auch — leider im Uebermaß — getränkt. Die Aufsicht zweier
Lehrer hatte natürlicher Weise nicht verhindern können, daß sich einige
der jungen Leute ein wenig „ansäuselten“ und in die Wälder „ ver-
krümelten “. Auf den Generalmarsch, den der dickbäuchige, höchst gemüthlich
angesäuselte Tambourmajor=Primaner bis zur Erschöpfung schlagen läßt,
sammeln sich allmälig die Zerstreuten, die militärische Ordnung wird
wieder hergestellt und der Marsch nach der Roßtrappe angetreten. Wir
wünschten, daß keiner der berauschten Knaben einen Fehltritt thue und die
heitere Partie nicht mit einem entsetzlichen Unglück ende.

Das Soldatenwesen mag denn doch wohl in der Menschennatur be-
gründet liegen; es wirken hier der brutale Kampfsinn, Eitelkeit und
Putzsucht gemeinschaftlich. Daß die Regierenden es von jeher begünstigt
haben, ist kein Wunder; aber auch die Völker selber, sobald sie die leben-
digen Werkzeuge der Regierer einmal auf kurze Zeit außer Wirkung ge-
setzt, hatten stets nichts Eiligeres zu thun, als noch mehr Soldaten unter
dem Namen „Nationalgarden“, „Bürgerwehr“ u. s. w. zu errichten, und
in der neuesten Zeit haben die Liberalen noch die „Jugendwehr“ erfunden.
Jn einem Militärstaat wird die Soldaterei vollends durch Beispiel und
Anleitung anerzogen und geht wahrhaft in Fleisch und Blut der Menschen
über. An unseren reisenden Gymnasiasten sahen wir überdies ein voll-
kommenes Muster von der Erziehung unserer Jugend aus den höheren
Ständen. Zur Erholung von der Beschäftigung mit todten Sprachformen
dient die Soldaterei, und statt einer einfachen, naturgemäßen Gymnastik
eine Dressur, die für Affenkäfichtproduktionen berechnet scheinen, eine kleine
Pennalbekneipung als Vorbereitung zu größerer Studentenkneiperei; dies
Alles bildet die Vorstufen zu einem guten Beamten und soliden Staats-
bürger und gewährt nebenbei noch die jugendfreudige Erinnerung an
„Schulen und Universitäten.“

Den Rückweg von Treseburg nach Thale legt man auf einer herrlichen
braunschweigischen Chaussee zurück, deren Verlängerung auf preußischem
Gebiet, da, wo der Nebenweg nach der Roßtrappe abzweigt, in einen
Schluchtweg verläuft.

Lohnend ist noch ein Ausflug nach Blankenburg. Das Schloß auf
hohem Kalksteinfelsen, die alte Bartholomäuskirche mit den Grabmälern
der mächtigen Grafen, deren Gebein nun zu Staub eingesunken ist, das
trauliche Bergstädtchen, welches der durchfahrende hannöversche Postillon
mit dem Schall seines Horns erfüllt, das Alles sticht [unleserliches Material – 2 Zeichen fehlen]so sehr gegen den
Berliner Habitus ab, daß man sich alsbald in eine Novelle versetzt glaubt,
[Ende Spaltensatz]

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[181/0005] 181 hellen lichten Tage und bei dieser vollkommenen Windstille in der Natur mit diesem Nachtkostüm auf dem Kopf —“ Er vollendete nicht, machte aber Miene, die Bedeckung mit beiden Händen abzuziehen. „Nein, nein!“ rief Lene herrisch. „Das dulden wir nicht! Die Luft ist kalt, und die Mütze bleibt, wo sie ist! Jch bitte Dich, lieber Bruder, be- denke nur, welchen Gefahren Du Dich aussetzest, wenn Du Dich unvor- sichtigerweise erkälten solltest. Du leidest so genug an Rheumatismen und bist eben in dem Alter, wo man sich gegen jedes Lüftchen verwahren muß.“ Jmmer noch sträubte sich Jacobi, aber Schwester Lene behauptete den Sieg, und beschämt, tief beschämt stand Bettina und mochte gar nicht wieder aufwärts sehen; das Haupt des Philosophen, das ihr eben noch so schön und edel erschienen war, mochte sie in dieser verunzierenden und entwürdigenden Bedeckung nicht betrachten; die Poesie des eben Erlebten war durch die nüchterne hausbackene Prosa Lenens entweiht worden, und ärgerlich stampfte sie mit dem Fuß auf den Boden und warf der ihrer kleinen Rache sich freuenden Schwester einen schmollenden Blick zu. „Das ist eine gerechte Strafe für Jhre Koketterie, meine liebe Bettina“, sagte Lene, dem Blick ruhig begegnend. „Lassen Sie doch meinen Bruder in Ruhe, und machen Sie ihn nicht so perplex mit Jhrem Liebesgeflüster. Das ist ein Schmeicheln und Kosen hin und her, als ob es auf eine Ver- lobung hinausginge. Was sind Sie doch für ein sonderbares über- schwängliches Kind! Nichts als lächerliche kindische Possen! Selbst das Alter verschonen Sie nicht; Jhre Koketterie umspinnt Alles, was unter Jhre Hände kommt.“ „Aber das verstehen Sie ja gar nicht, Helene!“ rief Bettina auf- springend und mit blitzenden Augen die Tadlerin messend. „Was wissen Sie denn von dem Genius, der sich zu einem Andern hingezogen fühlt und ihm huldigt?“ „Ei was, Genius!“ eiferte Lene dagegen. „Jch sage, daß Sie kokett sind, und damit basta!“ Ein Blitz des Zorns fuhr über Bettina's Gesicht. Mit einem Sprung war sie in die Höhe und trappelte so, daß der Kahn heftig schwankte. „Um Gotteswillen, wir fallen!“ schrie Alles. „Ja, ja“, rief Bettina, „wenn Sie noch ein Wort weiter sagen über Dinge, die Sie nicht verstehen!“ und schwankte weiter. „Halten Sie Ruhe!“ ermahnte Lene. „Mir wird ganz schwindlig!“ Auch Westerhold kam jetzt von seinem Platz und wollte die Uebermüthige anrühren. Aber in diesem Augenblick schwankte der Kahn so heftig, daß er nicht herüber zu kommen wagte, und der Schiffer lachte und half mit, so daß Alle den Umsturz des Fahrzeuges fürchteten. So weit kam es indeß nicht. Bettina hatte sie nur Alle in der Gewalt haben wollen, um ihren Willen durchzusetzen. Plötzlich, mit einem Sprung, war sie bei Jacobi, hatte die Mütze ihm vom Kopf gezogen und sie weit hinaus in die Wellen geschleudert. „Da hat der Wind die Mütze weggeweht“, sagte sie und drückte ihm den gemachten Kranz auf den Kopf. „Der steht Jhrem Kopf schön, und Niemand soll sich an ihm vergreifen!“ „Aber Bettina!“ wendete Lene ärgerlich ein, „wollen Sie denn meinen Bruder mit Gewalt krank machen? Die frischen Blätter können ihm wirklich schaden!“ „Laß mir ihn doch!“ bat Jacobi. Er sah in der That schön in diesem Schmuck aus, und Bettina legte die Hand über den Kranz und sagte: „Jacobi, Jhre feinen Züge leuchten im gebrochenen Licht dieser schönen Blätter, wie die des verklärten Plato. Sie sind schön, und es bedarf nur eines Kranzes, den Sie so wohl verdienen, um Sie würdig der Unsterb- lichkeit darzustellen.“ Dann setzte sie sich neben ihn und hielt seine Hand, die er ihr auch ließ. Keiner sagte etwas; sie wendeten sich Alle ab, um die Aussicht zu betrachten, und sprachen unter sich. So kamen sie ans Ufer; da nahm ihm Bettina den Kranz ab und reichte ihm den Hut. Jn das Haus zurückgekehrt, begann die alte gewohnte Lebensweise. Lotte und Lene schalteten und walteten, und Jacobi saß über tiefsinnigen Problemen. Niemand von Allen aber vergaß den erlebten Reisetag, Lotte und Lene nicht, deren Würde so schwer von Bettina beleidigt war, und Jacobi nicht, dem Bettina's Huldigung so wohlgethan hatte. Die Rose, obwohl verwelkt, blühte für ihn als süßes Angedenken fort, und ihr Bild flatterte zauberhaft über seinem Denken und Sinnen. Der Glanzpunkt der Harzpartie. ( Schluß. ) Dies ist die eine Seite des Bildes. Vom Gasthause auf der Roß- trappe hat man einen Blick ganz entgegengesetzter Natur. Weit hinaus schaut man in die lachende Ebene, über Thale, Quedlinburg und Halber- stadt hin. Es ist so ein Stück Herrlichkeit der Welt, wie sie der Ver- sucher dem Heiland gezeigt haben mag. Für mich besteht die höchste Landschaftswonne in einem solchen Fernblick, und aus diesem Grunde ziehe ich die Aussicht von dem Wirthshause Eckardshöhe dem Tiefblick in das wildromantische Bodethal vor. Der Mensch, auf eine enge Behausung beschränkt, sehnt sich nach einem weiten Horizont, und mit dem physischen Gesichtskreis weitet sich auch der geistige. Der drückenden Last des Da- seins glaubt man entrückt zu sein an jenem unbekannten Ort, den man dort in weiter, weiter Ferne vermuthet, und empfindet wenigstens auf kurze Zeit jenes halb sehnsüchtige, halb befriedigte Behagen voll stiller, stummer Betrachtung, worin die indischen Weisen höchsten Beruf und tiefste Befriedigung fanden. Jener Fernblick in die Ebene, wie ihn die Roßtrappe und der Hexen- tanzplatz bieten, wiederholt sich auf allen bedeutenden Höhen des Harz- gebirges; an den beiden genannten Orten hat man außerdem nach der an- dern Seite den Blick in eine Felsschlucht von schauerlich reizendem Charakter. Deßhalb sind denn auch die Roßtrappe und der Hexen- tanzplatz die beiden Glanzpunkte des Harzes, die zugleich eine An- schauung von der gesammten Physiognomie des kleinen Gebirgslandes ge- während. Aus diesem Grunde pflegen Viele in Thale ihren Wohnsitz auf- zuschlagen und sich auf den Besuch jener beiden Herrlichkeiten und auf einige Ausflüge, vielleicht nach Treseburg und Blankenburg, zu beschränken. Ein solcher Beschluß ist der Empfehlung werth für Jeden, der von einer kleinen Reise wirkliche Erholung und Stärkung erwartet. Nichts ist un- verständiger, als wenn ein versessener Bücher= und Schreibemensch die Sitz- fleischsünden eines ganzen Jahrs durch eine zehntägige Wanderstrapaze ab- büßen und sich dadurch erfrischen will, daß er dem geschwächten, ruhe- bedürftigen Körper ganz ungewohnte Anstrengungen zumuthet. Anstatt ein beträchtliches Landgebiet in kurzer Zeit nach allen Richtungen zu durch- streifen, wähle ein Erholungsreisender lieber einen freundlich gelegenen Centralpunkt, von welchem sich einige Haupt= und Charakterpunkte der Gegend in kleinen Touren erreichen lassen. Ein solcher Centralpunkt ist für die sächsische Schweiz Schandau, für das schlesische Gebirge Herms- dorf, für den Harz Thale. Von dem Gasthause der Roßtrappe führt ein kürzerer, anmuthiger Bergsteig gerades Weges nach Thale zurück. Es soll eine beschwerliche Fahrt sein nach dem der Roßtrappe gegen- überliegenden Hexentanzplatz, auf dem andern Ufer, mittelst der elfhundert Stufen vom Waldkater aus zu gelangen; diese Beschwerde ist überdies unnöthig, da man vom Steinbachthal bei Thale auf der andern Seite der Höhe einen kurzen und wenig mühsamen Weg dorthin einschlagen kann. Als ich mit meinem kleinen Begleiter diesen Weg wählte, holten uns Gymnasiasten aus einer nahegelegenen Stadt ein, vorauf Trommeln und Pfeifen und eine wehende Fahne. Sie waren erhitzt von dem zurückgelegten Weg und liefen unordentlich und hastig. Mir scheint, es wäre keine üble Aufgabe, die Jugend vielmehr zu einer verständigen Verwendung der Kräfte und zu behaglichen Wanderfahrten als zu übermüdenden An- strengungen anzuhalten. Als wir das Wirthshaus auf dem Hexentanzplatz erreichten, saßen die Gymnasiasten schon geraume Zeit beim Bier, die Wenigsten aber durch einen Ueberrock gegen den frischen Wind geschützt, der auf der freien Höhe spielte. Darauf wurde angetreten und unter Trommelwirbel und Pfeifen- klang in einem geordneten Geschwindmarsch nach dem braunschweigischen Dorfe Treseburg aufgebrochen. Da ich glaubte, ihnen folgen zu können, so nahm ich keinen Führer, der sonst zu dieser Partie sehr nöthig ist. Die jungen Recken eilten aber so hastig an der lachenden Waldespracht vorüber, daß ein Schriftsteller, der seine Turnfahrten schon seit zwei De- cennien hinter sich hat, und ein zehnjähriger Knabe unmöglich Schritt mit ihnen halten konnten. Wir verloren sie bald aus den Augen, und damit auch wahrscheinlich den nächsten Weg; denn erst nach drei Stunden erreichten wir Treseburg. Der Umweg aber wurde durch einen um so längeren und abwechselnderen Genuß der Naturpracht vergütet. Die Zu- sammenwirkung anmuthiger Höhenbildung und kräftiger Laubholzvegetation bildet hier den eigentlichen Charakter der Landschaft, von dem das im Thal gelegene Treseburg eine reizende Anschauung gewährt. Die Turn=Gymnasiasten fanden wir bei unserer Ankunft bereits ge- speist und auch — leider im Uebermaß — getränkt. Die Aufsicht zweier Lehrer hatte natürlicher Weise nicht verhindern können, daß sich einige der jungen Leute ein wenig „ansäuselten“ und in die Wälder „ ver- krümelten “. Auf den Generalmarsch, den der dickbäuchige, höchst gemüthlich angesäuselte Tambourmajor=Primaner bis zur Erschöpfung schlagen läßt, sammeln sich allmälig die Zerstreuten, die militärische Ordnung wird wieder hergestellt und der Marsch nach der Roßtrappe angetreten. Wir wünschten, daß keiner der berauschten Knaben einen Fehltritt thue und die heitere Partie nicht mit einem entsetzlichen Unglück ende. Das Soldatenwesen mag denn doch wohl in der Menschennatur be- gründet liegen; es wirken hier der brutale Kampfsinn, Eitelkeit und Putzsucht gemeinschaftlich. Daß die Regierenden es von jeher begünstigt haben, ist kein Wunder; aber auch die Völker selber, sobald sie die leben- digen Werkzeuge der Regierer einmal auf kurze Zeit außer Wirkung ge- setzt, hatten stets nichts Eiligeres zu thun, als noch mehr Soldaten unter dem Namen „Nationalgarden“, „Bürgerwehr“ u. s. w. zu errichten, und in der neuesten Zeit haben die Liberalen noch die „Jugendwehr“ erfunden. Jn einem Militärstaat wird die Soldaterei vollends durch Beispiel und Anleitung anerzogen und geht wahrhaft in Fleisch und Blut der Menschen über. An unseren reisenden Gymnasiasten sahen wir überdies ein voll- kommenes Muster von der Erziehung unserer Jugend aus den höheren Ständen. Zur Erholung von der Beschäftigung mit todten Sprachformen dient die Soldaterei, und statt einer einfachen, naturgemäßen Gymnastik eine Dressur, die für Affenkäfichtproduktionen berechnet scheinen, eine kleine Pennalbekneipung als Vorbereitung zu größerer Studentenkneiperei; dies Alles bildet die Vorstufen zu einem guten Beamten und soliden Staats- bürger und gewährt nebenbei noch die jugendfreudige Erinnerung an „Schulen und Universitäten.“ Den Rückweg von Treseburg nach Thale legt man auf einer herrlichen braunschweigischen Chaussee zurück, deren Verlängerung auf preußischem Gebiet, da, wo der Nebenweg nach der Roßtrappe abzweigt, in einen Schluchtweg verläuft. Lohnend ist noch ein Ausflug nach Blankenburg. Das Schloß auf hohem Kalksteinfelsen, die alte Bartholomäuskirche mit den Grabmälern der mächtigen Grafen, deren Gebein nun zu Staub eingesunken ist, das trauliche Bergstädtchen, welches der durchfahrende hannöversche Postillon mit dem Schall seines Horns erfüllt, das Alles sticht __so sehr gegen den Berliner Habitus ab, daß man sich alsbald in eine Novelle versetzt glaubt,

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 23. Berlin, 7. Juni 1868, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt23_1868/5>, abgerufen am 04.06.2024.