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Sonntags-Blatt. Nr. 21. Berlin, 24. Mai 1868.

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[Beginn Spaltensatz] das feine Gesicht derselben, welches durch die Anstrengung des Spre-
chens leicht geröthet war. Er blieb ruhig und wartete, ob sie nicht
weiter fortfahren würde; denn noch immer war ihm nicht klar, was
den Vater zu einer so schädlichen Abschließung bewege. Er wollte eben
eine Frage an sie richten, als er das leise Oeffnen der Thür vernahm.
Die Haushälterin trat ein und ging schweigend nach der andern Seite
des Zimmers. Da er voraussah, sie würden nicht weiter ungestört
sprechen können, erhob er sich rasch, und in ruhigem, kaltem Ton
empfahl er ihr Ruhe und versprach, in den nächsten Tagen zurück-
zukehren. Als er auf der Straße den Weg zu seiner Braut nahm,
kam ihm das größte Mitleid über das arme Geschöpf, welches hier
verkümmere. Er sah wohl ein, daß ihr nur geholfen werden konnte,
wenn sie aus dieser Umgebung fortgenommen würde; aber dies zu
bewerkstelligen hatte er, der Arzt, keine Macht.

Voll von diesen Gedanken, kam er zu seiner Braut und erzählte
dieser von seiner Patientin und der Unterredung, welche er mit ihr
gehabt hatte. Zartfühlend, wie Marie war, kamen ihr die Thränen
in die Augen, als sie das Schicksal des Mädchens hörte, und lebhaft
besprach sie, wie eine Verbesserung desselben möglich sei. Dann mit
einem Mal flog sie von ihrem Sitz auf, klatschte in die Hände und
rief freudig aus:

"Jetzt weiß ich, was wir thun können. Jch nehme sie zu mir in
das Haus. Hier in der frischen Luft wird sie am ehesten gesund
werden. Mein Vater hat sicherlich nichts dagegen, wenn ich sie mir
zur Gesellschaft ausbitte. Meinst Du nicht, daß dies das Beste
sein wird?"

Dabei legte sie ihren Arm um den Hals des Verlobten und sah
fragend in sein Gesicht. Dieser war von dem Gedanken überrascht;
aber es bedurfte nur kurzer Zeit, um ihn von der Unausführbarkeit
zu überzeugen.

"Wenn auch Dein Vater es zugiebt, so wird es der ihrige sicher
nicht thun. Hat er sie bisher von aller Welt abgeschlossen, so
wird er sie auch jetzt nicht in fremde Hände geben wollen. Dazu
werden wir ihn nie zu überreden vermögen. Und dann, welche Last
willst Du Dir selbst aufbürden? Ein kränkliches Mädchen immer um
sich zu haben, ist wahrlich kein Vergnügen."

Aber Marie gab nicht nach.

"Mag sein, daß es eine Last ist, aber ich gewinne mir dadurch
eine Freundin. Und im Hause ist es so einsam, wenn Du nicht hier
bist. Heut habe ich den Vater noch gar nicht gesehen."

"Mir gefällt, offen gestanden, der Plan nicht", antwortete er,
"so gern ich auch das Mädchen anderswo untergebracht sehen möchte.
Wir würden immer eine fremde Person um uns leiden müssen, nie-
mals mehr frei und ungestört einander gegenüber stehen."

"Aber Ludwig, wer wird uns daran hindern wollen? Wie Du sie
schilderst, ist sie zartfühlend genug, sich nicht störend zwischen zwei
Verlobte schieben zu wollen. Wenigstens", fuhr sie nach einigem Be-
sinnen fort, "will ich sie einmal sehen und sprechen, und mit dem
Vater werde ich auch darüber reden. Wann willst Du mich zu ihr
führen?"

Dagegen hatte er nichts einzuwenden. Bereits am nächsten Tage
standen sie zusammen vor dem Hause, und Marie sah mit Mitleid
auf die dicht verhüllten Fenster. Jn der Stube trafen sie Helene mit
ihrem Vater. Beide empfingen sie mit schlecht verhehlter Verwun-
derung. Ludwig stellte seine Braut vor und erklärte den Zweck ihres
Kommens und die Theilnahme, welche seine Braut für die Kranke hege.
Helene hielt ihren Kopf gesenkt, und als Marie auf sie zutrat und
ihre Hand nahm und sie zwang, sich auf ihren Stuhl wieder nieder-
zulassen, schluchzte sie laut auf. Der Vater aber dankte mit kühlen
Worten für die Theilnahme. Marie ließ sich jedoch nicht einschüch-
tern; sie setzte sich zu dem Mädchen und begann munter zu erzählen,
wie ihr Bräutigam von Helene oft gesprochen habe und daß er ihr
habe versprechen müssen, sie, sobald es möglich sei, zu ihr zu führen.
Bald war ein Gespräch zwischen den beiden Mädchen im Gang;
Helene mußte von ihrer Krankheit erzählen; sie that es schüchtern. Marie
hörte voll Theilnahme zu und unterbrach sie oft mit ihren Fragen;
dabei öffnete sie die Fenstervorhänge und befestigte sie auf den Seiten,
so daß die Wintersonne ihre schwachen Strahlen in das Zimmer
senden konnte. Der Vater sah mißmüthig dem zu und stand mit
gekreuzten Armen am nächsten Fenster. Der Doktor wurde unruhig,
als er aus den Bemerkungen seiner Braut vernahm, daß sie ihre
Absicht laut werden lassen wolle. Aber dennoch gewann er es nicht
über sich, sie zu unterbrechen. Jetzt, in der Krankenstube, hatte wieder
das Mitleid die Oberhand gewonnen, und er meinte es darauf an-
kommen lassen zu dürfen, ob der Vater einwilligen werde.

"Sie können aber nicht gesund werden, wenn Sie hier bleiben",
unterbrach Marie plötzlich das Gespräch. "Jn dieser engen Straße
sieht man ja kaum das Tageslicht, und das Zimmer ist so unfreundlich,
so dunkel. Kommen Sie zu mir heraus in unser Haus. Ja, Helene,
ich biete es Jhnen an, verlassen Sie Jhren Vater auf einige Wochen
und ziehen Sie zu mir; wir haben vor der Stadt ein freundliches
[Spaltenumbruch] Häuschen, dort können Sie frische Luft schöpfen. Und bald wird
es Frühling werden. Sie werden sehen, wie bald Jhre Gesundheit
wiederkehrt."

Helene war erschrocken über dies Anerbieten, das sie, wie sie
ahnte, dem Arzt zu verdanken hatte; sie wandte sich halb nach dem
Vater um und wagte doch nicht, ihn anzusehen. Endlich -- sie war
gezwungen, etwas zu erwidern -- stieß sie mühsam hervor, daß es
nicht angehe, in ein fremdes Haus zu kommen.

"Sie sollen dieselbe Pflege, wie hier, finden", fiel Marie ein; "es
soll Jhnen nichts fehlen. Platz genug haben wir. Mein Vater und
ich wohnen allein in dem großen Gebäude, und ich habe Zeit genug,
mit Jhnen mich zu beschäftigen und immer nachzusehen, daß Alles so
ist, wie Sie es wünschen."

"Nein", schüttelte Helene mit dem Kopf, "ich bin Jhnen sehr
dankbar, aber --"

"Meine Tochter", unterbrach hier der Vater mit stolzer Stimme,
"ist am besten bei mir aufgehoben; ich habe nicht nöthig, sie bei
fremden Leuten unterzubringen."

Die kalte Art, wie diese Worte gesprochen waren, verletzte Ludwig
auf das stärkste; er glaubte seiner Braut, die erschrocken aufgesprungen
war, zu Hülfe kommen zu müssen.

"Verzeihen Sie, mein Herr", wandte er sich an den Vater, "wenn
meine Braut etwas voreilig Jhnen ein Anerbieten machte, das so
tief in Jhre Verhältnisse eingreift. Es ist übrigens die Folge einer
Aeußerung von meiner Seite, gegenüber meiner Braut, und es war
der Zweck meines jetzigen Besuchs, in dieser Hinsicht auf Sie ein-
zuwirken. Jhre Tochter -- Sie können es selbst erkennen, wenn Sie
aufmerksam darauf sein werden -- ist in Folge der Abgesperrtheit
und Zurückgezogenheit, in der Sie leben, krank geworden. Es gehört
nun einmal, und besonders für ein jugendliches Wesen, zur Erhaltung
der Gesundheit die frische Luft, eine hinreichende Bewegung und der
Umgang mit den Menschen. An allem diesem hat es Jhrer Tochter
bis jetzt gefehlt, und diese Bedingungen sind nothwendig, um sie
wieder vollständig gesund zu machen."

Der Vater hatte sich nach dem Fenster gekehrt und dem Arzt den
Rücken gewandt, so lange er sprach. Jetzt drehte er sich hastig um
und rief mit lebhafter Bewegung aus:

"Glauben Sie, daß ich meine Pflichten versäume? Habe ich sie
etwa krank gemacht? Es hat ihr an nichts gefehlt, so lange wir hier
sind, und jeder ihrer Wünsche ist erfüllt worden. Daß ich mit ihr
nicht unter die Menschen gehe, dazu habe ich Grund genug. Einst,
als ich noch jung war, habe ich solchen Einflüsterungen Gehör ge-
geben, und die Folgen davon habe ich schwer genug büßen müssen.
Nein, mein Herr, das Mädchen soll unter meiner Aufsicht bleiben,
und wenn sie verständig ist, wird sie sich in dies Leben zu fügen
wissen."

Jn Ludwig stieg immer mehr der Unwille auf.

"Wenn Sie", sagte er, "es mit einem gesunden Menschen zu thun
haben, so mögen Sie ihn auf seine Willenskraft verweisen, auch Un-
angenehmes geduldig zu ertragen; Jhre Tochter aber ist krank ge-
wesen und noch nicht hergestellt, und ich wiederhole es Jhnen, daß
sie der Erholung und der geistigen Erfrischung mehr denn je bedarf.
Entziehen Sie ihr diese, nun -- Sie haben die Verantwortung dafür
zu tragen. Meine Pflicht als Arzt ist hier zu Ende."

Er war aufgestanden. Helene war in ihrem Stuhl zusammen-
gesunken, und als Marie sie aufrichtete und zum Abschied küßte,
blickten sie die Augen aus dem todesmatten Gesicht thränenleer an.

Am nächsten Morgen erhielt der Arzt einen Brief, worin mit-
getheilt war, daß der Vater darein willige, seine Tochter auf einige
Wochen bei seiner Braut verweilen zu lassen. Es dauerte mehrere
Tage, bis Helene, welche einen Rückfall gehabt hatte, im Stande
war, das Bett wieder zu verlassen. Dann wurde sie von dem Arzt
in einem Wagen hinausgeführt und von Marie auf das freundlichste
empfangen.

V.

Der Frühling war diesmal über Nacht gekommen. Einige Tage
lang goß der Regen; dann sprangen plötzlich alle Hüllen, und
überall begann es in der Natur lebendig zu werden. Der helle
Sonnenschein sah lächelnd hinein in die kleinen grünen Blättchen der
Gebüsche, lag ausgebreitet über den sprossenden Wiesen; und mochten
auch die Bäume noch ihre kahlen Aeste herausstrecken -- wer sah heut
hinauf zu ihnen, da so Vieles unten auf dem Boden zu schauen war,
von den Thieren, die sich aus ihren Verstecken hervorwagten, bis zu
den Menschen, welche aus ihren Winterhütten herauskamen, die neue
schaffende Kraft einzuathmen?

Jm Garten des Banquiers saßen in einer traulichen Ecke um
einen Tisch herum die uns bekannten Gestalten. Es war nach dem
Mittagessen, und man hatte es vorgezogen, den Kaffee im Freien zu
trinken. Marie machte die Wirthin und ließ sich von ihrem Bräu-
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] das feine Gesicht derselben, welches durch die Anstrengung des Spre-
chens leicht geröthet war. Er blieb ruhig und wartete, ob sie nicht
weiter fortfahren würde; denn noch immer war ihm nicht klar, was
den Vater zu einer so schädlichen Abschließung bewege. Er wollte eben
eine Frage an sie richten, als er das leise Oeffnen der Thür vernahm.
Die Haushälterin trat ein und ging schweigend nach der andern Seite
des Zimmers. Da er voraussah, sie würden nicht weiter ungestört
sprechen können, erhob er sich rasch, und in ruhigem, kaltem Ton
empfahl er ihr Ruhe und versprach, in den nächsten Tagen zurück-
zukehren. Als er auf der Straße den Weg zu seiner Braut nahm,
kam ihm das größte Mitleid über das arme Geschöpf, welches hier
verkümmere. Er sah wohl ein, daß ihr nur geholfen werden konnte,
wenn sie aus dieser Umgebung fortgenommen würde; aber dies zu
bewerkstelligen hatte er, der Arzt, keine Macht.

Voll von diesen Gedanken, kam er zu seiner Braut und erzählte
dieser von seiner Patientin und der Unterredung, welche er mit ihr
gehabt hatte. Zartfühlend, wie Marie war, kamen ihr die Thränen
in die Augen, als sie das Schicksal des Mädchens hörte, und lebhaft
besprach sie, wie eine Verbesserung desselben möglich sei. Dann mit
einem Mal flog sie von ihrem Sitz auf, klatschte in die Hände und
rief freudig aus:

„Jetzt weiß ich, was wir thun können. Jch nehme sie zu mir in
das Haus. Hier in der frischen Luft wird sie am ehesten gesund
werden. Mein Vater hat sicherlich nichts dagegen, wenn ich sie mir
zur Gesellschaft ausbitte. Meinst Du nicht, daß dies das Beste
sein wird?“

Dabei legte sie ihren Arm um den Hals des Verlobten und sah
fragend in sein Gesicht. Dieser war von dem Gedanken überrascht;
aber es bedurfte nur kurzer Zeit, um ihn von der Unausführbarkeit
zu überzeugen.

„Wenn auch Dein Vater es zugiebt, so wird es der ihrige sicher
nicht thun. Hat er sie bisher von aller Welt abgeschlossen, so
wird er sie auch jetzt nicht in fremde Hände geben wollen. Dazu
werden wir ihn nie zu überreden vermögen. Und dann, welche Last
willst Du Dir selbst aufbürden? Ein kränkliches Mädchen immer um
sich zu haben, ist wahrlich kein Vergnügen.“

Aber Marie gab nicht nach.

„Mag sein, daß es eine Last ist, aber ich gewinne mir dadurch
eine Freundin. Und im Hause ist es so einsam, wenn Du nicht hier
bist. Heut habe ich den Vater noch gar nicht gesehen.“

„Mir gefällt, offen gestanden, der Plan nicht“, antwortete er,
„so gern ich auch das Mädchen anderswo untergebracht sehen möchte.
Wir würden immer eine fremde Person um uns leiden müssen, nie-
mals mehr frei und ungestört einander gegenüber stehen.“

„Aber Ludwig, wer wird uns daran hindern wollen? Wie Du sie
schilderst, ist sie zartfühlend genug, sich nicht störend zwischen zwei
Verlobte schieben zu wollen. Wenigstens“, fuhr sie nach einigem Be-
sinnen fort, „will ich sie einmal sehen und sprechen, und mit dem
Vater werde ich auch darüber reden. Wann willst Du mich zu ihr
führen?“

Dagegen hatte er nichts einzuwenden. Bereits am nächsten Tage
standen sie zusammen vor dem Hause, und Marie sah mit Mitleid
auf die dicht verhüllten Fenster. Jn der Stube trafen sie Helene mit
ihrem Vater. Beide empfingen sie mit schlecht verhehlter Verwun-
derung. Ludwig stellte seine Braut vor und erklärte den Zweck ihres
Kommens und die Theilnahme, welche seine Braut für die Kranke hege.
Helene hielt ihren Kopf gesenkt, und als Marie auf sie zutrat und
ihre Hand nahm und sie zwang, sich auf ihren Stuhl wieder nieder-
zulassen, schluchzte sie laut auf. Der Vater aber dankte mit kühlen
Worten für die Theilnahme. Marie ließ sich jedoch nicht einschüch-
tern; sie setzte sich zu dem Mädchen und begann munter zu erzählen,
wie ihr Bräutigam von Helene oft gesprochen habe und daß er ihr
habe versprechen müssen, sie, sobald es möglich sei, zu ihr zu führen.
Bald war ein Gespräch zwischen den beiden Mädchen im Gang;
Helene mußte von ihrer Krankheit erzählen; sie that es schüchtern. Marie
hörte voll Theilnahme zu und unterbrach sie oft mit ihren Fragen;
dabei öffnete sie die Fenstervorhänge und befestigte sie auf den Seiten,
so daß die Wintersonne ihre schwachen Strahlen in das Zimmer
senden konnte. Der Vater sah mißmüthig dem zu und stand mit
gekreuzten Armen am nächsten Fenster. Der Doktor wurde unruhig,
als er aus den Bemerkungen seiner Braut vernahm, daß sie ihre
Absicht laut werden lassen wolle. Aber dennoch gewann er es nicht
über sich, sie zu unterbrechen. Jetzt, in der Krankenstube, hatte wieder
das Mitleid die Oberhand gewonnen, und er meinte es darauf an-
kommen lassen zu dürfen, ob der Vater einwilligen werde.

„Sie können aber nicht gesund werden, wenn Sie hier bleiben“,
unterbrach Marie plötzlich das Gespräch. „Jn dieser engen Straße
sieht man ja kaum das Tageslicht, und das Zimmer ist so unfreundlich,
so dunkel. Kommen Sie zu mir heraus in unser Haus. Ja, Helene,
ich biete es Jhnen an, verlassen Sie Jhren Vater auf einige Wochen
und ziehen Sie zu mir; wir haben vor der Stadt ein freundliches
[Spaltenumbruch] Häuschen, dort können Sie frische Luft schöpfen. Und bald wird
es Frühling werden. Sie werden sehen, wie bald Jhre Gesundheit
wiederkehrt.“

Helene war erschrocken über dies Anerbieten, das sie, wie sie
ahnte, dem Arzt zu verdanken hatte; sie wandte sich halb nach dem
Vater um und wagte doch nicht, ihn anzusehen. Endlich — sie war
gezwungen, etwas zu erwidern — stieß sie mühsam hervor, daß es
nicht angehe, in ein fremdes Haus zu kommen.

„Sie sollen dieselbe Pflege, wie hier, finden“, fiel Marie ein; „es
soll Jhnen nichts fehlen. Platz genug haben wir. Mein Vater und
ich wohnen allein in dem großen Gebäude, und ich habe Zeit genug,
mit Jhnen mich zu beschäftigen und immer nachzusehen, daß Alles so
ist, wie Sie es wünschen.“

„Nein“, schüttelte Helene mit dem Kopf, „ich bin Jhnen sehr
dankbar, aber —“

„Meine Tochter“, unterbrach hier der Vater mit stolzer Stimme,
„ist am besten bei mir aufgehoben; ich habe nicht nöthig, sie bei
fremden Leuten unterzubringen.“

Die kalte Art, wie diese Worte gesprochen waren, verletzte Ludwig
auf das stärkste; er glaubte seiner Braut, die erschrocken aufgesprungen
war, zu Hülfe kommen zu müssen.

„Verzeihen Sie, mein Herr“, wandte er sich an den Vater, „wenn
meine Braut etwas voreilig Jhnen ein Anerbieten machte, das so
tief in Jhre Verhältnisse eingreift. Es ist übrigens die Folge einer
Aeußerung von meiner Seite, gegenüber meiner Braut, und es war
der Zweck meines jetzigen Besuchs, in dieser Hinsicht auf Sie ein-
zuwirken. Jhre Tochter — Sie können es selbst erkennen, wenn Sie
aufmerksam darauf sein werden — ist in Folge der Abgesperrtheit
und Zurückgezogenheit, in der Sie leben, krank geworden. Es gehört
nun einmal, und besonders für ein jugendliches Wesen, zur Erhaltung
der Gesundheit die frische Luft, eine hinreichende Bewegung und der
Umgang mit den Menschen. An allem diesem hat es Jhrer Tochter
bis jetzt gefehlt, und diese Bedingungen sind nothwendig, um sie
wieder vollständig gesund zu machen.“

Der Vater hatte sich nach dem Fenster gekehrt und dem Arzt den
Rücken gewandt, so lange er sprach. Jetzt drehte er sich hastig um
und rief mit lebhafter Bewegung aus:

„Glauben Sie, daß ich meine Pflichten versäume? Habe ich sie
etwa krank gemacht? Es hat ihr an nichts gefehlt, so lange wir hier
sind, und jeder ihrer Wünsche ist erfüllt worden. Daß ich mit ihr
nicht unter die Menschen gehe, dazu habe ich Grund genug. Einst,
als ich noch jung war, habe ich solchen Einflüsterungen Gehör ge-
geben, und die Folgen davon habe ich schwer genug büßen müssen.
Nein, mein Herr, das Mädchen soll unter meiner Aufsicht bleiben,
und wenn sie verständig ist, wird sie sich in dies Leben zu fügen
wissen.“

Jn Ludwig stieg immer mehr der Unwille auf.

„Wenn Sie“, sagte er, „es mit einem gesunden Menschen zu thun
haben, so mögen Sie ihn auf seine Willenskraft verweisen, auch Un-
angenehmes geduldig zu ertragen; Jhre Tochter aber ist krank ge-
wesen und noch nicht hergestellt, und ich wiederhole es Jhnen, daß
sie der Erholung und der geistigen Erfrischung mehr denn je bedarf.
Entziehen Sie ihr diese, nun — Sie haben die Verantwortung dafür
zu tragen. Meine Pflicht als Arzt ist hier zu Ende.“

Er war aufgestanden. Helene war in ihrem Stuhl zusammen-
gesunken, und als Marie sie aufrichtete und zum Abschied küßte,
blickten sie die Augen aus dem todesmatten Gesicht thränenleer an.

Am nächsten Morgen erhielt der Arzt einen Brief, worin mit-
getheilt war, daß der Vater darein willige, seine Tochter auf einige
Wochen bei seiner Braut verweilen zu lassen. Es dauerte mehrere
Tage, bis Helene, welche einen Rückfall gehabt hatte, im Stande
war, das Bett wieder zu verlassen. Dann wurde sie von dem Arzt
in einem Wagen hinausgeführt und von Marie auf das freundlichste
empfangen.

V.

Der Frühling war diesmal über Nacht gekommen. Einige Tage
lang goß der Regen; dann sprangen plötzlich alle Hüllen, und
überall begann es in der Natur lebendig zu werden. Der helle
Sonnenschein sah lächelnd hinein in die kleinen grünen Blättchen der
Gebüsche, lag ausgebreitet über den sprossenden Wiesen; und mochten
auch die Bäume noch ihre kahlen Aeste herausstrecken — wer sah heut
hinauf zu ihnen, da so Vieles unten auf dem Boden zu schauen war,
von den Thieren, die sich aus ihren Verstecken hervorwagten, bis zu
den Menschen, welche aus ihren Winterhütten herauskamen, die neue
schaffende Kraft einzuathmen?

Jm Garten des Banquiers saßen in einer traulichen Ecke um
einen Tisch herum die uns bekannten Gestalten. Es war nach dem
Mittagessen, und man hatte es vorgezogen, den Kaffee im Freien zu
trinken. Marie machte die Wirthin und ließ sich von ihrem Bräu-
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[162/0002] 162 das feine Gesicht derselben, welches durch die Anstrengung des Spre- chens leicht geröthet war. Er blieb ruhig und wartete, ob sie nicht weiter fortfahren würde; denn noch immer war ihm nicht klar, was den Vater zu einer so schädlichen Abschließung bewege. Er wollte eben eine Frage an sie richten, als er das leise Oeffnen der Thür vernahm. Die Haushälterin trat ein und ging schweigend nach der andern Seite des Zimmers. Da er voraussah, sie würden nicht weiter ungestört sprechen können, erhob er sich rasch, und in ruhigem, kaltem Ton empfahl er ihr Ruhe und versprach, in den nächsten Tagen zurück- zukehren. Als er auf der Straße den Weg zu seiner Braut nahm, kam ihm das größte Mitleid über das arme Geschöpf, welches hier verkümmere. Er sah wohl ein, daß ihr nur geholfen werden konnte, wenn sie aus dieser Umgebung fortgenommen würde; aber dies zu bewerkstelligen hatte er, der Arzt, keine Macht. Voll von diesen Gedanken, kam er zu seiner Braut und erzählte dieser von seiner Patientin und der Unterredung, welche er mit ihr gehabt hatte. Zartfühlend, wie Marie war, kamen ihr die Thränen in die Augen, als sie das Schicksal des Mädchens hörte, und lebhaft besprach sie, wie eine Verbesserung desselben möglich sei. Dann mit einem Mal flog sie von ihrem Sitz auf, klatschte in die Hände und rief freudig aus: „Jetzt weiß ich, was wir thun können. Jch nehme sie zu mir in das Haus. Hier in der frischen Luft wird sie am ehesten gesund werden. Mein Vater hat sicherlich nichts dagegen, wenn ich sie mir zur Gesellschaft ausbitte. Meinst Du nicht, daß dies das Beste sein wird?“ Dabei legte sie ihren Arm um den Hals des Verlobten und sah fragend in sein Gesicht. Dieser war von dem Gedanken überrascht; aber es bedurfte nur kurzer Zeit, um ihn von der Unausführbarkeit zu überzeugen. „Wenn auch Dein Vater es zugiebt, so wird es der ihrige sicher nicht thun. Hat er sie bisher von aller Welt abgeschlossen, so wird er sie auch jetzt nicht in fremde Hände geben wollen. Dazu werden wir ihn nie zu überreden vermögen. Und dann, welche Last willst Du Dir selbst aufbürden? Ein kränkliches Mädchen immer um sich zu haben, ist wahrlich kein Vergnügen.“ Aber Marie gab nicht nach. „Mag sein, daß es eine Last ist, aber ich gewinne mir dadurch eine Freundin. Und im Hause ist es so einsam, wenn Du nicht hier bist. Heut habe ich den Vater noch gar nicht gesehen.“ „Mir gefällt, offen gestanden, der Plan nicht“, antwortete er, „so gern ich auch das Mädchen anderswo untergebracht sehen möchte. Wir würden immer eine fremde Person um uns leiden müssen, nie- mals mehr frei und ungestört einander gegenüber stehen.“ „Aber Ludwig, wer wird uns daran hindern wollen? Wie Du sie schilderst, ist sie zartfühlend genug, sich nicht störend zwischen zwei Verlobte schieben zu wollen. Wenigstens“, fuhr sie nach einigem Be- sinnen fort, „will ich sie einmal sehen und sprechen, und mit dem Vater werde ich auch darüber reden. Wann willst Du mich zu ihr führen?“ Dagegen hatte er nichts einzuwenden. Bereits am nächsten Tage standen sie zusammen vor dem Hause, und Marie sah mit Mitleid auf die dicht verhüllten Fenster. Jn der Stube trafen sie Helene mit ihrem Vater. Beide empfingen sie mit schlecht verhehlter Verwun- derung. Ludwig stellte seine Braut vor und erklärte den Zweck ihres Kommens und die Theilnahme, welche seine Braut für die Kranke hege. Helene hielt ihren Kopf gesenkt, und als Marie auf sie zutrat und ihre Hand nahm und sie zwang, sich auf ihren Stuhl wieder nieder- zulassen, schluchzte sie laut auf. Der Vater aber dankte mit kühlen Worten für die Theilnahme. Marie ließ sich jedoch nicht einschüch- tern; sie setzte sich zu dem Mädchen und begann munter zu erzählen, wie ihr Bräutigam von Helene oft gesprochen habe und daß er ihr habe versprechen müssen, sie, sobald es möglich sei, zu ihr zu führen. Bald war ein Gespräch zwischen den beiden Mädchen im Gang; Helene mußte von ihrer Krankheit erzählen; sie that es schüchtern. Marie hörte voll Theilnahme zu und unterbrach sie oft mit ihren Fragen; dabei öffnete sie die Fenstervorhänge und befestigte sie auf den Seiten, so daß die Wintersonne ihre schwachen Strahlen in das Zimmer senden konnte. Der Vater sah mißmüthig dem zu und stand mit gekreuzten Armen am nächsten Fenster. Der Doktor wurde unruhig, als er aus den Bemerkungen seiner Braut vernahm, daß sie ihre Absicht laut werden lassen wolle. Aber dennoch gewann er es nicht über sich, sie zu unterbrechen. Jetzt, in der Krankenstube, hatte wieder das Mitleid die Oberhand gewonnen, und er meinte es darauf an- kommen lassen zu dürfen, ob der Vater einwilligen werde. „Sie können aber nicht gesund werden, wenn Sie hier bleiben“, unterbrach Marie plötzlich das Gespräch. „Jn dieser engen Straße sieht man ja kaum das Tageslicht, und das Zimmer ist so unfreundlich, so dunkel. Kommen Sie zu mir heraus in unser Haus. Ja, Helene, ich biete es Jhnen an, verlassen Sie Jhren Vater auf einige Wochen und ziehen Sie zu mir; wir haben vor der Stadt ein freundliches Häuschen, dort können Sie frische Luft schöpfen. Und bald wird es Frühling werden. Sie werden sehen, wie bald Jhre Gesundheit wiederkehrt.“ Helene war erschrocken über dies Anerbieten, das sie, wie sie ahnte, dem Arzt zu verdanken hatte; sie wandte sich halb nach dem Vater um und wagte doch nicht, ihn anzusehen. Endlich — sie war gezwungen, etwas zu erwidern — stieß sie mühsam hervor, daß es nicht angehe, in ein fremdes Haus zu kommen. „Sie sollen dieselbe Pflege, wie hier, finden“, fiel Marie ein; „es soll Jhnen nichts fehlen. Platz genug haben wir. Mein Vater und ich wohnen allein in dem großen Gebäude, und ich habe Zeit genug, mit Jhnen mich zu beschäftigen und immer nachzusehen, daß Alles so ist, wie Sie es wünschen.“ „Nein“, schüttelte Helene mit dem Kopf, „ich bin Jhnen sehr dankbar, aber —“ „Meine Tochter“, unterbrach hier der Vater mit stolzer Stimme, „ist am besten bei mir aufgehoben; ich habe nicht nöthig, sie bei fremden Leuten unterzubringen.“ Die kalte Art, wie diese Worte gesprochen waren, verletzte Ludwig auf das stärkste; er glaubte seiner Braut, die erschrocken aufgesprungen war, zu Hülfe kommen zu müssen. „Verzeihen Sie, mein Herr“, wandte er sich an den Vater, „wenn meine Braut etwas voreilig Jhnen ein Anerbieten machte, das so tief in Jhre Verhältnisse eingreift. Es ist übrigens die Folge einer Aeußerung von meiner Seite, gegenüber meiner Braut, und es war der Zweck meines jetzigen Besuchs, in dieser Hinsicht auf Sie ein- zuwirken. Jhre Tochter — Sie können es selbst erkennen, wenn Sie aufmerksam darauf sein werden — ist in Folge der Abgesperrtheit und Zurückgezogenheit, in der Sie leben, krank geworden. Es gehört nun einmal, und besonders für ein jugendliches Wesen, zur Erhaltung der Gesundheit die frische Luft, eine hinreichende Bewegung und der Umgang mit den Menschen. An allem diesem hat es Jhrer Tochter bis jetzt gefehlt, und diese Bedingungen sind nothwendig, um sie wieder vollständig gesund zu machen.“ Der Vater hatte sich nach dem Fenster gekehrt und dem Arzt den Rücken gewandt, so lange er sprach. Jetzt drehte er sich hastig um und rief mit lebhafter Bewegung aus: „Glauben Sie, daß ich meine Pflichten versäume? Habe ich sie etwa krank gemacht? Es hat ihr an nichts gefehlt, so lange wir hier sind, und jeder ihrer Wünsche ist erfüllt worden. Daß ich mit ihr nicht unter die Menschen gehe, dazu habe ich Grund genug. Einst, als ich noch jung war, habe ich solchen Einflüsterungen Gehör ge- geben, und die Folgen davon habe ich schwer genug büßen müssen. Nein, mein Herr, das Mädchen soll unter meiner Aufsicht bleiben, und wenn sie verständig ist, wird sie sich in dies Leben zu fügen wissen.“ Jn Ludwig stieg immer mehr der Unwille auf. „Wenn Sie“, sagte er, „es mit einem gesunden Menschen zu thun haben, so mögen Sie ihn auf seine Willenskraft verweisen, auch Un- angenehmes geduldig zu ertragen; Jhre Tochter aber ist krank ge- wesen und noch nicht hergestellt, und ich wiederhole es Jhnen, daß sie der Erholung und der geistigen Erfrischung mehr denn je bedarf. Entziehen Sie ihr diese, nun — Sie haben die Verantwortung dafür zu tragen. Meine Pflicht als Arzt ist hier zu Ende.“ Er war aufgestanden. Helene war in ihrem Stuhl zusammen- gesunken, und als Marie sie aufrichtete und zum Abschied küßte, blickten sie die Augen aus dem todesmatten Gesicht thränenleer an. Am nächsten Morgen erhielt der Arzt einen Brief, worin mit- getheilt war, daß der Vater darein willige, seine Tochter auf einige Wochen bei seiner Braut verweilen zu lassen. Es dauerte mehrere Tage, bis Helene, welche einen Rückfall gehabt hatte, im Stande war, das Bett wieder zu verlassen. Dann wurde sie von dem Arzt in einem Wagen hinausgeführt und von Marie auf das freundlichste empfangen. V. Der Frühling war diesmal über Nacht gekommen. Einige Tage lang goß der Regen; dann sprangen plötzlich alle Hüllen, und überall begann es in der Natur lebendig zu werden. Der helle Sonnenschein sah lächelnd hinein in die kleinen grünen Blättchen der Gebüsche, lag ausgebreitet über den sprossenden Wiesen; und mochten auch die Bäume noch ihre kahlen Aeste herausstrecken — wer sah heut hinauf zu ihnen, da so Vieles unten auf dem Boden zu schauen war, von den Thieren, die sich aus ihren Verstecken hervorwagten, bis zu den Menschen, welche aus ihren Winterhütten herauskamen, die neue schaffende Kraft einzuathmen? Jm Garten des Banquiers saßen in einer traulichen Ecke um einen Tisch herum die uns bekannten Gestalten. Es war nach dem Mittagessen, und man hatte es vorgezogen, den Kaffee im Freien zu trinken. Marie machte die Wirthin und ließ sich von ihrem Bräu-

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 21. Berlin, 24. Mai 1868, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt21_1868/2>, abgerufen am 06.06.2024.