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Sonntags-Blatt. Nr. 18. Berlin, 3. Mai 1868.

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[Beginn Spaltensatz] heit den verlockenden Bissen zu sich nahm. Doch entsetzliche Ueber-
raschung! Es war ein saurer, verrätherischer Bissen! Sein Gesicht
zuckte plötzlich zusammen und schnitt die wunderlichsten Grimassen;
kaum vermochte er noch, die in seinen Händen befindlichen Jn-
strumente zu erhalten, um nicht mit den Fingern das höllische Kraut
von sich zu werfen. Vergeblich würgte er, um dasselbe zu verschlucken,
allein es schien unmöglich. Sein ganzer Körper schüttelte sich, und
seine Augen schwammen in Wasser, bis es endlich einer letzten An-
strengung gelang, mit etwas Kumis das fürchterliche Gras hinter
zu spülen.

"O welch ein entsetzliches Gras! Und das esset Jhr und die Leute
in Eurem Lande?" seufzte er.

"Ja, und sie lieben es mehr, als den süßesten Honig!" erwiderte ich.

Er schüttelte sich nochmals.

"Seltsames Volk! Es scheint gut zu sein, und ich könnte es lieben;
aber dennoch möchte ich dort nicht wohnen, wo die Menschen so etwas
genießen können!" sagte er.

Sollte ich noch eine andere Schwäche nennen, die den Baschkiren
und andere Bewohner der Steppe eben so sehr auszeichnet, wie
seine leidenschaftliche Vorliebe für einzelne Nährstoffe, so wäre es das
mangelhafte Verständniß für die Begriffe von Mein und Dein; allein
die Verwechslung derselben begegnet ihm nur dem Ungläubigen gegen-
über, dessen Eigenthum ihm für nichts weniger als heilig gilt, weß-
halb er auch kein Vergehen darin findet, dasselbe auf jede mögliche
Weise an sich zu bringen. Viel seltener dagegen zeigt sich diese Be-
griffsverwirrung seinen eigenen Glaubens= und Stammesgenossen gegen-
über. Jnsofern aber schon das Gesetz einen an den Christen ver-
übten Diebstahl entschuldigt, um so mehr mahnt dies den Richter
zur Milde, um so strafloser bleibt der harmlose Uebelthäter.

Es ist daher natürlich und erklärlich, daß sie bei solchen Be-
griffen über Recht und Unrecht sich frei und offen und auf die
drolligste Weise zu den verschiedenartigsten Diebstählen bekennen,
auf die naivste Manier sich gegenseitig und Andere damit unter-
halten und in die lebendigste Freude ausbrechen, wenn sie die
dabei entwickelte Schlauheit zum Besten geben. Es ist daher auch
selbstverständlich, daß es dem Baschkiren keine Unruhe und Skrupel
verursacht, ein Dieb gescholten zu werden, und weit davon entfernt,
darin eine Beleidigung zu finden oder zu einer Kriminal=Untersuchung
Veranlassung zu geben, nimmt er es vielmehr mit Ergötzen hin und
erblickt darin eine schmeichelhafte Anerkennung seiner Talente.

Jch selbst bin sehr oft Zeuge gewesen, daß sich sogar hochgestellte
Russen der Baschkiren bedienten, um sich in Besitz von Sachen und
Dingen zu setzen, die nicht anders als mit Hülfe jener zu erreichen
waren, von denen dann die gewünschten Gegenstände gekauft werden.
Jch erinnere mich hier noch an einen Handel, der zwischen einem
hochgestellten russischen General und einem Baschkiren stattfand, und
bei welchem Letzterer mit glühenden Worten und hinreißender Be-
geisterung alle die Schwierigkeiten schilderte, die er bestanden, und die
Klugheit, die er habe entwickeln müssen, um den listigen und wach-
samen Gegner zu täuschen, daher der geforderte Preis wohl als ge-
rechtfertigt und nicht zu hoch gegriffen erscheinen möchte. Der Käufer
resp. der General dennoch handelnd, tadelte die Beschaffenheit der Waare
und hielt es nicht für unmöglich, daß dieselben Sachen, die er jetzt
zu kaufen im Begriff stehe, auf seinem eigenen Revier gestohlen seien.

"Herr", sagte der Baschkire entrüstet, "Du tadelst noch? Was ist
das für eine Sprache, die Du führst! Denkst Du etwa, daß mir da,
wo ich die Sachen nahm, noch eine große Wahl blieb? Man hat
uns wie die Wölfe abgehetzt, ehe wir der Sachen habhaft werden
und die schlaue Kanaille betrügen konnten. Wenn Du aber meinst,
daß ich dieselben auf Deinem Revier entnommen habe, so muß ich
Dir sagen: Wenn Du nur solche hättest! Du weißt aber wohl, daß
Du keine hast!"

Der General bewilligte hierauf den verlangten Preis.

Wie harmlos der schlichte Bewohner der Steppe über Handlun-
gen denkt und urtheilt, die hier zu den Verbrechen zählen würden,
und wie unendlich weit seine Ansichten über Ehre und Unehre von
den unsrigen sich entfernen, dafür möchte noch folgende Scene als
Beispiel dienen.

" Salem aleikum!" Mit diesem Gruß führten sich eines Tages
zwei Baschkiren bei mir ein, von denen der Eine blind war, um mich
zu ersuchen, ihnen eine Anstellung zu bewilligen. "Jch bin nicht
allein, Wasili Karlowitsch, wenn Du der bist; ein Kamerad ist bei
mir", fügte er zu seiner Empfehlung hinzu.

Jch bedauerte, auf seine Wünsche nicht eingehen zu können, da er
blind sei, mit welcher Erklärung er sich jedoch nicht befriedigte.

"Herr, es ist nöthig, zu probiren! Jch sehe wohl etwas schlecht,
aber ich fühle desto besser. Außerdem will ich weniger arbeiten, ich
suche vielmehr eine etwas bessere Stelle.

Jch erklärte jedoch, daß ich nur Arbeiter brauche.

"Herr, Du bist dumm, sehr dumm und nicht werth, daß man
[Spaltenumbruch] Dir helfen will", versicherte er sehr ruhig; "aber dennoch laß uns
ein ehrlich Wort mit einander reden, ich will Dir nützlich sein!"

Unter solchen Umständen konnte es allerdings nicht ausbleiben,
daß er mein Jnteresse für sich gewann, so daß ich ihn aufforderte,
sich näher zu erklären.

"Das ist ein Wort, das sich hören läßt!" sagte er befriedigt,
gleichzeitig mittheilend, daß er von meinem Arbeitermangel unter-
richtet sei.

Jch mußte zugestehen, daß er nicht falsch berichtet worden sei.

"Nun ich weiß es; aber Du selbst trägst die Schuld und wirst
nie ein günstigeres Ergebniß erzielen, wenn Du nicht meine Hülfe
annimmst, die ich Dir anbiete", betheuerte er.

Jn einem fremden Lande und unter einem fremden Volke ist auch
zuweilen der Rath des schlichtesten Menschen kostbar, so daß ich den
seltsamen Gast aufforderte, mich zu belehren.

"Hast Du denn nie darüber nachgedacht, wie dem Uebel ab-
zuhelfen wäre?" fragte er, sichtbar geschmeichelt; während ich dies
zugestehen mußte, ohne das Mißverhältniß ändern zu können.

"Hm! Sieh da, Herr! So wirst Du es auch nie abändern, wenn
Du meinen Rath verschmähst. Du mußt vor allen Dingen einen
Obmantschik ( d. h. Betrüger ) engagiren, denn ohne Betrüger kannst
Du nicht fertig werden!"

"Du sprichst nicht übel", erwiderte ich zustimmend; "aber wo
nehme ich einen solchen Menschen her, der dieses Amt würdig aus-
füllen würde?"

"Nun, siehst Du, da sind wir an dem Punkt! Dazu bin ich ge-
kommen. Gieb mir die Stelle, Du wirst mit mir zufrieden sein!"
versicherte er.

( Schluß folgt. )



Die Nähmaschinen=Jndustrie.
( Schluß. )

Um nun noch einmal zum Erfinder der Nähmaschine zurückzukehren,
so sei bemerkt, daß Howe auch in neuerer Zeit sein Werk vielfach streitig
gemacht ist; man hat es namentlich bei uns versucht, die Nähmaschine als
eine speziell deutsche Erfindung hinzustellen. Aehnliche Behauptungen
mögen in anderen Fällen, wo das Ausland vermöge unserer eigenen
Stumpfheit uns die Priorität von Erfindungen geschickt aus der Hand
manövrirte, ihre volle Berechtigung haben; bei der Nähmaschine geht man
damit sicher etwas zu weit. Richtig ist allerdings, daß seit Erfindung und
Vervollkommnung der englischen Spinn= und Webentaschinen die Näh-
maschinen=Jdee schon lange vor Howe in manchen Köpfen spukte, und
zwar zuerst in deutschen, denn schon 1750 hat man in Wien mit einem
der Nähmaschine etwas ähnlich scheinenden Jnstrument Versuche angestellt,
und 1807 beschäftigte sich damit ein Schneidermeister Madersperger aus
Tyrol; doch sind beide Versuche völlig mißglückt und vergessen worden.
Ebenso erging es mit einem 1804 in Frankreich gemachten Versuch, wo-
gegen ein 1830 von dem Schneider Thimonier in Frankreich mit einer Art
mechanisch bewegter Häkelnadeln gemachtes Experiment schon etwas näher
zum Ziel führte. Dies Jnstrument wurde aber von den aufsässigen Ar-
beitern total zerstört und Thimonier die Lust zu ferneren Versuchen be-
nommen. Endlich sind auch die Versuche der Amerikaner Walther Hunt,
J. J. Grenough und B. W. Bean, obgleich in den Jahren 1834, 1842
und 1843 patentirt, gänzlich verfehlt und niemals praktisch zur Anwendung
gekommen. Howe's Arbeiten fanden zwar wahrscheinlich in den Hunt'schen
Jdeen einigen Anhalt, sein Hauptleiter war jedoch die Webemaschine,
welche ihn auf die Anwedung des Webeschiffchens führte. Hiermit hatte
er den einzig richtigen Weg gefunden, auf dem er zur Konstruktion einer
brauchbaren Maschine gelangen konnte. Heut hat diese Einrichtung freilich
bei den meisten Maschinen der viel einfacheren Spule Platz gemacht; bei
den starken Maschinen für schwere Leder= und Tucharbeit, wie sie ins-
besondere Howe bis zu seinem Tode gebaut hat, wird sie aber auch jetzt
noch vielfach angewandt.

Will man sich von dem rapiden Aufschwung der Nähmaschinen=Jndustrie
ein klares Bild machen, so darf man, wie schon im Eingang bemerkt,
leider Deutschland noch lange nicht in den Vordergrund stellen, auch dann
nicht, wenn man erwägt, daß hier vor circa zwölf Jahren die Näh-
maschine eine solche Rarität war, daß sie selbst auf den Jahrmärkten
großer Städte in den Schaubuden für Geld gezeigt wurde, und daß
Deutschland trotzdem unter seinen, Ende vorigen Jahres bestehenden neun-
hundert Fabriken bereits hundertundfünfzig für Nähmaschinen zählte. Unter
diesen haben sich namentlich drei einen ehrenvollen Namen gemacht, nämlich
die des Fabrikanten Böck zu Berlin, des Mechanikers Hoffmann zu Leipzig,
welcher ein eigenes System dafür erfand, das meistens zur Arbeit im
Stehen eingerichtet ist, und die weitverbreitete Fabrik von Pollac und
Schmidt in Hamburg, durch welche gleichfalls mehrfache Verbesserungen
und Erleichterungen eingeführt wurden. Ueberhaupt hat die Nähmaschine
bis heut circa achthundert verschiedene Systeme aufzuweisen. Selbst das
produktive und gewerbfleißige England muß in dieser Beziehung weit
zurücktreten hinter die Riesenfortschritte Nord=Amerika's. Deutschland kann
sicherlich nicht, England wohl kaum mit der einzigen Stadt New=York
[Ende Spaltensatz]

[Beginn Spaltensatz] heit den verlockenden Bissen zu sich nahm. Doch entsetzliche Ueber-
raschung! Es war ein saurer, verrätherischer Bissen! Sein Gesicht
zuckte plötzlich zusammen und schnitt die wunderlichsten Grimassen;
kaum vermochte er noch, die in seinen Händen befindlichen Jn-
strumente zu erhalten, um nicht mit den Fingern das höllische Kraut
von sich zu werfen. Vergeblich würgte er, um dasselbe zu verschlucken,
allein es schien unmöglich. Sein ganzer Körper schüttelte sich, und
seine Augen schwammen in Wasser, bis es endlich einer letzten An-
strengung gelang, mit etwas Kumis das fürchterliche Gras hinter
zu spülen.

„O welch ein entsetzliches Gras! Und das esset Jhr und die Leute
in Eurem Lande?“ seufzte er.

„Ja, und sie lieben es mehr, als den süßesten Honig!“ erwiderte ich.

Er schüttelte sich nochmals.

„Seltsames Volk! Es scheint gut zu sein, und ich könnte es lieben;
aber dennoch möchte ich dort nicht wohnen, wo die Menschen so etwas
genießen können!“ sagte er.

Sollte ich noch eine andere Schwäche nennen, die den Baschkiren
und andere Bewohner der Steppe eben so sehr auszeichnet, wie
seine leidenschaftliche Vorliebe für einzelne Nährstoffe, so wäre es das
mangelhafte Verständniß für die Begriffe von Mein und Dein; allein
die Verwechslung derselben begegnet ihm nur dem Ungläubigen gegen-
über, dessen Eigenthum ihm für nichts weniger als heilig gilt, weß-
halb er auch kein Vergehen darin findet, dasselbe auf jede mögliche
Weise an sich zu bringen. Viel seltener dagegen zeigt sich diese Be-
griffsverwirrung seinen eigenen Glaubens= und Stammesgenossen gegen-
über. Jnsofern aber schon das Gesetz einen an den Christen ver-
übten Diebstahl entschuldigt, um so mehr mahnt dies den Richter
zur Milde, um so strafloser bleibt der harmlose Uebelthäter.

Es ist daher natürlich und erklärlich, daß sie bei solchen Be-
griffen über Recht und Unrecht sich frei und offen und auf die
drolligste Weise zu den verschiedenartigsten Diebstählen bekennen,
auf die naivste Manier sich gegenseitig und Andere damit unter-
halten und in die lebendigste Freude ausbrechen, wenn sie die
dabei entwickelte Schlauheit zum Besten geben. Es ist daher auch
selbstverständlich, daß es dem Baschkiren keine Unruhe und Skrupel
verursacht, ein Dieb gescholten zu werden, und weit davon entfernt,
darin eine Beleidigung zu finden oder zu einer Kriminal=Untersuchung
Veranlassung zu geben, nimmt er es vielmehr mit Ergötzen hin und
erblickt darin eine schmeichelhafte Anerkennung seiner Talente.

Jch selbst bin sehr oft Zeuge gewesen, daß sich sogar hochgestellte
Russen der Baschkiren bedienten, um sich in Besitz von Sachen und
Dingen zu setzen, die nicht anders als mit Hülfe jener zu erreichen
waren, von denen dann die gewünschten Gegenstände gekauft werden.
Jch erinnere mich hier noch an einen Handel, der zwischen einem
hochgestellten russischen General und einem Baschkiren stattfand, und
bei welchem Letzterer mit glühenden Worten und hinreißender Be-
geisterung alle die Schwierigkeiten schilderte, die er bestanden, und die
Klugheit, die er habe entwickeln müssen, um den listigen und wach-
samen Gegner zu täuschen, daher der geforderte Preis wohl als ge-
rechtfertigt und nicht zu hoch gegriffen erscheinen möchte. Der Käufer
resp. der General dennoch handelnd, tadelte die Beschaffenheit der Waare
und hielt es nicht für unmöglich, daß dieselben Sachen, die er jetzt
zu kaufen im Begriff stehe, auf seinem eigenen Revier gestohlen seien.

„Herr“, sagte der Baschkire entrüstet, „Du tadelst noch? Was ist
das für eine Sprache, die Du führst! Denkst Du etwa, daß mir da,
wo ich die Sachen nahm, noch eine große Wahl blieb? Man hat
uns wie die Wölfe abgehetzt, ehe wir der Sachen habhaft werden
und die schlaue Kanaille betrügen konnten. Wenn Du aber meinst,
daß ich dieselben auf Deinem Revier entnommen habe, so muß ich
Dir sagen: Wenn Du nur solche hättest! Du weißt aber wohl, daß
Du keine hast!“

Der General bewilligte hierauf den verlangten Preis.

Wie harmlos der schlichte Bewohner der Steppe über Handlun-
gen denkt und urtheilt, die hier zu den Verbrechen zählen würden,
und wie unendlich weit seine Ansichten über Ehre und Unehre von
den unsrigen sich entfernen, dafür möchte noch folgende Scene als
Beispiel dienen.

Salem aleikum!“ Mit diesem Gruß führten sich eines Tages
zwei Baschkiren bei mir ein, von denen der Eine blind war, um mich
zu ersuchen, ihnen eine Anstellung zu bewilligen. „Jch bin nicht
allein, Wasili Karlowitsch, wenn Du der bist; ein Kamerad ist bei
mir“, fügte er zu seiner Empfehlung hinzu.

Jch bedauerte, auf seine Wünsche nicht eingehen zu können, da er
blind sei, mit welcher Erklärung er sich jedoch nicht befriedigte.

„Herr, es ist nöthig, zu probiren! Jch sehe wohl etwas schlecht,
aber ich fühle desto besser. Außerdem will ich weniger arbeiten, ich
suche vielmehr eine etwas bessere Stelle.

Jch erklärte jedoch, daß ich nur Arbeiter brauche.

„Herr, Du bist dumm, sehr dumm und nicht werth, daß man
[Spaltenumbruch] Dir helfen will“, versicherte er sehr ruhig; „aber dennoch laß uns
ein ehrlich Wort mit einander reden, ich will Dir nützlich sein!“

Unter solchen Umständen konnte es allerdings nicht ausbleiben,
daß er mein Jnteresse für sich gewann, so daß ich ihn aufforderte,
sich näher zu erklären.

„Das ist ein Wort, das sich hören läßt!“ sagte er befriedigt,
gleichzeitig mittheilend, daß er von meinem Arbeitermangel unter-
richtet sei.

Jch mußte zugestehen, daß er nicht falsch berichtet worden sei.

„Nun ich weiß es; aber Du selbst trägst die Schuld und wirst
nie ein günstigeres Ergebniß erzielen, wenn Du nicht meine Hülfe
annimmst, die ich Dir anbiete“, betheuerte er.

Jn einem fremden Lande und unter einem fremden Volke ist auch
zuweilen der Rath des schlichtesten Menschen kostbar, so daß ich den
seltsamen Gast aufforderte, mich zu belehren.

„Hast Du denn nie darüber nachgedacht, wie dem Uebel ab-
zuhelfen wäre?“ fragte er, sichtbar geschmeichelt; während ich dies
zugestehen mußte, ohne das Mißverhältniß ändern zu können.

„Hm! Sieh da, Herr! So wirst Du es auch nie abändern, wenn
Du meinen Rath verschmähst. Du mußt vor allen Dingen einen
Obmantschik ( d. h. Betrüger ) engagiren, denn ohne Betrüger kannst
Du nicht fertig werden!“

„Du sprichst nicht übel“, erwiderte ich zustimmend; „aber wo
nehme ich einen solchen Menschen her, der dieses Amt würdig aus-
füllen würde?“

„Nun, siehst Du, da sind wir an dem Punkt! Dazu bin ich ge-
kommen. Gieb mir die Stelle, Du wirst mit mir zufrieden sein!“
versicherte er.

( Schluß folgt. )



Die Nähmaschinen=Jndustrie.
( Schluß. )

Um nun noch einmal zum Erfinder der Nähmaschine zurückzukehren,
so sei bemerkt, daß Howe auch in neuerer Zeit sein Werk vielfach streitig
gemacht ist; man hat es namentlich bei uns versucht, die Nähmaschine als
eine speziell deutsche Erfindung hinzustellen. Aehnliche Behauptungen
mögen in anderen Fällen, wo das Ausland vermöge unserer eigenen
Stumpfheit uns die Priorität von Erfindungen geschickt aus der Hand
manövrirte, ihre volle Berechtigung haben; bei der Nähmaschine geht man
damit sicher etwas zu weit. Richtig ist allerdings, daß seit Erfindung und
Vervollkommnung der englischen Spinn= und Webentaschinen die Näh-
maschinen=Jdee schon lange vor Howe in manchen Köpfen spukte, und
zwar zuerst in deutschen, denn schon 1750 hat man in Wien mit einem
der Nähmaschine etwas ähnlich scheinenden Jnstrument Versuche angestellt,
und 1807 beschäftigte sich damit ein Schneidermeister Madersperger aus
Tyrol; doch sind beide Versuche völlig mißglückt und vergessen worden.
Ebenso erging es mit einem 1804 in Frankreich gemachten Versuch, wo-
gegen ein 1830 von dem Schneider Thimonier in Frankreich mit einer Art
mechanisch bewegter Häkelnadeln gemachtes Experiment schon etwas näher
zum Ziel führte. Dies Jnstrument wurde aber von den aufsässigen Ar-
beitern total zerstört und Thimonier die Lust zu ferneren Versuchen be-
nommen. Endlich sind auch die Versuche der Amerikaner Walther Hunt,
J. J. Grenough und B. W. Bean, obgleich in den Jahren 1834, 1842
und 1843 patentirt, gänzlich verfehlt und niemals praktisch zur Anwendung
gekommen. Howe's Arbeiten fanden zwar wahrscheinlich in den Hunt'schen
Jdeen einigen Anhalt, sein Hauptleiter war jedoch die Webemaschine,
welche ihn auf die Anwedung des Webeschiffchens führte. Hiermit hatte
er den einzig richtigen Weg gefunden, auf dem er zur Konstruktion einer
brauchbaren Maschine gelangen konnte. Heut hat diese Einrichtung freilich
bei den meisten Maschinen der viel einfacheren Spule Platz gemacht; bei
den starken Maschinen für schwere Leder= und Tucharbeit, wie sie ins-
besondere Howe bis zu seinem Tode gebaut hat, wird sie aber auch jetzt
noch vielfach angewandt.

Will man sich von dem rapiden Aufschwung der Nähmaschinen=Jndustrie
ein klares Bild machen, so darf man, wie schon im Eingang bemerkt,
leider Deutschland noch lange nicht in den Vordergrund stellen, auch dann
nicht, wenn man erwägt, daß hier vor circa zwölf Jahren die Näh-
maschine eine solche Rarität war, daß sie selbst auf den Jahrmärkten
großer Städte in den Schaubuden für Geld gezeigt wurde, und daß
Deutschland trotzdem unter seinen, Ende vorigen Jahres bestehenden neun-
hundert Fabriken bereits hundertundfünfzig für Nähmaschinen zählte. Unter
diesen haben sich namentlich drei einen ehrenvollen Namen gemacht, nämlich
die des Fabrikanten Böck zu Berlin, des Mechanikers Hoffmann zu Leipzig,
welcher ein eigenes System dafür erfand, das meistens zur Arbeit im
Stehen eingerichtet ist, und die weitverbreitete Fabrik von Pollac und
Schmidt in Hamburg, durch welche gleichfalls mehrfache Verbesserungen
und Erleichterungen eingeführt wurden. Ueberhaupt hat die Nähmaschine
bis heut circa achthundert verschiedene Systeme aufzuweisen. Selbst das
produktive und gewerbfleißige England muß in dieser Beziehung weit
zurücktreten hinter die Riesenfortschritte Nord=Amerika's. Deutschland kann
sicherlich nicht, England wohl kaum mit der einzigen Stadt New=York
[Ende Spaltensatz]

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[141/0005] 141 heit den verlockenden Bissen zu sich nahm. Doch entsetzliche Ueber- raschung! Es war ein saurer, verrätherischer Bissen! Sein Gesicht zuckte plötzlich zusammen und schnitt die wunderlichsten Grimassen; kaum vermochte er noch, die in seinen Händen befindlichen Jn- strumente zu erhalten, um nicht mit den Fingern das höllische Kraut von sich zu werfen. Vergeblich würgte er, um dasselbe zu verschlucken, allein es schien unmöglich. Sein ganzer Körper schüttelte sich, und seine Augen schwammen in Wasser, bis es endlich einer letzten An- strengung gelang, mit etwas Kumis das fürchterliche Gras hinter zu spülen. „O welch ein entsetzliches Gras! Und das esset Jhr und die Leute in Eurem Lande?“ seufzte er. „Ja, und sie lieben es mehr, als den süßesten Honig!“ erwiderte ich. Er schüttelte sich nochmals. „Seltsames Volk! Es scheint gut zu sein, und ich könnte es lieben; aber dennoch möchte ich dort nicht wohnen, wo die Menschen so etwas genießen können!“ sagte er. Sollte ich noch eine andere Schwäche nennen, die den Baschkiren und andere Bewohner der Steppe eben so sehr auszeichnet, wie seine leidenschaftliche Vorliebe für einzelne Nährstoffe, so wäre es das mangelhafte Verständniß für die Begriffe von Mein und Dein; allein die Verwechslung derselben begegnet ihm nur dem Ungläubigen gegen- über, dessen Eigenthum ihm für nichts weniger als heilig gilt, weß- halb er auch kein Vergehen darin findet, dasselbe auf jede mögliche Weise an sich zu bringen. Viel seltener dagegen zeigt sich diese Be- griffsverwirrung seinen eigenen Glaubens= und Stammesgenossen gegen- über. Jnsofern aber schon das Gesetz einen an den Christen ver- übten Diebstahl entschuldigt, um so mehr mahnt dies den Richter zur Milde, um so strafloser bleibt der harmlose Uebelthäter. Es ist daher natürlich und erklärlich, daß sie bei solchen Be- griffen über Recht und Unrecht sich frei und offen und auf die drolligste Weise zu den verschiedenartigsten Diebstählen bekennen, auf die naivste Manier sich gegenseitig und Andere damit unter- halten und in die lebendigste Freude ausbrechen, wenn sie die dabei entwickelte Schlauheit zum Besten geben. Es ist daher auch selbstverständlich, daß es dem Baschkiren keine Unruhe und Skrupel verursacht, ein Dieb gescholten zu werden, und weit davon entfernt, darin eine Beleidigung zu finden oder zu einer Kriminal=Untersuchung Veranlassung zu geben, nimmt er es vielmehr mit Ergötzen hin und erblickt darin eine schmeichelhafte Anerkennung seiner Talente. Jch selbst bin sehr oft Zeuge gewesen, daß sich sogar hochgestellte Russen der Baschkiren bedienten, um sich in Besitz von Sachen und Dingen zu setzen, die nicht anders als mit Hülfe jener zu erreichen waren, von denen dann die gewünschten Gegenstände gekauft werden. Jch erinnere mich hier noch an einen Handel, der zwischen einem hochgestellten russischen General und einem Baschkiren stattfand, und bei welchem Letzterer mit glühenden Worten und hinreißender Be- geisterung alle die Schwierigkeiten schilderte, die er bestanden, und die Klugheit, die er habe entwickeln müssen, um den listigen und wach- samen Gegner zu täuschen, daher der geforderte Preis wohl als ge- rechtfertigt und nicht zu hoch gegriffen erscheinen möchte. Der Käufer resp. der General dennoch handelnd, tadelte die Beschaffenheit der Waare und hielt es nicht für unmöglich, daß dieselben Sachen, die er jetzt zu kaufen im Begriff stehe, auf seinem eigenen Revier gestohlen seien. „Herr“, sagte der Baschkire entrüstet, „Du tadelst noch? Was ist das für eine Sprache, die Du führst! Denkst Du etwa, daß mir da, wo ich die Sachen nahm, noch eine große Wahl blieb? Man hat uns wie die Wölfe abgehetzt, ehe wir der Sachen habhaft werden und die schlaue Kanaille betrügen konnten. Wenn Du aber meinst, daß ich dieselben auf Deinem Revier entnommen habe, so muß ich Dir sagen: Wenn Du nur solche hättest! Du weißt aber wohl, daß Du keine hast!“ Der General bewilligte hierauf den verlangten Preis. Wie harmlos der schlichte Bewohner der Steppe über Handlun- gen denkt und urtheilt, die hier zu den Verbrechen zählen würden, und wie unendlich weit seine Ansichten über Ehre und Unehre von den unsrigen sich entfernen, dafür möchte noch folgende Scene als Beispiel dienen. „ Salem aleikum!“ Mit diesem Gruß führten sich eines Tages zwei Baschkiren bei mir ein, von denen der Eine blind war, um mich zu ersuchen, ihnen eine Anstellung zu bewilligen. „Jch bin nicht allein, Wasili Karlowitsch, wenn Du der bist; ein Kamerad ist bei mir“, fügte er zu seiner Empfehlung hinzu. Jch bedauerte, auf seine Wünsche nicht eingehen zu können, da er blind sei, mit welcher Erklärung er sich jedoch nicht befriedigte. „Herr, es ist nöthig, zu probiren! Jch sehe wohl etwas schlecht, aber ich fühle desto besser. Außerdem will ich weniger arbeiten, ich suche vielmehr eine etwas bessere Stelle. Jch erklärte jedoch, daß ich nur Arbeiter brauche. „Herr, Du bist dumm, sehr dumm und nicht werth, daß man Dir helfen will“, versicherte er sehr ruhig; „aber dennoch laß uns ein ehrlich Wort mit einander reden, ich will Dir nützlich sein!“ Unter solchen Umständen konnte es allerdings nicht ausbleiben, daß er mein Jnteresse für sich gewann, so daß ich ihn aufforderte, sich näher zu erklären. „Das ist ein Wort, das sich hören läßt!“ sagte er befriedigt, gleichzeitig mittheilend, daß er von meinem Arbeitermangel unter- richtet sei. Jch mußte zugestehen, daß er nicht falsch berichtet worden sei. „Nun ich weiß es; aber Du selbst trägst die Schuld und wirst nie ein günstigeres Ergebniß erzielen, wenn Du nicht meine Hülfe annimmst, die ich Dir anbiete“, betheuerte er. Jn einem fremden Lande und unter einem fremden Volke ist auch zuweilen der Rath des schlichtesten Menschen kostbar, so daß ich den seltsamen Gast aufforderte, mich zu belehren. „Hast Du denn nie darüber nachgedacht, wie dem Uebel ab- zuhelfen wäre?“ fragte er, sichtbar geschmeichelt; während ich dies zugestehen mußte, ohne das Mißverhältniß ändern zu können. „Hm! Sieh da, Herr! So wirst Du es auch nie abändern, wenn Du meinen Rath verschmähst. Du mußt vor allen Dingen einen Obmantschik ( d. h. Betrüger ) engagiren, denn ohne Betrüger kannst Du nicht fertig werden!“ „Du sprichst nicht übel“, erwiderte ich zustimmend; „aber wo nehme ich einen solchen Menschen her, der dieses Amt würdig aus- füllen würde?“ „Nun, siehst Du, da sind wir an dem Punkt! Dazu bin ich ge- kommen. Gieb mir die Stelle, Du wirst mit mir zufrieden sein!“ versicherte er. ( Schluß folgt. ) Die Nähmaschinen=Jndustrie. ( Schluß. ) Um nun noch einmal zum Erfinder der Nähmaschine zurückzukehren, so sei bemerkt, daß Howe auch in neuerer Zeit sein Werk vielfach streitig gemacht ist; man hat es namentlich bei uns versucht, die Nähmaschine als eine speziell deutsche Erfindung hinzustellen. Aehnliche Behauptungen mögen in anderen Fällen, wo das Ausland vermöge unserer eigenen Stumpfheit uns die Priorität von Erfindungen geschickt aus der Hand manövrirte, ihre volle Berechtigung haben; bei der Nähmaschine geht man damit sicher etwas zu weit. Richtig ist allerdings, daß seit Erfindung und Vervollkommnung der englischen Spinn= und Webentaschinen die Näh- maschinen=Jdee schon lange vor Howe in manchen Köpfen spukte, und zwar zuerst in deutschen, denn schon 1750 hat man in Wien mit einem der Nähmaschine etwas ähnlich scheinenden Jnstrument Versuche angestellt, und 1807 beschäftigte sich damit ein Schneidermeister Madersperger aus Tyrol; doch sind beide Versuche völlig mißglückt und vergessen worden. Ebenso erging es mit einem 1804 in Frankreich gemachten Versuch, wo- gegen ein 1830 von dem Schneider Thimonier in Frankreich mit einer Art mechanisch bewegter Häkelnadeln gemachtes Experiment schon etwas näher zum Ziel führte. Dies Jnstrument wurde aber von den aufsässigen Ar- beitern total zerstört und Thimonier die Lust zu ferneren Versuchen be- nommen. Endlich sind auch die Versuche der Amerikaner Walther Hunt, J. J. Grenough und B. W. Bean, obgleich in den Jahren 1834, 1842 und 1843 patentirt, gänzlich verfehlt und niemals praktisch zur Anwendung gekommen. Howe's Arbeiten fanden zwar wahrscheinlich in den Hunt'schen Jdeen einigen Anhalt, sein Hauptleiter war jedoch die Webemaschine, welche ihn auf die Anwedung des Webeschiffchens führte. Hiermit hatte er den einzig richtigen Weg gefunden, auf dem er zur Konstruktion einer brauchbaren Maschine gelangen konnte. Heut hat diese Einrichtung freilich bei den meisten Maschinen der viel einfacheren Spule Platz gemacht; bei den starken Maschinen für schwere Leder= und Tucharbeit, wie sie ins- besondere Howe bis zu seinem Tode gebaut hat, wird sie aber auch jetzt noch vielfach angewandt. Will man sich von dem rapiden Aufschwung der Nähmaschinen=Jndustrie ein klares Bild machen, so darf man, wie schon im Eingang bemerkt, leider Deutschland noch lange nicht in den Vordergrund stellen, auch dann nicht, wenn man erwägt, daß hier vor circa zwölf Jahren die Näh- maschine eine solche Rarität war, daß sie selbst auf den Jahrmärkten großer Städte in den Schaubuden für Geld gezeigt wurde, und daß Deutschland trotzdem unter seinen, Ende vorigen Jahres bestehenden neun- hundert Fabriken bereits hundertundfünfzig für Nähmaschinen zählte. Unter diesen haben sich namentlich drei einen ehrenvollen Namen gemacht, nämlich die des Fabrikanten Böck zu Berlin, des Mechanikers Hoffmann zu Leipzig, welcher ein eigenes System dafür erfand, das meistens zur Arbeit im Stehen eingerichtet ist, und die weitverbreitete Fabrik von Pollac und Schmidt in Hamburg, durch welche gleichfalls mehrfache Verbesserungen und Erleichterungen eingeführt wurden. Ueberhaupt hat die Nähmaschine bis heut circa achthundert verschiedene Systeme aufzuweisen. Selbst das produktive und gewerbfleißige England muß in dieser Beziehung weit zurücktreten hinter die Riesenfortschritte Nord=Amerika's. Deutschland kann sicherlich nicht, England wohl kaum mit der einzigen Stadt New=York

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Deutsches Textarchiv: Metadatenerfassung
Institut für Deutsche Sprache, Mannheim: Bereitstellung der Bilddigitalisate und Volltext-Transkription
Susanne Haaf, Rahel Hartz, Nicole Postelt: Nachkorrektur und Vervollständigung der TEI/DTABf-Annotation
Rahel Hartz: Artikelstrukturierung

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Zitationshilfe: Sonntags-Blatt. Nr. 18. Berlin, 3. Mai 1868, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/nn_sonntagsblatt18_1868/5>, abgerufen am 04.06.2024.